Die Welt von den Zentren her gedacht

Die Abwesenheit der Peripherie im Beitrag Ulrich Menzels

In seinem Beitrag "Die Welt von den Rändern her denken" unternimmt Ulrich Menzel, ausgehend von einer antidependeztheoretischen Spitze im Editorial der ersten Ausgabe, einen "Rückblick und Ausblick auf 100 Peripherien", und kommt auf diesem Weg zu Schlussfolgerungen darüber, welche Zukunft er der Zeitschrift wünscht.

"Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein" (Walter Benjamin, 1940, zit. nach: Benjamin 1992: 145)

 

In seinem Beitrag "Die Welt von den Rändern her denken" unternimmt Ulrich Menzel, ausgehend von einer antidependeztheoretischen Spitze im Editorial der ersten Ausgabe, einen "Rückblick und Ausblick auf 100 Peripherien", und kommt auf diesem Weg zu Schlussfolgerungen darüber, welche Zukunft er der Zeitschrift wünscht. Im Rückblick wirft er der Redaktion Inkonsequenz vor, weil sie ihrem Zweifel an der Erklärungskraft der damaligen Dependenztheorie nicht gefolgt sei, sondern sich stattdessen "mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner beruhigte, dass die komplexe Widersprüchlichkeit der Peripherie dort sich schon durch die richtige Theorie werde auflösen lassen". Nach seiner Auffassung ist nämlich "das ursprüngliche Axiom der Redaktion, dass sich die Lage der peripheren Länder 'aus der historischen Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems bestimmt'", nicht mehr zu halten, insbesondere, sofern daraus der historische Schluss gezogen wurde, "das Ausscheren aus dem kapitalistischen Weltmarkt und der Aufbau eines nationalistisch bzw. asiatisch oder afrikanisch gewendeten Sozialismus" werde den peripheren Zustand beheben können. Vielmehr seien die strukturellen Probleme der Peripherie gerade durch die Integration in den Weltmarkt und die Durchsetzung des Kapitalismus zu lösen. Zur Illustration dieser These führt er nicht nur die sattsam bekannten Beispiele Taiwan und Südkorea, sondern auch China und Vietnam an.

Zweifellos weist Menzel hier auf einen Schwachpunkt der klassischen Dependenztheorie hin. Gerade darauf bezog sich auch der Zweifel der ersten Peripherie-Redaktion:

"Es kann keine mechanische Herleitung geben, in der durch die Zentren die Vorwärtsentwicklung in der Peripherie bestimmt wird... Die kapitalistisch unterentwickelten Länder wären dann in ihrer Weiterentwicklung nur noch Hampelmänner ohne eigene Möglichkeiten des Wandels" (Peripherie, Nr. 1: 6).

Er war gespeist eben aus dem Erschrecken über die Tyrannei der Roten Khmer in Kambodscha, den Entwicklungen im nachrevolutionären Iran und den Wandlungen von Befreiungsbewegungen zu Zwingherren in den Staaten, in denen sie die Macht eroberten. Trotzdem besaß die Dependenztheorie in der Augen der Redaktion genügend Erklärungskraft, um sie nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen.

Zwar sind Texte grundsätzlich für mehrere Lektüren offen, aber was Menzel hier vorlegt, zeigt ein Missverstehen, das sich erst gar nicht bemüht, sein apologetisches Interesse zu verbergen. Bezeichnenderweise verliert er kein Wort über die Toten vom Platz des Himmlischen Friedens 1989 in Peking, über die Militärdiktaturen in Südkorea und Taiwan, die am Beginn der Erfolgsgeschichte dieser Länder stehen bzw. sie begleiten. Was unter Pol Pot und Kim Il-Sung "nur in der Katastrophe" führte, taucht für China und Vietnam lediglich als Marginalie auf: als Desiderate bezüglich Menschenrechten, Demokratie und Sozialstaatlichkeit.

Wenn Menzel anschließend, auf diese Erfolgsgeschichten verweisend, Friedrich List, David Ricardo und Walt W. Rostow im Recht sieht, speist er uns erneut mit der halben Wahrheit ab. Denn sein Verweis auf Ricardo stützt seine These gerade nicht. Die Erfolgsgeschichten Chinas, Taiwans und Südkoreas beruhen eben nicht darauf, dass die Länder ihre komparativen Kostenvorteile im Sinne Ricardos zur Strategie ausgebaut hätten. Eher schon sind sie List gefolgt (vgl. Altvater & Mahnkopf 1997: 201-217).

Menzel kommt zu dem Schluss, nur eine "vertiefte Integration in den Weltmarkt... bei gleichzeitiger protektionistischer Absicherung" habe durch eine "Aufwärtsmobilität" zur Auflösung der klassischen Peripherie geführt. Dass gleichwohl der "größere und immer noch wachsende Teil der klassischen Peripherie" immer tiefer in Not und Elend versinkt, sieht er in der dort vorherrschenden "Rentenlogik" begründet. Dagegen verlange der Kapitalismus "stabile Institutionen - Rechtssicherheit, Schutz des Eigentums und funktionierende Märkte".

