Grundverunsicherung

Die Republik scheint gespalten: Glaubt man den Umfragen, wünscht sich jeder vierte Westdeutsche die Mauer zurück, während drei Viertel der Ostdeutschen den Sozialismus im Grunde für eine gute Idee halten, "die nur schlecht ausgeführt wurde".

Spätestens als der "Spiegel" im Frühjahr titelte "1250 Milliarden Euro. Wofür? Wie aus dem Aufbau Ost der Abbau West wurde", war die Ost-West- Debatte neu entbrannt.1 Für den jüngsten Höhepunkt der Auseinandersetzung sorgte Bundespräsident Köhler, indem er das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West kurzerhand für unrealistisch erklärte. Aufgrund der prompten Proteste ostdeutscher Politiker wie der jüngsten Erfolge der Rechtsradikalen bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg steht der Osten wieder einmal vor allem für zweierlei: Rechtsradikalismus und Gejammer.

Vieles fällt bei dieser neuen Ost- West-Kontroverse unter den Tisch. So wenig man die konsumtiven Milliarden- Rückflüsse von Ost nach West benennt - faktisch war der DDR-Anschluss auch ein riesiges staatliches Konjunkturprogramm West -, so wenig findet Erwähnung, dass auch in Westdeutschland über 50 Prozent der Bürger Sympathien für den Sozialismus aufbringen. 2

Nicht zuletzt der Erfolg der NPD im Saarland - mit 4 Prozent aus dem Stand - erinnert daran, dass auch in der früheren Bundesrepublik die Zustimmung zur Demokratie von wirtschaftlicher Prosperität abhing. Setzte der Aufschwung aus, hatte die Republik gar mit Krisen zu kämpfen, schlug sich dies in Erfolgen der Rechtsextremen nieder. So zog im Zuge der ersten größeren Wirtschaftskrise der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die NPD mit 61 Abgeordneten in immerhin sieben Landtage. Maßgeblich für das spätere Scheitern der Partei war dann auch der ab 1968 wieder einsetzende wirtschaftliche Aufschwung.

Einen kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwung hat es dagegen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR seit 1989 nicht gegeben, diese alt-bundesrepublikanische Erfahrung konnte die Bevölkerung in den neuen Bundesländern bis heute nicht machen. Insofern braucht es nicht verwundern, dass die Enttäuschung hier am ehesten greift. Zudem ist der Osten überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen: 19 Prozent der Ostdeutschen sind arbeitslos gemeldet, auf einen freien Arbeitsplatz kommen 32 Arbeitsuchende. Von den insgesamt zwei Millionen Arbeitslosenhilfeempfängern lebt fast die Hälfte in Ostdeutschland, bei einem Bevölkerungsanteil von rund 20 Prozent. Bundesweit rechnet die Bundesregierung im Zuge der Hartz-Reformen mit bis zu 500000 Arbeitslosenhilfeempfängern, die ab Januar keine Leistungen mehr beziehen werden - aufgrund schärferer Anrechnung von Einkommen der "Bedarfsgemeinschaft" und enger angelegter Vermögensfreibeträge verlieren diese ihre Leistungsansprüche. Insgesamt 1,5 Millionen Betroffene werden weniger Geld zur Verfügung haben - prozentual wird auch hier der Osten erheblich stärker betroffen sein als der Westen.3

Vieles spricht somit dafür, dass der Osten lediglich als Vorreiter einer Entwicklung fungiert, die der Westen erst noch vor sich hat. Anstatt dem Versuch auf dem Leim zu gehen, Ost und West gegeneinander auszuspielen, indem die Ostdeutschen als undankbar und undemokratisch abgestempelt werden, gilt es zu den wahren Ursachen für die grassierende Unsicherheit in Ost und West vorzustoßen. Dies erfordert, den Stein des Anstoßes, die Hartz IV-Reformen, näher zu untersuchen.

