Wie mit Meinungsforschung Meinung gemacht wird
Die Meinungsforschung scheint als das Maß aller politischen Dinge. Was heißt das für die Formulierung politischer Positionen und ihre Legitimation, ihre Durchsetzung in der Öffentlichkeit?
Wir konnten es gerade wieder in aller Ausführlichkeit beobachten: Die Meinungsforscher treten als Herren der Lage auf, die Daten sind das Maß aller politischen Dinge. Regelmäßig vor Wahlen suchen sie auch die Leser/Zuschauer, die sich ansonsten für die monatlichen Daten wenig interessieren, heim. Es wird gezählt, gewichtet und gedeutet. Welche Rolle spielt Hartz IV in den Landtagswahlen, welche in den Kommunalwahlen? Welches Thema ist wichtig, welche Person? Diese und anderen Fragen prasselten in den letzten Wochen des diesjährlichen Wahlmarathons auf uns herab.
Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, inwiefern sich eine solche "Mathematisierung der Politik" auf den politischen Prozess auswirkt. Wenn alle am politischen Geschehen beteiligten Akteure (Parteien/Politiker, Medien/Journalisten, Zuschauer/Leser) sich an diesen Prozentzahlen orientieren, was heißt das dann für die Formulierung politischer Positionen und ihre Legitimation, ihre Durchsetzung in der Öffentlichkeit?
Parteien und Meinungsforschung
Zunächst einmal ist es jedoch notwendig, sich die Position der Meinungsforschungsinstitute zwischen Parteien und Medien vor Augen zu führen. Parteien beschäftigen seit den fünfziger Jahren Institute, die ihnen die Zahlen liefern. Seitdem ist die messtechnische Beobachtung der öffentlichen Meinung aufs Engste mit ihrer Bearbeitung verknüpft - Zahlen werden als Mittel der Steuerung öffentlicher Meinung begriffen und eingesetzt. Die Parteien verlassen sich dabei nicht nur auf ein Institut; zumeist verfügen sie über ein "Hausinstitut", vergeben aber auch anderweitig Aufträge und sammeln Daten. Die Medien verfahren ähnlich: Seit den achtziger Jahren haben sich Kooperationen verschiedener Medien mit Instituten herausgebildet, d.h. ein Institut arbeitet für verschiedene Medien. Gleichzeitig sind fast alle der Institute, die politische Demoskopie betreiben, auch beim Bundespresseamt für regelmäßige Umfragen unter Vertrag. Allein das Presseamt gibt jährlich knapp zwei Millionen Euro für Meinungsforschung aus. Fast jedes Institut, das politische Meinungsforschung betreibt - und das tun längst nicht alle Umfrageinstitute -, bedient mit seinen Umfragen das Presseamt, so dass sich die Auftraggeber in vielen Fällen überschneiden. Zumeist wird jedoch die so genannte Sonntagsfrage (und was sonst dazugehört: Aufgliederung nach diversen Kategorien, damit zusammenhängende Frage) eingekauft. Der Vorteil, den die Auftraggeber trotz Überschneidung erhalten, ist ein zeitlicher Vorsprung vor der Veröffentlichung (also einer möglichen Vorbereitung von Reaktionen) sowie die Möglichkeit, damit zusammenhängende Fragen zusätzlich stellen zu lassen. Damit operiert die Meinungsforschung in beiden Bereichen, Politik wie Medien, gleichermaßen. In beiden Sphären beruft sie sich auf die Objektivierbarkeit von öffentlicher Meinung in Zahlen und ihrer Wissenschaftlichkeit. Beide Aspekte reichen zwar nicht aus, um die Meinungsforschung unangreifbar zu machen, aber sie garantieren ihr einen argumentativen Vorzug gegenüber anderen Ansichten, die nun auf einzelne, verzerrte Meinungen reduziert werden können. Wenn z.B. innerhalb der SPD bestimmte inhaltliche Aspekte und die Vorgehensweise diskutiert werden und Mitglieder auf eine bestimmte Sichtweise beharren, werden Umfragedaten dazu genutzt, die Meinung dieser Mitglieder als "Ingroup", als eine verzerrte Wahrnehmung gegenüber der allgemeinen (öffentlich messbaren) Wahrnehmung zu entwerten. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie sehr Daten der Umfrageforschung ein gängiges Mittel politischer Auseinandersetzung darstellen. Doch wird hier die spezifische Funktion einer auf diese Art erfolgenden Hierarchisierung von Beobachtung deutlich: Während die aktiven Mitglieder Politik betreiben, können sie sich gerade deswegen jedoch nicht zuverlässig selber beobachten, eben weil sie nicht außerhalb der Partei stehen und sich und ihre Arbeit entsprechend betrachten können. Die Meinungsforschung dient damit als ein zuverlässigeres Mittel der Selbstbeobachtung als es die Mitglieder selber können: Die Demoskopen beobachten also für die Parteien, wie die Wähler die Parteien beobachten und die Parteien erhalten darüber Rückschlüsse auf sich selbst - manchmal werden die Daten anschließend auch intern oder extern als Werkzeug eingesetzt. Jedoch erhalten auch die Medien diese Daten (zumindest einen großen Teil, den sie ja ebenfalls bezahlt haben) und geben sie ebenso in spezifischer, interpretierte Form weiter: Vor allem die Printmedien berichten in den meisten Fällen verkürzt und geben die grundlegenden Daten zum Verständnis der Umfrage nicht an, übrigens im Gegensatz zu ihren Journalistenkollegen in den USA, wo der Kodex der Umfrageberichterstattung sich durchgesetzt hat.
