Thesen zum Job-Export

Produktionsbasis in Deutschland bleibt, aber eine Verlagerungswelle für Angestelltenjobs ist zu erwarten. Nationalstaaten nur noch Boxenstopp für die Konzerne?

Die Verlagerung von Fertigungen ist kein neues Phänomen. Vor allem die Nähe zu Absatzmärkten, oft durch Zollschranken geschützt, und zu günstigen Rohstoffquellen (z.B. Stahlindustrie) hat Verlagerungen vorangetrieben. Dagegen waren Unterschiede in den Arbeitskosten bis zum Zusammenbruch der realsozialistischen Systeme in Osteuropa und Asien kein zentrales Verlagerungsmotiv.

Durch den Fall der Berliner und der chinesischen Mauer hat das Kapital weltweit plötzlich ungefähr doppelt so viele Arbeitskräfte zur Ausbeutung zur Verfügung wie in den Jahrzehnten vorher. Damit können die Unternehmen erstmals die gravierenden Lohnkostenunterschiede ausnutzen. Der italienische Industrielle Carlo de Benedetti (Olivetti, TIM) brachte die neue vorteilhafte Lage für die Kapitalisten schon 1990 auf den Punkt, als er erklärte, jetzt müsse man keine Rücksichtenmehrnehmen. Die Zeit des "Gentleman-Kapitalismus" (Thomas Friedman) ist vorbei.

Parallel dazu ermöglichen die IT-Innovationen und die zunehmende Standardisierung aller Geschäfts-prozesse, dass die Unternehmen ihre gesamte Wertschöpfungskette analysieren, zerlegen und neu konfigurieren. Was ist Kerngeschäft, was können Partner machen, was kann günstiger eingekauft werden? Das Outsourcing-Geschäft (von einzelnen Fertigungen über Fertigungsdienstleistungen bis zur Buchhaltung oder zur Entwicklung) boomt. Oft geht Outsourcing, die Übergabe von unternehmensinternen Aufgaben an Partner, mit der räumlichen Verlagerung einher. Die Optimierung der weltweiten Unternehmensnetze und die Verlagerungen - auch von Angestelltentätigkeiten - sind jetzt Tagesgeschäft der Konzernlenker.

Schließlich haben u.a. Innovationen in der Logistik (Container, UPS, IT-Verfolgung von Sendungen) für einen relativen Fall der Transportpreise und der Infra-strukturkosten gesorgt - bei gleichzeitiger Vergesellschaftung der sozialen Kosten. Das sorgte für einen weiteren Schub beim Aufbau von weltweiten Unternehmensnetzen aus Fertigungen und Entwicklung.

Durch diese Entwicklungen ist eine neue Qualität der kapitalistischen Globalisierung entstanden. Unternehmen nehmen dort Kapital auf, wo es das meiste gibt, suchen Ressourcen in den kostengünstigsten Standorten und produzieren, wo es am besten passt. In den einzelnen Volkswirtschaften ist die frühere Verknüpfung zwischen dem Unternehmenserfolgund dem Wohlergehen der Beschäftigten und zwischen der Entwicklung der Beschäftigtenzahlen und den Geschäftszyklen zerrissen.

Die international operierenden Konzerne sind die Treiber und Hauptprofiteure der Verlagerungen und des Aufbaus weltweiter Unternehmensnetze. Sie zwingen ihre (mittelständischen) Zulieferer und Partner ebenfalls zur Internationalisierung. Diese Konzerne lösen sich immer mehr von ihrer Heimatbasis und von den Gemeinden und von den gesellschaftlichen Bezügen, durch die sie groß geworden sind. Die Nationalstaaten spielen für die Konzerne nur noch die Rolle des Boxenstopps beim Autorennen (so der FIAT-Chef und Präsident der italienischen Arbeitgeber Luca di Montezemolo).

Die unverbindliche, durch keine unabhängige oder gar demokratisch legitimierte Institution kontrollierte, Selbstverpflichtung zu "Corporate Social Responsibility" (CSR, soziale Verantwortung des Unternehmens) ist nicht nur eine PR-Antwort auf die Globalisierungskritik. Sie markiert gleichzeitig eine Entwicklung zum "Ende der Demokratie" (Benjamin R. Barber) und zielt darauf, die Selbstorganisation der Beschäftigten in Gewerkschaften zu unterbinden.

In den USA haben die Verlagerungen, verbunden mit der Importkonkurrenz (aus China, aber auch aus Deutschland), zu einem massiven Rückgang der relativ gut bezahlten Industriebeschäftigung und in einzelnen Regionen zu einer weitgehenden Deindustrialisierung geführt. Dieser Prozess setzt sich weiter fort (GM, Delphi, Ford, Visteon ..). Das US-Management-Lehrbuch-Modell des kapitalarmen Wachstums (Asset-Light-Kapitalismus) mit geringer Fertigungstiefe, das Firmen wie Dell belohnt, die nichts entwickeln, kaum Werte schaffen und die Kosten bis auf die Knochen streichen, gefährdet die Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaft.

Die deutsche Industrie hat speziell die 90er Jahre für den Aufbau von weltweiten Fertigungsverbünden genutzt. Diese Phase von Verlagerungen mit dem Aufbau von Niedriglohnstandorten (in Mittel- und Osteuropa) und zur Marktöffnung (u.a. China) war 2003 zu einem Stillstand gekommen, doch haben die Direktinvestitionen aus Deutschland in die MOE-Staaten seit 2004 (u.a. im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung) wieder angezogen.

