Das Schweigen brechen

Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg1

Das rheinische journalistInnenbüro köln öffnet den Blick auf die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg

Als der Zweite Weltkrieg begann, war Großbritannien die größte Kolonialmacht und verfügte über ein Imperium, das ein Viertel der Erde sowie ein Viertel der Weltbevölkerung umfasste und sich von Jamaika und Lateinamerika über Ostafrika und Indien bis nach Südostasien und in den Zentralpazifik erstreckte. Die französischen Kolonien in der Karibik, Nord- und Westafrika, Indochina, Melanesien und Polynesien waren zusammengenommen zwanzigmal größer als Frankreich und hatten mehr als einhundert Millionen Einwohner. Mit Libyen, Eritrea und Somaliland herrschte auch die faschistische Regierung Italiens bei Kriegsbeginn in Afrika über ein Kolonialgebiet, das um ein Vielfaches größer war als das eigene Land. Die Kolonie Niederländisch-Indien (Indonesien) hatte die Größe Westeuropas. Die USA hielten die Philippinen und militärstrategisch bedeutsame Inseln im Pazifik wie Guam und Hawaii, Formosa (Taiwan) und die Mandschurei.
Deutschland hatte seine Kolonien in Afrika und der "Südsee" zwar nach dem Ersten Weltkrieg an die Siegermächte abtreten müssen, doch ihre Rückgewinnung und die Eroberung weiterer Kolonialgebiete gehörten zu den erklärten Kriegszielen des NS-Regimes. Schon nach der verheerenden Niederlage Frankreichs im Juni 1940 gewann Nazideutschland Einfluss auf die französischen Kolonien, die unter der Kontrolle der Kollaborationsregierung in Vichy standen, und bezog aus ihnen Rohstoffe für seine Rüstungsindustrie. Auch die Bündnispartner des NS-Regimes suchten im Zweiten Weltkrieg ihre Kolonialreiche auszubauen. Nach dem italienischen Überfall auf Äthiopien träumte Mussolini von der Wiedergeburt eines Imperium Romanum in Ostafrika, und Japan hoffte, mit seinen Feldzügen in China, Südostasien und der Pazifikregion ein "großost-asiatisches Reich" begründen zu können.
Im Kampf gegen die faschistischen Kriegstreiber2 bezogen auch die Alliierten ihre Kolonien von Anfang an in den Zweiten Weltkrieg mit ein. Die kolonisierten Länder mussten nicht nur kriegswichtige Rohstoffe zu Spottpreisen abgeben, sondern stellten auch Millionen Soldaten sowie (Zwangs-) Arbeiter und Arbeiterinnen für die alliierten Streitkräfte. Ohne den Beitrag der Kolonialisierten hätte der Zweite Weltkrieg einen anderen Verlauf genommen und die Befreiung der Welt vom deutschen und italienischen Faschismus sowie vom japanischen Großmachtwahn wäre noch schwerer und langwieriger gewesen. Weite Teile der so genannten Dritten Welt3 - von der lateinamerikanischen Küste über West- und Nordafrika, den Nahen Osten, China, Indien und Südostasien bis zu zahlreichen Inselgruppen im Stillen Ozean - waren auch Kriegsschauplätze. Dabei geriet die einheimische Bevölkerung nicht selten zwischen die Fronten und sah sich zu Kriegsdiensten aller Art gezwungen. Millionen Opfer und schwere Zerstörungen in den betroffenen Ländern waren die Folge. Allein bei der Befreiung der philippinischen Hauptstadt Manila von den japanischen Besatzern kamen 100.000 Zivilisten ums Leben, und in China starben im Zweiten Weltkrieg mehr Menschen als in den Ländern der faschistischen Achsenmächte zusammen.
Soldatenfriedhöfe, Kriegsgräber und Denkmäler für Gefallene in allen Kontinenten zeugen von den Opfern des Zweiten Weltkriegs in aller Welt. Sie finden sich rund um den Globus: in Rio de Janeiro wie in Montevideo, in Algier wie in Tunis, in Burkina Faso und in Äthiopien, im Dschungel von Burma und in den philippinischen Bergen, auf den Marianen-Inseln und auf Tahiti. Trotzdem tauchen die Kriegsopfer aus der Dritten Welt in den gängigen Statistiken über die "Menschenverluste" des Zweiten Weltkriegs nicht auf. Denn die Kolonialherren haben sie entweder gar nicht erst gezählt oder den eigenen Verlusten zugeschlagen und damit unkenntlich gemacht.4

