Das Elend des repressiven Liberalismus
Nach dem Beginn des Folter-Prozesses gegen den früheren Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, und dessen beharrlicher Verweigerung jeglicher Schuldeinsicht...
Nach dem Beginn des Folter-Prozesses gegen den früheren Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, und dessen beharrlicher Verweigerung jeglicher Schuldeinsicht schlägt die Debatte um die Legitimität von Folter neue Wellen. Während "die tageszeitung" die Höchststrafe für Daschner, nämlich fünf Jahre Haft für die "Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat", fordert, plädiert Michael Naumann für "Die Zeit" dafür, dass der Bundespräsident Daschner sofort begnadigen solle, wenn er denn überhaupt verurteilt wird.1 Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung halten die Tat Daschners sogar für gerechtfertigt.
Die gleiche Bevölkerung, auch Michael Naumann, hat sich dagegen vor nicht allzu langer Zeit über US-amerikanische Folterer in Abu Ghraib, Guantánamo Bay oder den Bergen Afghanistans empört. Es gibt in der Tat gute Gründe für eine unterschiedliche, ja widersprüchliche Reaktion, da das Ausmaß der Taten sehr verschieden ist. Die Politik der amerikanischen Regierung und ihres Präsidenten, die das Foltern in Afghanistan, im Irak und in Guantánamo Bay erlaubt, unterstützt, angeordnet und den Chef der Folterknechte zum neuen amerikanischen Innenminister ernannt haben, verdient moralische Entrüstung.2 Für Daschner hingegen kann man mit guten Gründen moralisches Verständnis zeigen.
Mehr aber nicht. Daschners Tat stellt nicht nur eine gewöhnliche Rechtsverletzung, sondern einen fundamentalen Bruch der Verfassung dar. Ein Bundespräsident, der der Argumentation der "Zeit" folgen und ihn begnadigen würde, weil Daschner im "Widerspruch unvereinbarer Rechtsnormen", "dem staatlichen Foltertabu und dem Leben des Kindes"3 hätte handeln müssen, hätte die Verfassung nicht nur falsch verstanden, sondern bereits aufgegeben. Würde Horst Köhler Daschner jedoch tatsächlich begnadigen, wäre eine Revision der Verfassung, gerade im Angesicht der terroristischen Bedrohung, der konsequente nächste Schritt - und das "Gesetz zur Folter" dürfte für eine Regierung Merkel/Beckstein kein Problem mehr sein, wenn die Gelegenheit, die kommen wird, erst da ist. Amerikas Gegenwart ist immer noch unsere Zukunft.
Nur falsche Sentimentalität kann deshalb den Blick für die bedrohliche Einheit in der offensichtlichen Differenz der Fälle Daschner und Abu Ghraib vernebeln. Die demokratische Verfassung verbietet die Relativierung der Menschenwürde durch das Streben nach Sicherheit; umgekehrt schreibt sie die Relativierung der Sicherheit durch den Schutz der Menschenwürde vor. Auch das Argument der Einschränkbarkeit des Lebensschutzes sticht hier nicht. Das erkennt man schon dann, wenn man die Art. 1 Abs. 1 und 2 mit Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes vergleicht. Während Art. 1 Abs. 1 und 2 die "Würde des Menschen" für "unantastbar" erklären und "alle staatliche Gewalt" auf ihren Schutz und den Kernbestand der "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte" - das ist die (wie immer konkretisierte) gleiche Freiheit eines und einer jeden Rechtsgenossin, sei sie Bürgerin oder nicht - "verpflichten" und eine Einschränkung durch das einfache Gesetz ausschließen, kann nach Art. 2 Abs. 2 in das "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" durch ein einfaches "Gesetz eingegriffen werden". Im Verbot der Folter findet jedoch gerade das Menschenwürdeprinzip seinen Ausdruck. Der kategoriale Unterschied von Würde und Leben wird noch dadurch unterstrichen, dass nur die Art. 1 und 20 (Demokratieprinzip), nicht aber Art. 2 im Art. 79 Abs. 3 für unabänderlich erklärt werden. Der verfassunggebende Gesetzgeber hat damit die gleichsam transzendentale Grenze einer demokratischen Verfassung noch einmal ausdrücklich markiert.