Menzel präsentiert uns hier das Bild eines eigentlichen Kapitalismus, der im Gegensatz zur "Rentenlogik" in gesellschaftliche Institutionen und Regeln eingebettet ist und alles zum besten aller wendet. Die Chimäre vom Gegensatz zwischen einem wohltätigen, produktiven und einem nur auf Zinserträge ausgehenden Kapital vernebelt den Blick. Faktisch ist gesellschaftliche Produktion immer in bestimmte, daher bestimmbare Verhältnisse eingebettet. Ware, Geld und Kapital sind selbst gesellschaftliche Verhältnisse, die den MarktteilnehmerInnen freilich als bloße Dinge, eben als "gesellschaftliche Dinge" (Marx) entgegentreten und ihrerseits neue Regeln und Normen erzwingen (vgl. dazu: Korbmacher 2003: 35-48).

Vor diesem Hintergrund stellt sich nicht die Frage, ob, sondern in welche Verhältnisse die kapitalistische Produktionsweise eingebettet ist:

Stabile Institutionen: Gerhard Hauck hat (2004) gezeigt, dass stabile Institutionen nicht unbedingt stabile staatliche Institutionen sein müssen und dass von daher die Rede von schwachen bzw. zerfallenden Staaten problematisch ist. Vor diesem Hintergrund hat er erläutert, wie auch in Staaten, deren Regulationsmacht gering ist, Kapitalakkumulation funktioniert. Außerdem fragt sich, auf welchen Zeitskalen die Institutionen stabil sind. Denn eine "Theorie in emanzipativer Absicht" fasst "jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite" (MEW 23: 28) auf.

Rechtssicherheit - für wen und unter welchem Recht? Es gibt auch Rechtssicherheit unter der Gültigkeit eines Nationalen Sicherheitsgesetzes in Südkorea. Von dieser Art Rechtssicherheit berichtet Du-Yul Song in diesem Heft.(1) Auch die Erwerbslosen in der Bundesrepublik des Jahres 2005 genießen die Rechtssicherheit, zu wissen, dass sie erst ihre Ersparnisse verzehren müssen, bevor sie Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben. Was Menzel offenbar vor Augen hat, ist die Rechtssicherheit, Kapital zu akkumulieren, was gleichbedeutend mit der Rechtssicherheit ist, fremde Arbeitskraft auszubeuten.

Schutz des Eigentum - wessen und welches Eigentum? Schützen etwa die Hartz-IV-Gesetze das Eigentum der Erwerbslosen? Schon Karl Marx war es ein Ärgernis, wenn die Apologeten der kapitalistischen Produktionsweise seiner Zeit derart undifferenziert von Eigentum sprachen:

"Daß... von keiner Produktion, also auch von keiner Gesellschaft die Rede sein kann, wo keine Form des Eigentums existiert, ist eine Tautologie. Eine Aneignung, die sich nichts zu eigen macht, ist eine contradictio in subjecto" (MEW 13: 619).

Auch die permanente Wiederholung adelt die Tautologie nicht zur Erkenntnis. Eigentum ist nicht einfach ein Verhältnis zwischen dem/der Eigentümer/in und seiner/ihrer Sache. Es ist auch und zuerst ein Verhältnis von Personen, das über ihr Verhältnis zu Sachen vermittelt wird. Von daher gibt es Eigentum immer nur innerhalb gesellschaftlicher Formen. Diese Formen verlangen nach einer Instanz, die sie durchsetzt. Für gewöhnlich ist der Staat diese Instanz, aber zuweilen übernehmen auch parastaatliche Akteure diese Aufgabe (vgl. z.B. Hauck 2004). Das Eigentum, das zu schützen die vornehmste Pflicht des bürgerlichen Staates ist, ist vor allem das kapitalistische Privateigentum. Es entsteht, indem viele andere enteignet werden - gewaltsam, durch von IWF und Weltbank erzwungene Strukturanpassungsprogramme, durch geltendes Recht oder durch den ganz normalen Gang der kapitalistischen Produktion.