Erste Rekapitulationen

Erst nach ihrer Unabhängigkeit konnten die Kolonialisierten ihre Versionen der (Kriegs-) Geschichte aufarbeiten und niederschreiben. Es ist deshalb kein Zufall, dass in vielen Ländern der Dritten Welt erst in den siebziger Jahren historische Werke über den Zweiten Weltkrieg und Memoiren von Kolonialsoldaten erschienen. Nicht wenige davon waren motiviert von der Ignoranz der Kolonialmächte gegenüber den Veteranen und den Hinterbliebenen der Kriegsopfer. Joseph Issoufou Conombo aus dem westafrikanischen Obervolta zum Beispiel kämpfte im Krieg in Europa an der Front, übernahm danach unter der französischen Kolonialverwaltung das Amt des Bürgermeisters von Ouagadougou, der Hauptstadt seines Landes, und amtierte dort nach dessen Unabhängigkeit im Jahre 1960 erst als Außenminister, dann als Premierminister. Ein schwerer Autounfall zwang ihn 1974 zu einem Krankenhausaufenthalt in Frankreich, als dort gerade die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie stattfanden. Presse, Rundfunk und Fernsehen berichteten ausführlich über die Truppen des Freien Frankreich und über die Parade, die deren Kommandant, General Charles de Gaulle, mit dem Anführer des französischen Widerstands, General George Bidault, auf den Champs-Elysées abnahm. Joseph Issoufou Conombo verfolgte die Bilder von seinem Krankenbett aus und erkannte darauf einige der französischen Offiziere und Kriegsteilnehmer, die er als Soldat in de Gaulles Kolonialtruppen kennen gelernt und mit denen er für die Befreiung Frankreichs gekämpft hatte. Doch in den Berichten der französischen Medien über den Jahrestag wurden "die schwarzen Soldaten nicht mit einem Wort" erwähnt : "Weder von unseren Einsätzen in Toulon und in der französischen Provinz war die Rede noch von denen bei der Schlacht um Monte Cassino in Italien." Joseph Issoufou Conombo begann deshalb noch am selben Tag, seine Kriegserlebnisse niederzuschreiben, Die Erinnerungen des Tirailleur Sénégalais mit der Stammnummer 51084. Er widmete dieses Buch "seinen Kameraden", schrieb es "aber auch für die Franzosen". Allerdings erschien das Buch in Frankreich erst 15 Jahre später.5
Anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes fanden 1995 in vielen Ländern der Dritten Welt Ausstellungen, Veranstaltungen, Paraden, Konferenzen und Symposien statt. Regisseure aus dem Senegal, Ghana und Gabun drehten Spielfilme und Dokumentationen über das Thema, und Schriftsteller aus Afrika und Asien verarbeiteten ihre Kriegserfahrungen in Romanen.
Veteranenverbände aus Ländern der Dritten Welt sorgten mit dafür, dass das Thema in den neunziger Jahren endlich eine bescheidene Öffentlichkeit fand. Danach konnten die Regierungen der ehemaligen Kolonialmächte die Einsätze ihrer Kolonialsoldaten im Krieg nicht länger totschweigen. So sah sich die britische Regierung im November 2002 (57 Jahre nach Kriegsende!) veranlasst, in London ein erstes Denkmal für die Soldaten aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Afrika, der Karibik und dem Königreich Nepal einzuweihen, die für das Empire in den Krieg gezogen waren. Und zum 60. Jahrestag der alliierten Landung in der Provence im August 2004 lud der französische Präsident Jacques Chirac zwanzig Staatschefs und Regierungsvertreter sowie Hunderte Kriegsveteranen aus Afrika ein, eine "symbolische Geste", zu der Frankreich bis dahin nicht bereit gewesen war.6
Den Historikern, Publizisten und Medien in Deutschland dagegen, dem Land, das die Hauptverantwortung für den Zweiten Weltkrieg und damit auch für die Opfer der Dritten Welt trägt, waren die Kolonialisierten weiterhin nicht der Rede wert. Dabei hat auch die deutsche Wehrmacht Hunderttausende Soldaten aus Nordafrika, dem Nahen Osten, Indien und den besetzten Provinzen im Süden der Sowjetunion an der Front eingesetzt. Und die Befreiung Deutschlands vom Faschismus war nicht zuletzt den Millionen Menschen aus der Dritten Welt zu verdanken, die dafür ihr Leben riskierten oder gefallen sind. Unter denen, die 1945 das letzte Aufgebot der faschistischen Wehrmacht niederrangen und dem Naziregime endlich ein Ende bereiteten, waren Soldaten aus Nord-, West-, Ost- und Südafrika, Araber und Juden aus Palästina, Inder und Pazifikinsulaner, Aborigines und Maoris, Mexikaner und Brasilianer, Afroamerikaner und Native Americans. Aber in der deutschen Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg kommen sie kaum vor. Auch der Medienboom zum 60. Jahrestag des Kriegsendes (in Europa) am 8. Mai 2005 hat daran nichts geändert. Inzwischen tritt selbst die ohnehin verspätete Auseinandersetzung über den Holocaust und die Verbrechen der deutschen Wehrmacht in den Hintergrund, weil sich die Deutschen zunehmend selbst zu Opfern des Zweiten Weltkrieges stilisieren. In zahllosen Fernseh- und Rundfunksendungen, Romanen und Sachbüchern, Kinofilmen und Zeitungsbeiträgen aus jüngerer Zeit ging es um "den Bombenterror der Alliierten auf deutsche Städte", "das Schicksal deutscher Vertriebener" und die Not "deutscher Kriegsheimkehrer und Trümmerfrauen". Fragwürdige Psychogramme von Nazigrößen wie Hitler, Göring und Goebbels präsentierten derweil deutsche Täter von ihrer "menschlichen Seite".