Erst kürzlich hat der Gesetzgeber massiv in das Recht auf Leben durch ein einfaches Flugsicherungsgesetz eingegriffen, das den Abschuss eines voll besetzten Passagierflugzeugs, das von Terroristen in ein Hochhaus oder Kernkraftwerk gesteuert wird, erlaubt. Das war ein Skandal, vor allem deshalb, weil es, an der öffentlichen Debatte vorbei, von einem gedemütigten und entmachteten Parlament klammheimlich beschlossen wurde. Aber dieses Gesetz war noch kein, genauer: zumindest kein offensichtlicher Bruch der Verfassung und erfolgte (zumindest formell) in Übereinstimmung mit dem Recht auf Leben. Gänzlich anders verhielte es sich mit einem Gesetz, das die Folter verrechtlichte. Ein derartiges Gesetz wäre vielleicht mit dem konstitutionellen Rechtsstaat des Deutschen Reiches von 1871 vereinbar, nicht aber mit dem demokratischen Verfassungsstaat des Grundgesetzes.
Während nämlich der liberale Konstitutionalismus, in dem die Souveränität des Staates sich selbst begrenzt und den Bürgern Freiheiten von oben gewährt, die Freiheit an der Staatssicherheit also nach der inneren Logik tatsächlich relativiert, ist solche Relativierung durch die demokratische Verfassung kategorisch ausgeschlossen, weil hier die Verfassung keinen noch so kleinen Raum mehr für staatliche Selbsterhaltung jenseits der Verfassung lässt und nichts anderes ist als die Verfassung eines Vereins zur Gewährleistung individueller Selbstbestimmung durch demokratische Legitimation. Der demokratischen Verfassung liegt somit ein ganz anderer Rechts- und damit auch Verfassungsbegriff zugrunde als dem konstitutionellen Rechtsstaat.
Der Rechtsbegriff des Konstitutionalismus ist repressiv. Er definiert mit Hobbes und Laband, aber auch Kelsen, Recht als Einschränkung der Freiheit zum Zweck der Friedenssicherung. Kelsens letzte Parole: Peace through lawist aber aus demokratietheoretischer Sicht ziemlich dürftig. Sie ist bloß liberal. Der demokratischen Verfassung, so wie sie aus den beiden Revolutionen des 18. Jahrhunderts hervorgegangen ist, liegt im Gegensatz dazu die Idee einer Verwandlung allen Rechts in - mit einem etwas aus der Mode gekommenen Ausdruck - emanzipatorisches Recht zugrunde. Der Zweck demokratischen Rechts ist nicht Frieden durch Freiheitseinschränkung, sondern Freiheitsgewährleistung durch demokratische Freiheitsverwirklichug, die ihrerseits durch (Verfassungs-)Recht ermöglicht wird. Weil sie mit diesem, nicht mehr nur liberalen, sondern demokratischen Rechtsbegriff unvereinbar ist, liegt die Möglichkeit der Folter außerhalb des transzendentalen Rahmens, der durch alle westlichen Verfassungen normiert wird. Eine demokratische Rechtsordnung, die keine rechtliche Möglichkeit zur Rettungsfolter zulässt, "verschläft nicht die Möglichkeit eines Ausnahmezustands, sie weigert sich nur, für diesen Fall die Aufhebung ihrer selbst anzubieten."4
Feindstrafrecht
Der demokratische Rechtsstaat muss die Folter unter allen Umständen aus seiner Rechtsordnung ausschließen, weil die Folter die Bedingungen der Möglichkeit individueller Selbstbestimmung zerstört. Im begrifflichen Horizont des Kirchenstaats im ausgehenden Mittelalter ließ sich die Folter, die ja nur den sterblichen Körper und die verkommene Seele, nicht aber ihre Unsterblichkeit zerstört, relativ problemlos verrechtlichen und dadurch sogar, wie Harold Berman gezeigt hat, ein nicht unerheblicher Rechtsfortschritt geordneter Verfahren - mit (erstmals) definierten Rechten der Beklagten (Inquisitionsprozesse) - erreichen.5 Aber das ist nicht mehr unsere Welt.
