Perspektiven jenseits der Formel, dass Geld integriert

Einleitung zu spw 142

Wie ist es zu erklären, dass es kaum dauerhafte Gegenwehr zur momentanen Politik gibt, obwohl die soziale Polarisierung zunimmt und immer mehr lebendige Arbeitskraft ausgegrenzt wird? Ist unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung gesellschaftliche Integration ein realistisches Ziel? Kann das Demokratieprinzip im jetzigen Zustand gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern? Welche, auch inhaltlichen, Bedingungen müssen erfüllt sein? Auf der Linken spielt immer noch die allgemeine Sozialismusdefinition des Ausspruchs der Assoziation der Freien und Gleichen, die gemeinsame Sache selbst zu regeln, eine Rolle: Integration durch Selbstentscheidung. Dazwischen steht die Genügsamkeit des parlamentarischen Regierungssystems, dass der erforderliche Zusammenhalt ohne Reform zu sichern sei: So stellt der Historiker Götz Aly die provokante These auf, die man zugespitzt in der Aussage zusammenfassen könnte, dass der deutsche Sozialstaat bislang funktioniert habe, weil ausschließlich Geld (als Grundlage jedweder sozialen Transferleistung) integriere, das immer zur Verfügung gestellt worden sei und erfolgreich Zustimmung erzeugt habe.
Wir gehen davon aus, dass Demokratie als die wirksamste Form gesellschaftlicher Integration zu verstehen ist, die auf der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an den für sie relevanten gesellschaftlichen Entscheidungen basiert. Weiterhin gehen wir davon aus, dass diese Beteiligung die öffentliche Meinungs- und Willensbildung voraussetzt, um die der Gesellschaft inhärenten sozialen Konflikte auszugleichen und die Institutionen an die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu binden. Es ergibt sich die Frage, ob der gegenwärtige gesellschaftliche Entscheidungsprozess dem gerecht werden kann oder ob es dazu verbesserter oder neuer Formen demokratischer Partizipation bedarf.
In unserem Schwerpunkt "Partizipation und Demokratie" wollen wir die Erfordernisse einer neuen Anstrengung, "mehr Demokratie" zu "wagen", zur Diskussion stellen. Ein Anknüpfen an Willy Brandts Vision muss jedoch die geänderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen in die Diskussion einbeziehen. Damit setzen wir unsere Diskussion über die Veränderung des politischen Systems fort, wie wir sie z.B. in unseren Schwerpunktheften 103 "Macht-Demokratie-Protest" (5/1998), Heft 110 "Politik im Wandel" (6/ 1999), 129 "Politik und Identität (1/2003) oder jüngst in Heft 139 "Sozialer Protest und Politik" (4/2004) sowie Heft 140 "Macht und Hegemonie" (5/2004) geführt haben.
Das Nachdenken muss auf der Basis veränderter Rahmenbedingungen stattfinden: · Die Organisationen, die Akteure der Demokratisierung im politischen System der Bundesrepublik sind (oder waren?), befinden sich in einem krisenhaften Veränderungsprozess.
Weder Parlament noch Parteien noch andere gesellschaftliche Großorganisationen wie Gewerkschaften oder Kirchen werden von denen, die jetzt "mehr Demokratie wagen" wollen, als die bestimmenden Elemente eines Demokratisierungsprozesses akzeptiert.
· Die stärker auf Individualisierung basierende Motivation der möglichen Akteure einer auf Partizipation gerichteten Debatte führt dazu, dass intransparente, korporatistisch erzielte Konfliktausgleiche nicht akzeptiert werden. Auch die auf korporatistischen Interessenausgleich basierenden, gesellschaftlich relevanten Politikentscheidungen der alten Bundesrepublik, die weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefasst wurden, bröckeln inhaltlich und in der Akzeptanz.
Dasselbe gilt für demokratieferne Entscheidungen des EU-Ministerrats oder anderer internationaler Institutionen wie WTO, IWF oder Weltbank.
· Die veränderte Medienlandschaft erschwert die Entwicklung eines vernunftgeleiteten öffentlichen Diskurses. Einen öffentlichen Diskurs gibt es zwar, doch ist dieser dominiert von einer an der Medienlogik orientierten Verwertung, so dass die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen und individuellen Wirklichkeit verdrängt wird oder wiederum als mediale Pseudo-Vertretung in Wert gesetzt wird.