Deutsche Ausblendungen

Die Beschäftigung mit den Opfern der Nazidiktatur und des 2. Weltkrieges in der Dritten Welt tritt angesichts solcher deutscher Opferselbstbesinnung völlig in den Hintergrund. Die Geschichte wird gegebenenfalls so verdreht, dass die Millionen Soldaten, Zwangsarbeiter und Zwangsprostituierten aus den kolonialisierten Ländern gar nicht erst erwähnt werden müssen. Die Fernsehdokumentation Von Hawaii nach Iwo Jima - Der Krieg im Pazifik in der von Guido Knopp betreuten Reihe ZDF-History, ausgestrahlt am 4. September 2004, ist ein Beispiel dafür. Darin wurde behauptet, die meisten der im Zweiten Weltkrieg umkämpften pazifischen Inseln seien "unbewohnt" gewesen. Folglich kam in der 45-minütigen Sendung auch kein einziger Insulaner zu Wort. Tatsächlich jedoch fanden die zentralen Schlachten des Pazifikkriegs in Papua-Neuguinea und auf den Salomonen statt. Auf diesen südpazifischen Inseln lebten damals Millionen Menschen, Zehntausende Insulaner mussten als Soldaten und Zwangsarbeiter für die Kriegsparteien herhalten, und Tausende kamen dabei um. Auch auf vielen Inseln des Zentralpazifiks und im nordpazifischen Mikronesien hinterließ der Zweite Weltkrieg eine Spur der Zerstörung und viele Opfer. Den ZDF-Historikern waren sie kein Wort und kein Bild wert. Sie beschränkten sich stattdessen auf die sattsam bekannten und immer gleichen Archivaufnahmen von US-amerikanischen Kriegsschiffen und japanischen Flugzeugträgern, US-amerikanischen Marine-Soldaten und japanischen Kamikaze-Piloten, unterlegt mit dramatischer Musik. Kritiker haben diese Machart zu Recht als "Geschichtspornographie" bezeichnet.7 Die ZDF-Autoren übersprangen einfach die entscheidenden Jahre des Pazifikkrieges (1942 und 1943) und gingen vom japanischen Angriff auf die US-Flotte Ende 1941 gleich zum Vormarsch der US-amerikanischen Streitkräfte auf das japanische Festland in der Schlussphase des Krieges 1944/45 über.
Im Vorfeld des 60. Jahrestages des Kriegsendes sendete der WDR Ende 2004 einmal mehr den Kriegsfilm Schnellboote von Bataan von John Ford. Darin zeigen US-amerikanische Soldaten eines Schnellbootgeschwaders nach dem japanischen Angriff auf die Philippinen im Dezember 1941, "was in ihnen und ihren Booten steckt". Zwar kämpften Hunderttausende philippinische Soldaten und Partisanen gegen die japanischen Invasoren, und Zehntausende Filipinos ließen allein auf der Halbinsel Bataan ihr Leben. Doch in dem Film treten Filipinos allenfalls als Barmänner und Messdiener auf.
Die Kolonialisierten blieben in westlichen Kinofilmen über den Zweiten Weltkrieg sogar dann unsichtbar, wenn diese in Ländern der Dritten Welt produziert wurden. So erhielt 1999 mit Der Schmale Grad ein US-amerikanischer Kriegsfilm die höchste Auszeichnung bei der Berlinale (den Goldenen Bären), der auf den Salomonen entstanden war. In diesem Film geht es um die monatelangen Stellungskämpfe zwischen alliierten und japanischen Truppen auf der Pazifikinsel Guadalcanal. Japaner und Alliierte setzten dort Zehntausende Insulaner als Frontsoldaten, Kundschafter, Küstenwächter, Spione, Führer, Funker, Sanitäter, Träger, Fahrer, Fischer und als Hilfskräfte beim Bau von Straßen, Flughäfen, Hafenanlagen, Bunkern und Kasernen ein. Einheimische Frauen dienten ihnen als Köchinnen, Wäscherinnen und Prostituierte. Doch der Spielfilm zeigt nur einen einzigen Insulaner im Lendenschurz, der scheinbar unbeteiligt an einer US-amerikanischen Einheit vorbeigeht, sowie eine kurze Sequenz über ein idyllisches Dorf unter Palmen, in dem der US-amerikanische Protagonist Ruhe sucht. Die Bilder daraus vermitteln den Eindruck, als seien die Inselbewohner vom Krieg völlig verschont geblieben. Tatsächlich waren die Salomonen bei Kriegsende so stark zerstört, dass die Folgen noch sechs Jahrzehnte später unübersehbar sind.