Geht man aber mit Hobbes von einem Repressionsbegriff des Rechts und dem primären Rechtszweck der Friedenssicherung aus, dann fallen die modernitätstypischen, kategorischen und unübersteigbaren Grenzen gegen die Verletzung und Zerstörung der Bedingungen der Möglichkeit individueller Selbstbestimmung und demokratischer Legitimation. Der bloß liberale, Hobbessche Rechtsstaat, in dem die Demokratie keine notwendige Voraussetzung ist, verhält sich zum Folterverbot somit zumindest ambivalent. In letzter Instanz wäre alles erlaubt, was der Friedenssicherung und der staatlichen Selbsterhaltung dient.
Genau das ist die These des Bonner Strafrechtlers Günther Jakobs.6 In der Stunde der Not müsse der Normstaat im Umgang mit den erklärten Feinden seiner Rechtsordnung, so argumentiert Jakobs mit Blick auf den 11. September, zum Maßnahmestaat werden. Das fange im Staat schon bei der Sicherheitsverwahrung an und werde evident angesichts des globalen Terrorismus. Das "justizförmige" Strafverfahrensrecht müsse sich in diesen Fällen - nach jüngstem US-amerikanischen Vorbild - in ein "kriegsförmiges" verwandeln. Jakobs geht davon aus, dass sich - in Verfassungsregimen wie dem deutschen oder dem US-amerikanischen - der instrumentelle Sinn des Rechts, Erwartungen zu stabilisieren und den Frieden effektiv zu sichern, vom Freiheitssinn des Rechts, durch den natürliche Populationen in selbstbestimmte Personen verwandelt werden, einfach abkoppeln lässt - und das nicht nur in der Straßenverkehrsordnung, sondern auch im Strafrecht. Nur wer "die kognitive Mindestgarantie [...] für die Behandlung als Person" erfüllt, darf im bürgerschaftlichen Innenverhältnis in den Genuss der Freiheitsrechte kommen und hat deshalb Anspruch, auch noch als Straftäter wie eine Person mit gleichen Rechten behandelt zu werden. Nicht erfüllt werde diese "kognitive Mindestgarantie" hingegen von Hangtätern, Berufsverbrechern und Terroristen. Im Außenverhältnis gegen prinzipielle Feinde der Rechtsordnung verbiete sich deshalb die Anwendung des "Bürgerstrafrechts". Der Terrorist habe seinen Anspruch, als Person behandelt zu werden, verwirkt und existiere rechtlich nur noch als rechtloses Individuum im Naturzustand, wie Jakobs mit Berufung auf Hobbes schreibt. Deshalb, und Jakobs hebt das entscheidende Wort hervor, "darf" der Staat "ihn auch nicht mehr als Person behandeln". Geboten sei vielmehr die Reduktion des Rechts auf eine instrumentelle Maßnahme, um den "Feind" zu "bekriegen" und zu besiegen: "Wer den Krieg gewinnt, bestimmt, was die Norm ist."