Im internationalen Vergleich sind die negativen Auswirkungen der Verlagerungen auf die Produktionsbeschäftigung in Deutschland bislang geringer als in anderen Industrieländern. Das liegt einerseits an der Spezialisierung der deutschen Industrie, die sie weniger der Billiglohn-Konkurrenz aussetzt, als z.B. das produzierende Gewerbe in den USA oder in Italien. Gleichzeitig hat die deutsche Industrie ihre Export-offensive durch sinkende Lohnstückkosten gewonnen. Vor allem durch Arbeitszeitverlängerung wollen deutsche Konzerne und internationale Investoren die Attraktivität der deutschen Produktionsbasis weiter stärken.

Durch IT-Innovationen, Internet und die Standar-disierung der Geschäftsprozesse können erstmals auch Angestelltenaufgaben aus den Unternehmen ausgegliedert und weltweit verlagert werden - mit erheblichen Kostenvorteilen. Für diese Verlagerungen sind jetzt die Voraussetzungen gegeben. Die IT-Innovationen ermöglichen die Digitalisierung der Geschäftsdienstleistungen und die billigste weltweite Vernetzungen der Geschäftsaktivitäten.

Als der Kapitalismus digital wurde, waren die ers-ten Betroffenen die Produktionsarbeiter. Jetzt ist mit der Verlagerung von Ingenieurstätigkeiten die Mittelklasse im Feuer. Das ist eine reale Krise für einen großen Teil der Gesellschaft.

Die große Verlagerungswelle für Angestelltentätigkeiten (IT, Backoffice, Entwicklung) steht in Europa und auch in Deutschland erst noch bevor. Die jetzt laufenden Restrukturierungen in der deutschen Finanzbranche, aber auch in den Zentralen von Indus-triekonzernen, sind ein Indiz dafür. Dabei geht es konkret meist um Verlagerungsprojekte in begrenzten Dimensionen (einzelne Abteilungen, Gruppen), was die Organisation des Widerstands dagegen erschwert.

Die Produktivitätsgewinne und Profite aus den Verlagerungen und aus dem Ausbau weltweiter Wertschöpfungsketten sind unter kapitalistischen Pro-duktionsverhältnissen zwangsläufig höchst ungleich verteilt. Das gilt nicht nur für die einzelnen Gewinner und Verlierer in diesem Prozess, nicht nur für Regionen und Volkswirtschaften, die de-industrialisiert werden. Das gilt auch für die "Globalisierungsgewinner" wie Indien oder China und die Boomzonen um Shanghai oder Bangalore. Die Gesellschaften dieser Schwellenländer bezahlen für das Wachstum mit enormen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kosten.

Der Aufbau internationaler Lieferketten mit Niedriglohnstandorten für Entwicklung und Produktion und Verwaltungsaufgaben ist letztlich weder mit gewerkschaftlichen Mitteln noch mit den Mitteln der deutschen Betriebsverfassung zu verhindern. Aber die Verlagerungen zum Konflikt zu machen, stärkt die Position der Belegschaften und schafft Raum für politische Aktivitäten.

Die zahlreichen Fehlanreize im deutschen Steuerrecht, die die Produktionsverlagerungen und die Auslandsinvestitionen generell belohnen, müssen gestrichen werden. Die IG Metall-Forderung nach einer Verlagerungsabgabe sollte ergänzt werden um die Forderung, Unternehmen ab einer bestimmten Größenordnung bei einer negativen Arbeitsplatzbilanz im Inland mit einer Abgabe zu belegen.

Um den EU-internen Steuerwettlauf nach unten zu unterbinden, steht die Harmonisierung des EU-Steuerrechts bei den Unternehmenssteuern auf der Tagesordnung.

Die EU-Fördermittel, die gegenwärtig den Arbeitsplatztourismus subventionieren, müssen an strenge Auflagen gebunden werden. Um das schamlose Abgreifen von Fördermitteln zu unterbinden, müssen alle Förderanträge öffentlich zugänglich gemacht werden. Die dahinter stehenden Konzernplanungen müssen überprüft werden. Schließlich muss die Vergabe von Fördermitteln an harte Sicherheiten und Auflagen gebunden werden. Dazu gehören EU-weite verbindliche Sozialstandards.

Weil die global operierenden Unternehmen sich entlang weltweiter Wertschöpfungs- und Lieferketten vernetzen und die Zulieferer einbinden, muss die gewerkschaftliche Organisierung zur Entwicklung von Gegenmacht künftig ebenfalls entlang der Konzerne und ihrer Auftragsfertiger erfolgen.

Weil das materielle Wohlergehen ganzer Gesellschaften immer mehr an den Unternehmensplanern und den Dispositionen der Einkäufer einzelner Konzerne hängt als an den politischen Entscheidungen, ist die Reregulierung der Konzerne und die Offenlegung ihrer Lieferketten auch eine politische Aufgabe und eine Frage der Demokratie.

entnommen aus isw-report 68 "Job-Export - die neue globale Arbeitsteilung", der am 14. Dezember 2006 erscheint.
Der Autor Wolfgang Müller war langjähriger Leiter des Siemens-Teams der IG Metall.