Die Liste der Beispiele für die Ignoranz der hiesigen Medien gegenüber dem Thema ließe sich beliebig verlängern, und sie verlängert sich mit jeder zum 60. Jahrestag des Kriegsendes angekündigten Fernsehdokumentation und mit jedem aus diesem Anlass produzierten neuen Spielfilm im Kino.
Selbst wissenschaftliche Publikationen und Sachbücher über den Zweiten Weltkrieg hierzulande erwähnen die Kolonialisierten kaum. Dabei sind inzwischen einige Berichte von Kolonialsoldaten und Zeitzeuginnen aus der Dritten Welt in Französisch, Englisch, Spanisch, Chinesisch und anderen Sprachen erschienen. Aber sie wurden nicht ins Deutsche übersetzt.8 Deutsche Historiker und Sozialwissenschaftlerinnen haben bislang allenfalls Studien über einzelne Aspekte des Themas veröffentlicht, etwa über Kriegsveteranen in Nordbenin oder Westafrikanische Veteranen der französischen Armee (Â… aus) Obervolta.9
Selbst die Internationalismusbewegung hat die Bedeutung und die weitreichenden Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs für die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Dritten Welt in der Nachkriegszeit nicht erkannt. Deutschsprachige Publikationen wie die von KumÂ’a Ndumbe III. über NS-Planungen für eine faschistische Neugestaltung Afrikas , die Untersuchung von Victor Farías über Die Nazis in Chile und das Sonderheft der Südostasien-Informationsstelle über die Folgen des Zweiten Weltkriegs in einigen asiatischen Ländern anlässlich des 50. Jahrestags des Kriegsendes wurden zwar rezipiert und rezensiert, aber Debatten über die Rolle der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg und die möglichen Schlussfolgerungen für die Solidaritätsarbeit im Land der Kriegsverursacher ergaben sich daraus nicht. Dabei ist schon die zeitliche Begrenzung dieses Krieges auf die Jahre 1939 bis 1945 eurozentristisch. In Afrika begann der Zweite Weltkrieg 1935 mit dem Einmarsch der Italiener in Äthiopien. 1937 hatte Japan neben Korea bereits die Mandschurei besetzt und dehnte seinen Krieg gegen China nach Süden aus. Als die Achsenmächte 1945 endlich kapitulierten, war der Krieg in vielen Ländern der Dritten Welt auch noch nicht zu Ende. In Algerien massakrierten französische Truppen am 8. Mai 1945, der als "Jahrestag der Befreiung" bis heute in Frankreich gefeiert wird, Zehntausende Demonstranten, die für die Unabhängigkeit des Landes demonstrierten. In Hanoi rief Ho Chi Minh zwar schon nach der Kapitulation der japanischen Besatzungsmacht im September 1945 die Unabhängigkeit Vietnams aus, aber Frankreich und die USA versuchten, sie in einem dreißigjährigen Krieg wieder rückgängig zu machen. Auf den Philippinen setzten Partisanen, die nach dem Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte 1942 drei Jahre lang alleine den japanischen Besatzern Widerstand geleistet hatten, ihren Befreiungskampf 1945 nahtlos gegen die alten und neuen Kolonialherren aus den USA fort. Und auch in China endete der Krieg erst 1949 mit dem Sieg der revolutionären Volksarmee Mao Tse-tungs über die Truppen Chiang Kai-sheks.