Unteilbarkeit der Menschenwürde
Diese Argumentation ist jedoch schon aus zwei Gründen höchst inkonsistent. Zum Ersten kann Jakobs sich nicht gleichzeitig auf den repressiven Rechtsbegriff des konstitutionellen Rechtsstaats und den emanzipatorischen Rechtsbegriff des Grundgesetzes berufen. Einen Staat vor der Verfassung, der seine Bürger auch dann noch auf dessen Selbsterhaltung verpflichten könnte, wenn die Verfassungsordnung nicht mehr existiert, kennt das Grundgesetz, kennen auch die strikt auf deren Rahmen verpflichteten Notstandsgesetze nicht. Der demokratische Verfassungsstaat lässt nicht mehr an staatlicher Selbstbehauptung zu, "als seine Verfassung zum Entstehen bringt".7 JakobsÂ’ Argument ist nur dann plausibel, wenn man diese, für das Grundgesetz unverzichtbare Prämisse fallen lässt und - wie im Staatswillenspositivismus von Laband bis Forsthoff8 - auf einen "rechtsfreien Staat"9 hinter dem Recht zurückgreift, der im Zweifelsfall als "argumentative Notstandsreserve" bereitsteht,10 um "von ihm gewährte Rechtspositionen wieder zurückzurufen".11
Zum Zweiten ist die Trennung von Person und Individuum mit dem Grundgesetz (oder der US-amerikanischen Verfassung) zumindest dann inkompatibel, wenn die Texte noch irgendeinen allgemeinen, für das bürgerschaftliche Selbstverständnis eines Laienpublikums verständlichen Sinn haben sollten. Weder Art. 1 noch Art. 20 GG binden den Status der Rechtsperson an irgendwelche kognitiven Voraussetzungen. Sie gelten, weil sie auch für die inneren und äußeren Feinde der Rechts- und Verfassungsordnung gelten. Art. 1 und die nachfolgenden Grundrechte legen die Menschenrechte auf die schlichte Tatsache des nackten Menschseins fest und verpflichten weder zur Achtung von Staatlichkeit, Recht, Demokratie, noch zu Charakterfestigkeit, westlicher Zivilisation oder irgendwelchen Werten. Man hat - qua positivrechtlicher Zuschreibung - grundlegende Rechte, auch wenn man es nicht weiß, auch wenn man sie nicht haben will, ja sogar auch wenn man bereit ist, sie mit allen Mitteln zu vernichten. Wenn also Art. 1 allen Menschen die gleiche Menschenwürde ohne jede Voraussetzung zuschreibt, dann kann keine juristische Dogmatik12 diesen Gehalt so relativieren, dass irgendeine Gruppe aus dem Kreis der Menschen mit Würde ausscheidet, was auch immer die Geschichte ihrer Taten sein mag.
Was die Folter vermeintlicher Terroristen durch US-Soldaten anbelangt, ist auch in der amerikanischen Verfassung der kognitiv und ethisch neutrale Status der Rechtsperson ganz unmissverständlich. Während es in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 die "guten Menschen dieser Kolonien" sind, die im vorstaatlich-revolutionären Zustand dem englischen König den Krieg erklären, ist es in der Verfassung von 1791 - ohne jede kognitive oder ethische Qualifikation - "Wir, das Volk der Vereinigten Staaten", das seiner Staatsgewalt eine Verfassung gibt und sich Rechte wechselseitig zuschreibt.