· Die Integrationsfähigkeit des wohlfahrtsstaatlichen Konsenses der Geschichte der Bundesrepublik hat schon lange an Kraft verloren, ohne dass ein neues integrierendes Politikmodell in Sicht wäre - abgesehen von einer neuem nationalpolitisch orientierten Identifikation, die langsam in der Bundesrepublik Fuß zu fassen scheint.
· Die Parlamente sind immer weniger Träger der Politik, da sie Entscheidungsbefugnisse immer stärker an internationale Institutionen und v.a. an die EU abgeben.
Es findet keine Rückkopplung an die abgebenden Parlamente statt, die keine Kompensation für die stückweisen Abtretungen an Souveränität erhalten und so den Rückhalt verlieren, da die nur scheinbaren Entscheidungsträger depolitisiert, die neue Entscheidungsebene aber nicht sichtbar politisiert wird.
· Gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten fallen der allgemein herrschenden neoliberalen Argumentationsstrategie zum Opfer, nach der Demokratie an Leistung gebunden sei und in harten Zeiten den Â’wichtigenÂ’ Entscheidungsträgern der Vorzug zu geben sei.
· Im gesellschaftlichen Bewusstsein finden Differenzierungsprozesse im Hinblick auf politische Beteiligung statt; es wird in bestimmten Gruppen eine verstärkte Bereitschaft zur Diskussion und zur eigenen Einbringung festgestellt: 1. Die Beteiligung an Wahlen sinkt kontinuierlich.
Das gilt insbesondere für Wahlen auf unteren Ebenen, aber auch für Europawahlen.
Dies liegt offensichtlich an der Einschätzung der eigenen Bedeutungsbeimessung des Urnengangs, denn Landtagsoder v.a. Bundestagswahlen finden eine höhere Beteiligung. Sie werden im Sinne einer Entscheidung über die Regierung als der wichtigsten politischen Entscheidungsgewalt für wichtiger gehalten. Wähler entscheiden sich öfter kurzfristiger oder für die Wahlenthaltung, dennoch bleiben generelle Wertunterscheidungen zwischen den Parteien weiterhin bestehen.
2. In einer Gesellschaft mit abgespaltenen Armutszonen und dauerhaft ausgegrenzten Bevölkerungsteilen eskalieren die sozialen Konflikte bis an die Grenzen jener Gemeinsamkeit, auf deren Basis öffentliche Meinungs- und Willensbildung ausgetragen und gesellschaftlich ausgehandelt werden können. Diese größer werdenden Potenziale neigen zu Wahlenthaltung aufgrund der fehlenden Politikangebote der Parteien, sind aber durchaus kurzfristig für Kampagnen aktivierbar.
Aus den dargestellten Aspekten ergeben sich zwei Schlussfolgerungen: Es gibt keinen Königsweg zur Entwicklung einer die Gesellschaft integrierenden Demokratie; eine Diskussion um mehr Demokratie und Beteiligung ist ohne die Entwicklung inhaltlich integrierender wie soziale und ökologische Demokratie nicht wirksam.
Eine von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebene Studie der Forschungsgruppe Wahlen analysiert das Politikverhalten der Bürgerinnen und Bürger, die aus Skepsis gegenüber den Kompetenzen der politischen Institutionen zu anderen Formen politischer Partizipation neigen.
Sie halten die Demokratie für die beste Staatsform, schätzen die persönlichen Beteiligungschancen für eher mäßig bis schwach ein. Allerdings schreiben sie sich stärker als bisher (36 statt 14% vor zehn Jahren) starke bis sehr starke Möglichkeiten zu, sich in nicht traditionellen Formen politischen Einfluss zu nehmen. Als Formen der Partizipation werden dann jedoch die ältesten Formen genannt, die wir kennen: die bürgerliche Vereinigung in Form vom Bürgerinitiativen, die Unterschriftensammlung (als eine Form der Petition) und die direkte Form des Straßenprotestes.
Für Gewerkschaftsmitglieder behalten - wie zu erwarten? - die Tarifautonomie und alle Formen der betrieblichen Mitwirkung einen hohen Stellenwert.