Nazi-Kollaboration und Antinazismus

Allerdings waren die Kolonialisierten im Zweiten Weltkrieg nicht bloß Opfer. Einige nationalistische und antikoloniale Bewegungen in der Dritten Welt sympathisierten offen mit der faschistischen Kriegsallianz, und Hunderttausende Kolonialsoldaten zogen freiwillig für sie an die Front. So dünn die deutschsprachige Literatur zum Thema ansonsten auch ist, so vergleichsweise groß ist die Zahl der Beiträge, in denen das Verhalten von Kollaborateuren aus der Dritten Welt untersucht und nicht selten verteidigt wird.10 So suchen einige Autoren zum Beispiel zu entschuldigen, warum sich hohe arabische Politiker den Nazis angedient haben. Selbst die Auseinandersetzung mit der aktiven Beteiligung des höchsten palästinensischen Funktionärs jener Zeit, des Großmuftis von Jerusalem Amin al-Husseini, am Holocaust scheint manchen deutschen Islamwissenschaftlern und Teilen der Palästina-Solidarität eher lästig denn notwendig. "Asienexperten" ignorieren den faschistischen Führerkult, den Thailands langjähriger Militärdiktator Phibun in den vierziger Jahren aus Europa importierte, ebenso wie die Unterstützung der japanischen Kriegführung durch hochrangige Funktionäre der indonesischen Befreiungsbewegung. Und selbst der "Indischen Legion" der deutschen Wehrmacht können deutsche Autoren positive antikoloniale Züge abgewinnen, obwohl sich die dafür rekrutierten Inder 1944 in die Waffen-SS eingliedern ließen und für Massaker an der Zivilbevölkerung in Frankreich verantwortlich sind.
Die Verharmlosung der Kollaboration ist so frappierend, weil es in all den genannten Ländern auch antikoloniale Kräfte gab, die jede Kollaboration mit Faschisten strikt ablehnten und deren rassistische Politik anprangerten. Schließlich setzte das NS-Regime seine antisemitische Hetze und die Verfolgung von Juden auch auf anderen Kontinenten durch. Das reichte vom Verweis jüdischer Kinder von der Schule durch das Vichy­Regime in Algerien über Berufsverbote für jüdische Kolonialbeamte in Indochina bis zur Einrichtung eines jüdischen Ghettos im japanisch besetzten Shanghai und zu konkreten Plänen der deutschen NS-Funktionäre vor Ort, jüdische Flüchtlinge noch in China zu liquidieren.
Wer den politischen Eliten in den kolonialisierten Ländern unterstellt, sie hätten den Charakter des Faschismus nicht erkennen können, nimmt sie nicht ernst. Medien in aller Welt berichteten über den antisemitischen Terror in Deutschland und die mörderischen Folgen der japanischen Kriegführung. Am 17. Dezember 1942 veröffentlichten die Alliierten eine Erklärung in 23 Sprachen, um den Völkermord des NS-Regimes an den europäischen Juden weltweit bekannt zu machen. Selbst auf abgelegenen Inseln des Pazifik warnten Dorfchefs vor der Politik Hitler-Deutschlands. Antikoloniale Bewegungen, die mit den faschistischen Kriegstreibern kollaborierten und deren Politikmuster zu kopieren versuchten, tendierten auch in der Nachkriegszeit zu autoritären Organisationsformen. Ihre Vorstellungen von nationaler Unabhängigkeit klammerten die soziale und politische Befreiung aus. In Ländern wie dem Irak und Indonesien, Burma und Thailand bereiteten sie vielmehr langjährigen Militärdiktaturen den Weg.
Wenn dieser Artikel dazu beiträgt, Diskussionen über Zusammenhänge zwischen Kollaboration und autoritären Nachkriegsregimen in der Dritten Welt anzustoßen, wäre dies ein willkommener Nebeneffekt. In der Hauptsache geht es uns jedoch darum, das Schweigen über die Opfer der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg zu brechen, das nur den für den Krieg und für die kolonialen Abhängigkeitsverhältnisse Verantwortlichen nutzt. Denn eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema könnte für sie weitreichende Folgen haben: Würden die Opfer der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg anerkannt, könnten ihre Nachfahren die Kriegsverursacher zur Rechenschaft ziehen.
Wie der nigerianische Nobelpreisträger für Literatur, Wole Soyinka, in Bezug auf die Versklavung Afrikas geschrieben hat, ist jede Auseinandersetzung der Kolonialmächte mit ihrer Vergangenheit nur dann glaubwürdig, wenn sie bereit sind, ihre historische Schuld einzugestehen, die Konsequenzen zu tragen und Entschädigungen zu zahlen.11 Auch die Indienstnahme von Kolonialisierten im Krieg ist eine Form der Versklavung, die Soyinka als "Verweigerung der Freiheit des Handelns" und als "Leibeigenschaft, sei es des Körpers oder des menschlichen Willens" charakterisiert. In diesem Sinne verweigerten die Krieg führenden Staaten Millionen Menschen ihr "Menschsein", indem sie die Bevölkerung in den kolonialisierten und besetzten Ländern als Soldaten, Hilfsarbeiter oder auch Prostituierte zwangsrekrutierten. Der Umgang mit diesen vergessenen Kriegsopfern ist ein Beispiel für das, was Soyinka "Kultur der Straflosigkeit" nennt: Hinterbliebenen gefallener Kolonialsoldaten wurden Pensionen verwehrt. Zahllose Zwangsarbeiter und Zwangsprostituierte erhielten nie eine Entschädigung. Kriegsverbrechen wie die Massaker der deutschen Wehrmacht an afrikanischen Kolonialsoldaten in Chasseley, der französischen Streitkräfte an westafrikanischen Kriegsheimkehrern im senegalesischen Thiaroye und der Japaner an der Zivilbevölkerung im chinesischen Nanking blieben ungesühnt. Millionen Opfer von Hungerkatastrophen, die in Folge des Zweiten Weltkriegs in Nordvietnam, Bengalen und Ostafrika ausbrachen, sind vergessen. Für die Schäden, die sie mit ihrem Krieg in vielen Ländern Nordafrikas, Asiens, Ozeaniens und an der Küste Lateinamerikas anrichteten, haben die Verursacher aus den Achsenmächten nie angemessene Reparationszahlungen leisten müssen.
Aber auch die Alliierten verwehrten den kolonialisierten Ländern nach Kriegsende die Unabhängigkeit und rekrutierten weiterhin Kolonialsoldaten für ihre Kriege. Noch 1958 protestierten Vertreter afrikanischer Befreiungsbewegungen bei einer Konferenz in Ghana (der All-African PeopleÂ’s Conference in Accra) vergeblich dagegen, dass die Kolonialmächte "in ihrem schändlichen Machtpoker" noch immer afrikanische Soldaten "gegen ihre Brüder in Algerien, Kenia, Südafrika, Kamerun, der Elfenbeinküste, Rhodesien und am Suezkanal" einsetzten.12