Trotz der formalen Einschränkungen des status activus, seiner Bindung an Staatsbürgerschaft, Alter und Mündigkeit etc., gilt auch noch für den Volksbegriff des Art. 20 Abs. 2 GG, dass er die Zugehörigkeit zum Volk nicht an substanzielle "kognitive Voraussetzungen" bindet und sich grundsätzlich unterschiedslos und rein formal auf die ganze Bevölkerung bezieht, da die Willensbildung am Stammtisch mit der (in den USA gesetzlich nicht einschränkbaren) Redefreiheit beginnt: "Der Kongress darf kein Gesetz erlassen..." (1. amendment).13
Während der Ausschluss verurteilter Terroristen vom status activus und einigen kommunikativen Grundrechten jedoch kein positivrechtliches Problem darstellt (obwohl in fortschrittlichen Ländern wie Kanada auch verurteilte und einsitzende Straftäter Wahlrecht haben), bleibt das Rechtsstaatlichkeitsgebot und die Verfassungsbindung aller Staatsgewalten (Art. 20 Abs. 3) für Terroristen doch ebenso in Kraft wie für jeden anderen. Hier sind Einschränkungen nicht zulässig. Deshalb muss der Gesetzgeber in den sauren Apfel beißen und die Kontaktsperrgesetze und Sicherheitspakete entweder so allgemein formulieren, dass auch Leute darunter fallen können, die keine erklärten Staatsfeinde sind, oder er darf überhaupt keine derartigen Gesetze machen. Wenn folglich Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit nicht gegen den Buchstaben der Verfassung ausgelegt oder einfach beiseite geschoben werden sollen, gilt, dass die Ordnung des Grundgesetzes alles (repressive) Strafrecht in (emanzipatorisches) Bürgerstrafrecht verwandelt.14
Menschenwürde und Tabu
Bei der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes, die das Foltern kategorisch verbietet, handelt es sich somit zunächst um eine kognitiv voraussetzungslose Würde aller Menschen, die jedem und jeder den Personenstatus zuschreibt. Dieser Status ist rein askriptiv.
Zum Zweiten ist die Menschenwürde kategorial an den Freiheitsbegriff des Rechts gebunden und von der doppelten Legitimation durch demokratische Ausgestaltung und individuelles Ernstnehmen der Rechte abhängig. Ohne Art. 20 Abs. 2 kein Art. 1 Abs. 1 et vice versa.
Drittens handelt es sich bei der Menschenwürde nicht um ein Tabu, auch wenn man das aufgrund der Formel von ihrer "Unantastbarkeit" (Art. 1 Abs. 1 Satz 1) glauben könnte, sondern um eine Norm des positiven Rechts, in deren Positivität die Trennung von Recht und Moral ebenso vorausgesetzt ist wie die Änderbarkeit der Norm.15 Als Rechtsnorm ist die Menschenwürde aus dem argumentativen Netzwerk öffentlicher Debatten hervorgegangen und bleibt solchen Debatten permanent ausgeliefert. Es gibt eine Serie mehr oder minder guter, aber prinzipiell bezweifelbarer, historischer, philosophischer, moralischer, dogmatischer, religiöser, profaner, staatsrechtlicher etc. Gründe, warum das alles so im Artikel 1 steht, wie es da steht. Tabus dagegen sind gerade keine begründbaren und sanktionsgestützten Normen, sondern entfalten ihre Wirkung von selbst. Beim Tabu lassen sich Norm, Begründung und Sanktion so wenig unterscheiden wie bei einem Virus. Wer das Tabu bricht, über den bricht das Unheil wie eine ansteckende Krankheit oder ein böser Zauber herein. Da helfen keine Argumente.16
Wer jedoch heute für die Verrechtlichung der Folter argumentiert, gegen den helfen nur Argumente. Denn viertens schließlich ist auch die Menschenwürdegarantie änderbares Recht, das dem Wandel durch Rechtsfortbildung auf allen Stufen der Rechtsordnung ebenso ausgesetzt ist, wie es von der Zufuhr demokratischer Legitimation durch wechselnde Gesetzgebung abhängig bleibt. Direkte Änderungen oder Streichungen des Art. 1 sind zwar durch Art. 79 Abs. 3 dem parlamentarischen Gesetzgeber entzogen, aber natürlich nicht der Ausübung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes (Art. 146 GG). Über die Gültigkeit der Gründe, den Art. 1 zu relativieren, erleben wir derzeit ja gerade eine lebhafte Debatte, die einen sensiblen Beobachter, dem der Sinngehalt tragender Verfassungsprinzipien noch klar vor Augen gestanden hat, zu der ebenso erschreckten wie richtigen Frage veranlasst hatte, ob wir denn alle "verrückt geworden" seien, ernsthaft über die Verrechtlichung der Folter zu diskutieren.17
Ticking bombs - Recht vs. Moral
Die dem Grundgesetz zugrunde liegende Trennung von Recht und Moral und die dadurch funktional bewirkte und normativ gewollte Freisetzung individueller Selbstbestimmung ist jedoch auch der Schlüssel zur Lösung des in der aktuellen Folter-Debatte immer wieder bemühten Luhmannschen Problems der "tickenden Bombe". In diesem Szenario soll durch Folterung eines Terroristen das Leben von Tausenden von Menschen gerettet werden können.