Keine Arbeit, kein Geld

Die neue "Grundsicherung für Arbeitsuchende" führt erwerbsfähige Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger mit dem Ziel zusammen, eine effektivere und schnellere Vermittlung in Arbeit herbeizuführen. Auch derzeitigen Sozialhilfeempfängern stehen damit künftig erstmals Fördermaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit offen. Prinzipiell positiv ist zudem die Sozialversicherung der ALG II-Empfänger zu bewerten - einmal abgesehen davon, dass die Rentenansprüche marginal sind und von der mageren Grundsicherung nun auch nichtverschreibungspflichtige Medikamente bezahlt werden müssen.

Das zentrale Problem von Hartz IV liegt jedoch auf einer tieferen Ebene: nämlich dem zunehmenden Ausschluss von gesellschaftlicher Partizipation. Immer mehr Bürger müssen gerade im Osten erkennen, dass ihre Arbeitskraft zukünftig allenfalls zum Ein-Euro-Job taugt. Deutlicher könnte der Ausweis gesellschaftlicher Funktions- und Bedeutungslosigkeit kaum sein.

Anstatt jedoch - wie noch im Wahlprogramm der Grünen 2002 explizit festgeschrieben - eine Grundsicherung einzuführen, "die ein Abrutschen der Menschen in Armut und Ausgrenzung verhindert", werden mit Hartz IV die Bezüge für Millionen Menschen (fast) auf Sozialhilfeniveau gekürzt oder gar ganz gestrichen: 345 Euro zuzüglich Miete und Heizkosten erhält eine westdeutsche alleinstehende Arbeitslose ab 2004, nachdem sie ein Jahr lang Arbeitslosengeld bekommen hat - allerdings nur, sofern sie über kein nennenswertes Vermögen oder einen verdienenden (Ehe-)Partner verfügt. Bereits ein Partnereinkommen von 700 Euro führt zum Verlust des ALG II-Anspruchs, allenfalls wird noch ein Mietzuschuss gezahlt. Für Ostdeutsche liegt der Regelsatz bei lediglich 331 Euro.

Begründet werden die Leistungskürzungen für ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger damit, dass eine "Lebensstandardsicherung" für Langszeitarbeitslose nicht länger finanzierbar sei. (Nur am Rande sei bemerkt, dass davon bereits bei einer durchschnittlichen Arbeitslosenhilfe von 600 Euro keine Rede mehr sein konnte.) Aus demselben Grunde werden zusätzliche "Anreize" zur Aufnahme von bezahlter Arbeit geschaffen, sprich: die Sanktionsmöglichkeiten bei Nichtannahme eines Jobs oder einer Arbeitsgelegenheit verschärft.

Noch als Roland Koch vor einigen Jahren von der vortrefflichen Arbeitsmarktpolitik im US-Bundesstaat Wisconsin schwärmte, äußerten Sozialdemokraten und Grüne mehrheitlich Kritik an einer Sozialpolitik, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie finanziellen Druck und Arbeitszwang auf Arbeitslose ausübt.4 Doch inzwischen ist das Modell der "Aktivierung" auch hier mehrheitsfähig. Ab Januar nächstens Jahres wird deshalb jede Arbeit "zumutbar" sein.

Mit 600000 zusätzlich geschaffenen kommunalen Ein-Euro-Jobs sollen Langzeitarbeitslose an den Arbeitsmarkt "herangeführt" werden. Angesichts der Finanznöte der Kommunen spricht allerdings vieles dafür, dass das Gegenteil der Fall sein wird: Langfristig dürften reguläre Jobs durch Ein-Euro- Jobs verdrängt werden, der Leipziger "Betrieb für Beschäftigungsförderung" hat dies bereits Ende der 90er Jahre vorgemacht. Nachdem aufgrund von Protesten der Privatwirtschaft nun auch dieser zugestanden wurde, zusätzliche Ein-Euro-Jobs zu schaffen, steht zu befürchten, dass eine Niedriglohnspirale ihren Anfang nimmt, die es Menschen zunehmend erschwert, mit einem Vollzeitjob einen menschenwürdigen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Frauen an den Herd

Am stärksten betroffen von diesen Maßnahmen sind vor allem jene Bereiche, in denen primär Frauen - oft in Teilzeitstellen - arbeiten. Hier droht der weitgehende Ausschluss von gesellschaftlicher Absicherung.