Anerkennen statt beschweigen!

"Gewalt gegen ein Mitglied der menschlichen Gemeinschaft (ist) ein Gewaltakt gegen die gesamte Menschheit", schreibt Wole Soyinka13 und begründet so, dass den Kolonialmächten nach Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs nicht länger "globale Amnestie" gewährt werden dürfe. Tatsächlich listet das im Jahr 2002 verabschiedete Statut des Gerichtshofs als "Verbrechen gegen die Menschheit" auf, was Millionen Kolonialisierte im Zweiten Weltkrieg erdulden mussten: "Nötigung von Kriegsgefangenen oder anderen abhängigen Personen zu Diensten in den Streitkräften", "rechtswidrige Gefangennahme", "Vertreibungen", "zwangsweise Umsiedlungen", "Entzug von Grundrechten wegen der Zugehörigkeit zu bestimmten Bevölkerungsgruppen", "Tötung oder Verletzung unbewaffneter oder wehrloser Kombattanten", "Nötigung zur Prostitution", "Vergewaltigungen", "sexuelle Versklavung" und das "Aushungern von Zivilpersonen".
Würden diese Kriterien rückwirkend auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs angewandt, könnten Millionen Menschen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien Entschädigungen verlangen, um, wie es der nigerianische Schriftsteller Chinweizu formuliert, "instand zu setzen", was durch den Krieg zerstört worden ist, nicht nur "ökonomisch", "technologisch", "institutionell" und "politisch", sondern auch "sozial", "psychologisch", "organisatorisch" und "kulturell".
Würde der Beitrag der Kolonialisierten in der antifaschistischen Kriegsallianz endlich anerkannt, könnte dies zudem weitreichende Konsequenzen für die Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt haben. Schon deshalb wird das Thema von den für den Zweiten Weltkrieg Verantwortlichen und von den Kolonisatoren bis heute gleichermaßen hartnäckig verdrängt und verschwiegen.
Die Autorinnen und Autoren dieses Beitrags erheben nicht den Anspruch, die Folgen des Krieges für die Kolonialisierten bereits theoretisch einordnen und fertige analytische Schlussfolgerungen anbieten zu können. Vielmehr geht es uns darum, dafür zunächst einmal die nötigen Grundlagen zu schaffen und die wichtigsten empirischen Fakten sowie Aussagen von Zeitzeugen über die Kriegsfolgen für die Dritte Welt zur Verfügung zu stellen. Wir sind uns darüber im Klaren, dass dies nur ein erster, sicherlich unvollkommener Versuch ist, sich diesem Thema zu nähern. Wenn es andere dazu anregt, verbliebene Leerstellen zu füllen, Oberflächliches zu vertiefen und Allgemeines zu konkretisieren, wenn endlich eine wissenschaftliche, publizistische und politische Auseinandersetzung mit den dramatischen Folgen des Zweiten Weltkriegs für die Dritte Welt begänne, wäre das Ziel erreicht.