Luhmann hat ja Recht, wenn er auf dem positivrechtlichen Charakter allen Rechts in der modernen Gesellschaft besteht. Aber sein ironisch inszenierter, von manchen Lesern freilich ernst genommener Vorschlag, auch das Folterproblem, wie jedes innerrechtliche Problem, durch Verrechtlichung zu lösen, schöpft die Möglichkeiten des Grundgesetzes ersichtlich nicht aus und läuft Gefahr einer voreiligen Preisgabe individueller Freiheit an den Repressionsbegriff des Rechts.
Weil es die Menschenwürde jeder legalen Einschränkung entzieht, belässt das Grundgesetz demjenigen, der in der Stunde äußerster Gefahr vor einer tragischen Wahl steht, die Verantwortung für alle Folgen seines Handelns. Wer aus moralischen Gründen glaubt, foltern und als Hoheitsträger die Verfassung brechen zu müssen, um Tausenden oder auch nur einem entführten Kind das Leben zu retten, muss das mit seinem Gewissen und dem nachfolgenden moralischen Diskurs allein abmachen. Das genau dieser Freiheit verpflichtete Recht kann und darf ihn oder sie aber von der moralischen Entscheidung nicht entlasten und damit die Zerstörung der Möglichkeit individueller Selbstbestimmung zur Abwägung freigeben. Denn wer am Terroristen diese Möglichkeit zerstört, muss wissen, dass er am Folteropfer auch die eigene Selbstbestimmung vernichtet. Auch hier gilt mit Rosa Luxemburg, dass meine Freiheit die der anderen ist.
Es mag ja sein, dass es Fälle gibt, in denen es moralisch geboten ist, die Verfassung zu brechen. Die Moral kennt - anders als das Recht - keine Grenzen und lässt keine Dogmatik zu. Deshalb gilt, dass auch das positive Recht im Ganzen zwar moralisch akzeptabel bleiben muss, in jedem einzelnen Fall aber eine, im Recht nicht mehr heilbare Kollision zwischen Moral und Recht eintreten kann. Das ist der Preis des Differenzierungsgewinns. Das Recht wäre - mit Kants in diesem Fall richtigem Rigorismus - am Bundeskanzler, der foltern lässt, um Berlin vor der Bombe zu retten, zu vollstrecken. Kant hätte ihn hinrichten lassen. In der Erinnerung des Volkes aber würde sein Andenken umso mehr im Glanz superergoratorischen, moralischen Heldentums erstrahlen - auch wenn bei weniger strahlendem Licht der nicht nur rechtliche, sondern auch moralische Preis für solche Rettung (wie in der klassischen Tragödie) erkennbar bliebe.