Was Hartz IV für verheiratete Frauen bedeuten soll, hat Wirtschaftsminister Clement jüngst bestechend offenherzig verdeutlicht: "Die Ehefrauen gut verdienender Angestellter oder Beamter akzeptieren einen Minijob oder müssen aus der Arbeitsvermittlung ausscheiden." 5 Im Mittelpunkt der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung steht wieder der allein verdienende Familienvater. Dass sich Frauen von der Vorstellung verabschieden sollen, allein für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, wird nicht einmal mehr sprachlich kaschiert: "Mit einem Zwei-Euro-Job kommt ein Familienvater mit 45 Jahren, der ALG II bezieht, faktisch auf einen Stundenlohn von etwa zwölf Euro"6, erklärt die grüne Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt. Dieses Rechenexempel gilt freilich nur, wenn man alle Transferleistungen - auch die der Frau - einbezieht.

Bereits jetzt erhalten 40 Prozent aller arbeitslosen Frauen keine Arbeitslosenhilfe, ab 2005 werden sogar 60 Prozent auf das überholte Modell der Versorgerehe zurückgeworfen. Erhalten Frauen keine finanziellen Leistungen, haben sie keinen Anspruch auf Vermittlungsangebote der Arbeitsagentur. Sie können ihnen zwar angeboten werden, doch angesichts der Vorgaben an die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen, "teure" Arbeitslose schnellstmöglich zu vermitteln, um Gelder einzusparen, stehen "billige" Frauen, die keine Leistungen beziehen, ganz unten auf der Liste.

Frauen fallen damit jedoch nicht nur aus der Statistik, sondern für sie werden dann auch keine Sozialversicherungsbeiträge mehr eingezahlt. Ohne Vermittlung und Förderung bleiben angesichts der Arbeitsmarktlage als letzter Ausweg wiederum vor allem prekäre Jobs ohne Sozialversicherung. Eine eigene Alterssicherung ist damit nicht möglich und Altersarmut vorprogrammiert; zugleich fehlen Sozialabgaben in den Staatskassen.

Zunahme der "working poor"

Gerade in Bereichen mit hoher Frauenbeschäftigung, vor allem im Einzelhandel, bei den Pflegediensten, im Gastronomiegewerbe und in der Gebäudereinigung, ist schon seit geraumer Zeit die Umwandlung regulärer Jobs in sozialversicherungsfreie 400-Euro-Jobs zu beobachten. Zunehmend weniger Vollzeitstellen sind die Folge, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung feststellt: "Die Chancen, eine reguläre Teil- oder Vollzeitstelle zu finden, sind eher gesunken".7

Inzwischen sind Niedriglöhne in der Tat zum Massenphänomen geworden: Seit 1980 ist die Zahl der Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland um 1,4 Millionen gesunken, während die Zahl der Niedriglöhner auf Vollzeitstellen um 400000 gestiegen ist: "Mittlerweile erhalten rund 6,3 Millionen Frauen und Männer, ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland, einen Niedriglohn, der unter 75 Prozent des durchschnittlichen Vollzeitverdienstes liegt."8

Hartz IV droht diese Tendenz nun weiter massiv zu befördern. So befürchtet die IG BAU, dass Bauunternehmen ihre Angestellten zukünftig in Tochterunternehmen beschäftigen werden, um sie von dort zu entleihen - natürlich unterhalb des Tariflohns. Die Folge wäre eine massive Zunahme der "working poor", der "arbeitenden Armen", das heißt von Arbeitnehmern, die trotz Job ihren Lebensunterhalt nicht angemessen bestreiten können.