Einen hohen Wert hat für Viele die Frage, wie das Machtmonopol der Besetzung der öffentlichen Agenda für bestimmte Forderungen aufgebrochen werden kann. Für Viele ist auch wichtig, dass der Sachverstand der Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungen einbezogen werden kann, da der Kompetenz der verschiedenen Akteure aus Politik, Unternehmen und Verbänden nicht getraut wird, abgesehen von der wissenschaftlichen Legitimation.
Vor diesem Hintergrund wollen wir in den Schwerpunkt-Beiträgen dieses Heftes verschiedene Beteiligungsformen und Partizipationsperspektiven auf verschiedenen Ebenen der politischen Entscheidungsorte thematisieren.
Zunächst macht sich Detlev Sack jedoch auf die Suche nach einer spezifischen Klientel in der Wählerstruktur. Er findet eine Spezies, die sich politisch interessiert und eine nach dem Erlahmen in den 80er Jahren eine neue Bereitschaft zum gesellschaftspolitischen Engagement zeigt. In diesem Sinne soll gleich zu Beginn ein positiver Punkt in dieser Diskussion gesetzt werden, die herkömmlicherweise eher zur Schwarzmalerei neigt. Und auch in unseren weiteren Beiträgen ist diese skeptische Sichtweise auf momentane Situation und die folgenden Aussichten nicht von der Hand zu weisen.
Ulrich Bröckling macht dazu einige zivilgesellschaftliche "Gleichgewichtsübungen".
Er untersucht mit analytischen Maßstäben der Gouvernementalität die harmonisierende Denkweise von Zivilgesellschaft als einer Strategie der sozialen Disziplinierung auf individualisierter Ebene und entkleidet dabei das Gerüst der Zivilgesellschaft als ein neues universales Normenprogramm mit metaphysischen Qualitäten.
Klaus Moegling und Horst Peter untersuchen Partizipation dann in der erweiterten Perspektive der Globalisierung. Sie fragen nach der demokratischen Tauglichkeit des Modells der global governance unter dem Brennglas der politischen Nachhaltigkeit. Daran schließen sich zwei Beiträge an, die sich mit spezifischen Partizipationsverfahren beschäftigen.
Zunächst folgt der Beitrag Hermann K., Keußners, der direktdemokratische Prinzipien als Gegenmaßnahme drohender "Demokratieverdrossenheit" in der Bundesrepublik betrachtet und bei den Verfahrensmöglichkeiten Risiken und Potenziale der Volksgesetzgebung abwägt.
Reinhard Bockhofer und Erich Röper zeigen auf, inwiefern das Petitionsrecht von einem eher zahnlosen Tiger zu einer erweiterten Teilhabe durch die Verfahren der Massenpetition, Volksinitiative oder auch des Bürgerantrags entwickelt werden kann, also gewissermaßen als Vorstufen zu einer Volksgesetzgebung fungieren könnten.
Björn Egner und Georgios Terizakis blicken aus der Vogelperspektive auf eine andere Form demokratischer Selbstorganisation, dem Netzwerk. Am Beispiel von Umweltgruppen in Griechenland zeigen sie empirisch die (politisch erfolgreiche) Funktionsweise von Netzwerken in diesem Politikfeld, um eine optimistische Sicht auf die Chancen zivilgesellschaftlicher Organisation zu entwerfen. Die Beiträge von Kai Rogusch, der sich mit der europäischen Perspektive befasst, und Edgar Göll, der sich auf die kommunale Ebene mit der Entwicklung der Lokalen Agenda 21 auseinandersetzt, schließen den Schwerpunkt mit gemischten Gefühlen ab: Während die Vorgänge auf der supranationalen Ebene auch Optimisten verzweifeln lassen und Rogusch angesichts der allgemeinen politischen Erschöpfung der Europapolitik zum Nachdenken über eine tatsächliche Verwirklichung von Beteiligungsformen aufruft, erblickt Göll in der nachhaltigen Entwicklung auf kommunaler Ebene trotz skeptischer Analyse einen positiven Hoffnungsschimmer. Fragt sich zuguterletzt nur noch, wie Medien undemokratisch gesteuert werden und wie die demokratische Gegensteuerung aussehen könnte.

Dr. Anja Kruke, Historikerin, Mitglied der spw-Redaktion, lebt und arbeitet z.Z. in Hamburg Horst Peter, Vorsitzender des Vereins zur Förderung von Demokratie und Völkerverständigung e.V. und Sprecher der spw-Herausgeber, lebt in Kassel