Anmerkungen

1) Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung der Einleitung unseres Buches "Unsere Opfer zählen nicht!" Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, hrg. von Recherche International e.V., Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg (www.assoziation-a.de) 2005. Über seine Entstehung und UnterstützerInnen informiert die Originalversion. Das rheinische journalistInnenbüro und Recherche International bieten Gruppen in NRW Veranstaltungen und Vorträge zum Buch bzw. zu ausgewählten Schwerpunkten an. Dabei entstehen auf Grund der Unterstützung der NRW-Stiftung Umwelt und Entwicklung keine Flyer-, Fahrt- und Honorarkosten.

2) Wir haben auf die geschlechtsneutrale Schreibweise mit Hilfe des Anhängsels "Innen" verzichtet, weil Formulierungen wie z.B. "KriegstreiberInnen" sprachlich eine Gleichstellung militärischer und politischer Verantwortlichkeiten von Männern und Frauen suggerieren, die es in der historischen Realität des Zweiten Weltkriegs nicht gab. Bei den Interviews für dieses Buch fanden sich eher Beispiele für das, was mancherorts unter dem Begriff "manliness" diskutiert wird und die fragwürdige Kriegsbegeisterung von Männern - auch aus unterdrückten Klassen und Ländern - meint, die trotz aller Gefahren und Diskriminierungen von ihren Fronteinsätzen nicht selten wie von sportlichen Wettkämpfen erzählen und die es mit " Stolz" erfüllt, siegreich daraus hervorgegangen zu sein. Die Autoren und Autorinnen haben sich stattdessen darum bemüht, an entsprechenden Stellen neben Männern auch Soldatinnen, Befreiungskämpferinnen, Partisaninnen oder Zwangsarbeiterinnen zu nennen.

3) Den Autoren und Autorinnen dieses Buches ist bewusst, dass der Begriff "Dritte Welt" problematisch ist, weil damit Länder von Zentralafrika bis in den Südpazifik trotz aller Differenzen als Einheit behandelt und sprachlich zwei Stellen unter der "Ersten Welt" eingeordnet werden. Allerdings ist der Begriff in der Literatur aus und über Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika nach wie vor gebräuchlich, und bislang gibt es unseres Wissens keine unstrittigen Alternativen. Auch Bezeichnungen wie "Peripherie" erheben die "Metropolen" sprachlich über den Rest der Welt. Wer von "Entwicklungsländern" schreibt, müsste zunächst die Frage beantworten, wer sich warum und wohin "entwickeln" sollte. Vom "Süden" im Gegensatz zu den Industrienationen des "Nordens" zu sprechen wäre ähnlich pauschal und zudem geografisch unrichtig, weil einige Länder, um die es in diesem Buch geht, zur nördlichen Hemisphäre gehören. Und der Begriff "Trikont" mag zwar auf die trikontinentale Konferenz zurück gehen, zu der Che Guevara Vertreter von Befreiungsbewegungen aus den drei ( !) Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika einlud, schließt jedoch sprachlich gleich ein ganzes Drittel der Welt aus, dem in diesem Buch ein gesondertes Kapitel gewidmet ist: Ozeanien. Die in anderen Zusammenhängen durchaus sinnvolle Empfehlung, Sammelbegriffe (auch für Kontinente) zu vermeiden und stattdessen die jeweils gemeinten Länder aufzuzählen, hätte dieses Buch an vielen Stellen sperrig, wenn nicht sogar unleserlich gemacht. So unbefriedigend es ist, von der "Dritten Welt" oder auch "Afrika " zu reden, so erwiesen sich doch alle uns bekannten Alternativen als ähnlich problematisch oder unpraktikabel.