Funktionierende Märkte: Der kapitalistische Markt funktioniert gerade dadurch, dass er bisweilen zusammenbricht (MEW 23-25: passim). Es ist auch gerade das Funktionieren des kapitalistischen Weltmarktes, das eben den "größere(n) und immer noch wachsende(n) Teil der klassischen Peripherie" ins "Reich der Schattenwirtschaft" versinken lässt: Wo nur zahlungskräftige Kundschaft interessiert, fallen eben jene aus dem Markt, die nicht über die entsprechenden Zahlungsmittel verfügen. Sie sind dann allenfalls noch Objekte fürsorglicher Belagerung. Die Produktion einer "relativen Überbevölkerung" ist nichts der kapitalistischen Produktionsweise Äußerliches, sondern gehört zu ihrem Funktionieren dazu. Zudem verschweigt Menzel, dass der Club der G7-Staaten selbst darüber entscheidet, wer am Weltmarkt teilnehmen darf: Kuba ist seit 1959 von der Teilnahme ausgeschlossen, und auch dem nachrevolutionären Iran wird die volle Integration verwehrt.(2) Schließlich scheinen die G7 im Zeichen der "Nachhaltigkeit" gar kein Interesse mehr daran zu haben, dass weitere Staaten den Weg des "Erfolgs" beschreiten (wobei es ihnen allerdings weniger um "Nachhaltigkeit" als um den Ölpreis geht). Das ist nun in der Tat nicht wünschenswert, soll die Erde nicht verwüstet werden. Was not tut, ist mehr Gerechtigkeit bei weniger "Erfolg". Dazu freilich wäre statt der Durchsetzung des "eigentlichen Kapitalismus" die Demokratisierung der Produktionsverhältnisse not-wendig.

Angesichts des Schwindens der klassischen Peripherie macht Menzel eine neue Dreiteilung der Welt aus: die "postmoderne" Erste Welt der EU, die "moderne" Zweite Welt der klassischen Nationalstaaten und schließlich die "prämoderne" Dritte Welt "des neuen Mittelalters, der schwachen, zerfallenden und bereits zerfallenen (Staaten, MK) in Afrika südlich der Sahara, in Zentralasien oder im Andenbereich Lateinamerikas": Der Eurozentrismus feiert fröhliche Urständ. In einem haarsträubenden Evolutionismus verortet Menzel gesellschaftliche Verhältnisse der globalisierten Gegenwart auf einer Linie von der Prämoderne über die Moderne zur Postmoderne. Die europäische Moderne gibt dabei das Vorbild einer gelingenden Entwicklung ab. In diesem Licht, so wünscht sich Menzel, soll die Peripherie in Zukunft nach denen fragen, die die Kosten dieser Entwicklung zu tragen hatten und haben. Was das Ergebnis dieses Fragens sein kann, wissen wir auch schon: Nachdem klar ist, warum in der neuen Peripherie die Durchsetzung von "Rechtssicherheit, Eigentum und funktionierenden Märkten" gescheitert ist, kann es nur noch darum gehen, Strategien zu entwickeln, wie es doch noch gelingen könnte. Eine autonome Entwicklung billigt Menzel dieser Peripherie nicht zu.

 

Ganz im Gegensatz zum Anspruch, den er im Titel seines Beitrags erhebt, bekommt Menzel die Peripherie nicht einmal dort wirklich in den Blick, wo er von ihr spricht, weil er ihr keine eigenständige Realität zugesteht. Wer seinen Blick derart fest auf die kulturellen Errungenschaften der Zentren gerichtet hat, der wird die Peripherie nur als Zerrbild des Zentrums wahrnehmen und mit dem Fremden zugleich das Eigene missverstehen (vgl. Hauck 2003).

Anmerkungen

(1) Vgl. auch: Peripherie, Nr. 93/94: 166f, Song 2004: 167-172.

(2) Man muss kein Freund der Islamischen Republik sein, um das festzustellen.

Literatur

Altvater, Elmar; Mahnkopf, Birgit (1997): Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. 3. Aufl. Münster.

Benjamin, Walter (1992): Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Ausgewählt von Rolf Tiedemann. Stuttgart.

Hauck, Gerhard (2003): Die Gesellschaftstheorie und ihr Anderes. Wider den Eurozentrismus der Sozialwissenschaften. Münster.

Hauck, Gerhard (2004): "Schwache Staaten? Überlegungen zu einer fragwürdigen entwicklungspolitischen Kategorie". In: Peripherie, Nr. 96 (24. Jg.). Münster, S. 411-427

Peripherie (1980), Nr. 1 (1. Jg.). Münster.

Peripherie (2004), Nr. 93/94 (24. Jg.).

Münster Korbmacher, Michael (2003): "Trugbilder der Unendlichkeit". In: Institut für Theologie und Politik (Hg.): In Bewegung denken. Politisch-Theologische Anstöße für eine Globalisierung von unten. (Edition ITP-Kompass 1). Norderstedt, S. 33-60.

Marx, Karl (MEW 13): "Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie". In: MEW, Bd. 13. Berlin (DDR) 1985, S. 615-642.

Marx, Karl (MEW 23-25): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3 Bde. (= MEW 23-25). Berlin (DDR) 1979/1981/1983.

Song, Du-Yul (2004): "Schlusswort". In: Peripherie, Nr. 93/94, S. 167-172. "Zum Prozess gegen Du-Yul Song in Seoul". In: Peripherie, Nr. 93/94, S. 166f.

 

Anschrift des Autors:
Michael Korbmacher
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Aus PERIPHERIE 100 "100 PERIPHERIEN - Die Welt von den Rändern her denken", Münster 2005, S. 444-448

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