An diesen absehbaren Auswirkungen von Hartz IV wird deutlich, dass es sich um eine fundamentale Neuorientierung in der Arbeits- und Sozialpolitik handelt. Nicht die real fehlenden Arbeitsplätze werden als das zentrale Problem der hohen Arbeitslosigkeit ausgemacht, sondern die vorgeblich unwilligen Arbeitslosen, die sich in der sozialen Hängematte ausruhten, statt selber für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Diese noch in den 90er Jahren von allen linken Parteien kritisierte Lesart ist nunmehr Leitbild der rot-grünen Reformen geworden.

Mit den Arbeitsmarktreformen haben SPD und Grüne von ihrer Wahlprogrammatik Abschied genommen; von einer gerechten Verteilung "der gesellschaftlichen Güter" mit einer "besonderen Parteinahme für die sozial Schwachen"9 kann keine Rede mehr sein. Darüber kann auch der Verweis nicht hinwegtäuschen, dass wesentliche Verschärfungen erst im Vermittlungsausschuss durch die CDU/CSU durchgesetzt wurden und einige Vorhaben erfolgreich abgewehrt werden konnten.10 Vom einstigen Maßstab individueller Grundsicherung, nämlich dem, "was Menschen brauchen, um am kulturellen und politischen Leben teilzunehmen", hat sich Rot-Grün mit Hartz IV weit entfernt.11

Insofern greift es erheblich zu kurz, im Widerstand gegen Hartz IV ein lediglich ost-spezifisches Problem auszumachen. Vielmehr stellt der künftige Umgang mit Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe die ganze Republik auf eine Bewährungsprobe.

Angesichts der scheinbar unaufhaltsam steigenden Arbeitslosigkeit, die weder durch Steuersenkungen noch durch Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt wirksam verringert wurde, kann es nicht verwundern, dass sich viele Menschen in Ost wie West nach größerer sozialer Sicherheit sehnen. In ihrer jüngst vorgestellten weltweiten Studie "Social Security for a Better World" stellt die Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) fest, dass sozio-ökonomische Sicherheit die Lebenszufriedenheit, aber auch das Wirtschaftswachstum und die soziale Stabilität fördert.12 Noch liegt die Bundesrepublik, wie die Studie ausweist, mit ihren sozialpolitischen Institutionen im weltweiten Vergleich unter den "Vorreitern" einer erfolgreichen Sozialpolitik. Um dies auch künftig sicherzustellen, bleibt ein "kohärentes System der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik" unabdingbar. Die durch Hartz IV beschleunigte soziale Verunsicherung weist dagegen in die falsche Richtung.

1 "Der Spiegel", 15/2004.
2 Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2004, S. 651; die Umfrage basiert auf Daten von 2000.
3 20% der westdeutschen Arbeitslosenhilfeempfänger bekämen nach den Berechnungen keine Leistungen mehr, 36% der ostdeutschen, davon sind insbesondere Frauen betroffen; vgl. BT-DS 15/1279, S. 23.
4 Vgl. dazu Alexander Graser, Aufgewärmtes aus der Armenküche. Roland Kochs Rezepte aus Wisconsin, in: "Blätter", 10/2001, S. 1250-1258.
5 Zit. n. "die tageszeitung" (taz), 10.8.2004.
6 "Thüringer Landeszeitung", 21.8.2004.
7 So Jürgen Schupp vom DIW, vgl. Spiegel Online, 25.8.2004.
8 Heinz Bontrup, in: taz, 26.8.2004.
9 Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen "Grün wirkt" von 2002, S. 29 ff.
10 So forderte die Union unter anderem die volle wechselseitige Unterhaltspflicht von Kindern und Eltern, keine Rentenfreibeträge für unter 50jährige, keine Vermögensfreibeträge für Kinder, eine weitere Verschärfung der Sanktionen und eine Absenkung des Leistungsniveaus auf zwei Drittel der nun beschlossenen Bezüge.
11 Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen 2002, S. 30.
12 http://www.ilo.org/public/german/region/eurpro/ bonn/aktuelles_ses.htm.

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