Im Übrigen kann das Parlament, das als demokratisches Legitimationsorgan nicht, wie das Gericht, "ans Gesetz gebunden" (Art. 20 Abs. 3 GG) ist, in bestimmten Fällen "Rechtsbrüche" von Hoheitsträgern in Notsituationen "ex post heilen."18 Das gilt jedoch nicht für die verfassungsrechtlich verbotene Folter. An die Verfassung ist auch das Parlament gebunden - mit gutem Grund. Ist nämlich - wie im Fall der Folter - "die rechtliche Heilung verfassungsrechtlich ausgeschlossen, so war der Verstoß zur Rettung der Ordnung so eklatant, dass eine Ordnung, die solche Handlungen zuließe, nicht mehr als solche des Grundgesetzes bezeichnet werden könnte: Art. 79 Abs. 3 GG. Ein Verstoß gegen verfassungsrechtliche Grundprinzipien ‚zur Rettung des StaatsÂ’ hat diesen Staat (nämlich den des Grundgesetzes) seinerseits beschädigt." 19 Schon deshalb darf der Bundespräsident den ehemaligen Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei nicht begnadigen.
1 Vgl. "die tageszeitung" (taz), 19.11.2004; Michael Naumann, Gnade vor Recht, in: "Die Zeit", 25.11.2004.
2 Nach einem vertraulichen Bericht des Internationalen Roten Kreuzes, der der "New York Times" zuging, gleichen die Verhörmethoden im US-Militärgefängnis Guantánamo Bay der Folter. Mit Einzelhaft, Kälte und Lärm werde der Willen der Gefangenen gebrochen (Vgl. "Süddeutsche Zeitung" (SZ), 1.12.2004).
3 Naumann, a.a.O.
4 So Gertrude Lübbe-Wolff, zit. n.: Heribert Prantl, Rettungsfoltern, in: SZ, 19.11.04, S. 13.
5 Harold Berman, Recht und Revolution, Frankfurt a. M. 1991.
6 Günther Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: "HRRS", 3/2004, S. 88-95.
7 Adolf Arndt, Umwelt und Recht, in: "Neue Juristische Wochenschrift", 1-2/1963, S. 24-26, hier: 24 f.
8 Hauke Brunkhorst, Der lange Schatten des Staatswillenspositivismus, in: "Leviathan", 3/2003, S. 362- 381.
9 Christoph Möllers, Skizzen zur Aktualität Georg Jellineks, in: Stanley L. Paulsen und Martin Schulte (Hg.), Georg Jellinek - Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, S. 155-171, hier: S. 165.
10 Christoph Möllers, Staat als Argument, München 2001, S. 261.
11 Christoph Möllers, Skizzen..., a.a.O., S. 165.
12 Auch wenn die neueste Interpretation des hegemonialen Grundgesetzkommentars Maunz/Dürig darauf hinauszulaufen scheint. (Kritisch dazu: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Bleibt die Menschenwürde unantastbar? In: "Blätter", 10/2004, S. 1216-1227).
13 Zum menschenrechtlichen Sinn dieser Formel schon: Alexander Meiklejohn, Political Freedom, Westport 1979, S. 53, 94.
14 Das kann auf Dauer durchaus mit der Existenz von Gefängnissen unvereinbar sein und ist es wahrscheinlich schon heute.
15 Insofern erweist sich Ralf Poschers - ansonsten mit meiner Argumentation übereinstimmender - Aufsatz in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 2.6.2004, soweit er auf dem Tabu-Charakter des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 besteht, als bloße Rhetorik.
16 Selbst das klassische Tabu des Inzest wird jedoch in modernen Gesellschaften in änderbares und begründungsbedürftiges, positives Recht verwandelt. Es ist kein Tabu mehr, sondern ein Paragraph in irgendeinem Gesetzbuch und ohne den Paragraphen normativ wirkungslos. Durch die diskursiv vernetzte Verrechtlichung wird das Tabu somit radikal enttabuisiert und entzaubert.
17 So Ulrich Raulf in der SZ im Juni 2004.
18 Möllers, Staat als Argument, a.a.O., S. 267. Findet sich eine Mehrheit, dann ist die Maßnahme nachträglich zur gesetzlich vorgesehenen Ausnahme generalisiert worden, aber keineswegs ist hier die Grenze des Normstaats verlassen und das Recht - wie bei Jakobs - in Maßnahmerecht zurückverwandelt worden.
19 Ebd.
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