4) Die wenigen verfügbaren Zahlenangaben über Opfer aus der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg unterscheiden sich zum Teil erheblich voneinander, da sie in der Regel nicht auf empirischen Untersuchungen, sondern auf Schätzungen beruhen, die zum Teil erst Jahrzehnte später angestellt wurden. In diesem Buch sind Hinweise auf divergierende Zahlenangaben, soweit bekannt, im Text oder in den Anmerkungen vermerkt.

5) Conombo, Joseph Issoufou: Souvenirs de Guerre dÂ’un ‘Tirailleur SénégalaisÂ’. Paris 1989. S. 15 ff.

6) Frankreich entdeckt D-Day zwei. In: taz, 14.8.2004.

7) Kümmel, Peter: Ein Volk in der Zeitmaschine. In: Die Zeit, 10/2004.

8) Das Buch "Ihr Leben in unserer Hand" von Howard Blum über die Geschichte der jüdischen Brigade im Zweiten Weltkrieg (München 2002), das auf Interviews mit drei jüdischen Veteranen aus Palästina beruht, ist die Ausnahme von dieser Regel. Über die englischsprachige Literatur zum Thema schreibt David Killingray in seinem Standardwerk "Khaki and Blue. Military and Police in British Colonial Africa" (Athens, Ohio 1989): "Die verfügbaren Geschichtsbücher kann man in vier Gruppen aufteilen: Skizzen über einzelne Regimenter, Zeugnisse einzelner Kampagnen und Schlachten, Studien über besondere Aspekte der Militärgeschichte und eine endlose Reihe von Studien über die modernen westafrikanischen Armeen in den unabhängigen Staaten" (S. 147).

9) Vgl. Grätz, Tilo: Die Anciens Combattants: Von lokaler Elite zur Vereinigung der Bittsteller. Zur sozialen und politischen Situation von Kriegsveteranen in Nordbenin. Und: Reinwald, Brigitte: Zwischen Imperium und Nation: Westafrikanische Veteranen der französischen Armee am Beispiel des spätkolonialen Obervolta. Beide in: Höpp, Gerhard; Reinwald, Brigitte (Hg.): Fremdeinsätze - Afrikaner und Asiaten in europäischen Kriegen, 1914-1945. Berlin 2000. Das Buch ist das Ergebnis einer Arbeitstagung, die am 11. und 12. Juni 1999 im Zentrum Moderner Orient in Berlin stattfand.

10) Beispiele dafür finden sich zum Nahen Osten in dem Buch "Jenseits der Legenden - Araber, Juden, Deutsche" von Wolfgang Schwanitz (Berlin 1994) und zur Indischen Legion in dem Sammelband von Gerhard Höpp und Brigitte Reinwald (Berlin 2000). Exemplarisch für die Versuche deutscher Wissenschaftler, die Kollaboration antikolonialer Bewegungen mit den Nazis zu rechtfertigen, ist die Dissertation von Jan Kuhlmann über Subhas Chandra Bose und die Indienpolitik der Achsenmächte (Berlin 2003). Der Autor behauptet zwar schon in der Einführung, den indischen Nationalisten Bose habe mit den Nazis außer der Feindschaft zu Großbritannien nichts verbunden, doch zahlreiche von ihm zitierte Dokumente beweisen das Gegenteil. Danach strebte Bose eine Synthese von Faschismus und Sozialismus an, schwärmte für die militärischen Erfolge der Wehrmacht, erhielt in seinem Berliner Exil eine Million Reichsmark für den Aufbau einer indischen Legion, die später der Waffen-SS eingegliedert wurde, und ließ seine Mitarbeiter den faschistischen Arbeitsdienst und die Hitlerjugend studieren, um Anregungen für die zukünftige Organisationsform eines unabhängigen Indien zu sammeln.

11) Soyinka, Wole: Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet. Düsseldorf 2001. S. 52.

12) All-African PeopleÂ’s Conference: News Bulletin, Vol. I, No. 4. Accra 1959. S. 1-2.

13) Soyinka, Wole: a.a.O., S. 129.

Die AutorInnen dieses Beitrags sind Albrecht Kieser, Gerhard Klas, Birgit Morgenrath und Karl Rössel. Sie sind JournalistInnen und arbeiten gemeinsam im rheinischen journalistInnenbüro köln.

Aus: Forum Wissenschaft 2/2005