Der Wähler im Fokus?
Was für Rückschlüsse ziehen die Parteien, was bedeutet diese Transparenz der Beobachtung für die Medien und vor allem für die Wählerschaft?
Zunächst einmal zu den Parteien: Sie haben in einem langen Lernprozess begriffen, dass Medien in gewissen Eigenlogiken funktionieren, dass sie ökonomischen Strukturen folgen, die an den Verkaufserfolg und damit an bestimmte Prinzipien der "Aufmerksamkeit", die man auch als Nachrichtenwerte beschreiben kann, wie z.B. Christiane Leidinger das in der letzten Ausgabe der spw getan hat, gebunden sind. Dementsprechend versuchen sie, Themen zu setzen und darüber, dass sie demoskopische Daten antizipieren, öffentliche Meinungsbildung zu steuern. Soviel ist zum grundlegenden Modell zu sagen - wenn das wirklich klappen würde, hätten sich einige Leute bestimmt vor dem Sommer allein über die semantischen Aspekte von Hartz IV bereits Gedanken gemacht. Grundsätzlich bleibt jedoch festzuhalten, dass die Strukturen der Medienberichterstattung begriffen wurden und Parteien sowie häufig einzelne politische Akteure versuchen, das auszunutzen. Damit betreiben Parteien wie Medien in einem gewissen Sinne das gleiche Geschäft, denn während Medien auf News bedacht sind, ist den Parteien an einer Zustimmungsmaximierung gelegen, die sich halt nur öffentlich erzielen lässt. Damit befördern die Parteien selbst aktiv die Personalisierung und Schlagwortorientierung der Politik. Die Meinungsforschung avanciert zu einem Element der strukturellen Kopplung zwischen Medien und Politik, da sie sowohl der Politik (und dabei zu beachten: allen Parteien gleichermaßen) als auch den Medien/Wählern die Maßstäbe der Bewertung in die Hand drückt: die Kuchengrafiken und Balkendiagramme der Zustimmung. Die Abbildung fordern zur Identifizierung, Stellungnahme, Abgrenzung heraus - jeder kann sich symbolisch beteiligen und in der Umfrage wiederfinden. Das, was jedoch nicht gefragt oder als Antwort angeboten wird, existiert nicht.
Diese Vereinfachung von Politik führt jedoch nur scheinbar zu einer Vereinfachung der Handlungs- oder Entscheidungsoption für die Politik: eher das Gegenteil ist der Fall. Es sieht zwar einfacher aus, aber die Interpretation und die Schlüsse aus den Ergebnissen sind umso komplizierter, weil nun mit viel sozialpsychologischer Fachkenntnis daran gearbeitet wird, wie das Ganze zu bewerten sei. Handlungsoptionen werden so zu einem Würfelspiel, Entscheidungen zu einer Risikoabwägung ihrer Folgen: Welche Wählergruppe verliert man, wo gewinnt man hinzu, was ist an Nebenfolgen einer Entscheidung zu beachten. Aus dieser Perspektive werden Nachrichtenwerte zu etwas Verlässlichem: Personen und bestimmte Einzelthemen als Aktualitätswerte werden in den Vordergrund gestellt. Abstrakte Fragen von Vertrauen und Glaubwürdigkeit drängen parallel in den Vordergrund der Selbstdarstellung. Daran schließen sich Fragen, wie man so etwas an den Wähler/die Wählerin bringt, an. Spätestens hier wären wir bei den seltsam anmutenden Stilisierungen von Politikern angekommen, bei den offensichtlichen Versuchen, in der Öffentlichkeit persönliche Images mit Themen zu verbinden. Prominentestes Beispiel wäre hier als gezielte Stilisierung sicherlich Hans Eichels zum "Sparfuchs" zu nennen. Ein gezielter Imagewandel zur Unterstützung der Regierungspolitik ist sicherlich die Spitze, aber ganz generell ist zu fragen, inwiefern die Personifizierung von Repräsentation, die eben durch die Kategorienbildung der Meinungsforschung mit gefördert wird, zu einer weiteren zielgruppenspezifischen Abbildung in Politiker-Personen führt. Gute Listenplatzierungen von MinderheitenvertreterInnen sind sicherlich auch inhaltlich voll vertretbar, aber anscheinend verdrängt personelles Image als Repräsentation von wie auch immer konstruierten Zielgruppenidentitäten parteipolitischen Images in zunehmenden Maße. Dass aber nun aus Partei-Repräsentanten Polit-Boygroups werden, ist in nächster Zeit wohl doch nicht zu befürchten.
Die "Regeln" der Meinungsbildung
Ein anderer zentraler Aspekt der Rolle der Meinungsforschung für die politische Kommunikation besteht in den von den Demoskopen aufgestellten "Regeln" Meinungsbildung und Entscheidung bei der Wählerschaft: Wer war noch nie genervt von der ewigen Rede eines "Kopf-an-Kopf-Rennens"? Dies ist eine der beliebtesten Bauernregeln der Meinungsforschung, da sie auch so gut als Nachrichten vermarktbar ist. Mal dient sie (auch innerparteilich) dazu, die Leute gegen eine eigentlich Übermacht zu mobilisieren, mal dient sie dazu, eine allzu gewisse Wahlentscheidung zu vernebeln. Je nach Bedarf können so Regeln angewandt werden, um Wahlentscheidungen in die eine oder andere Richtung drängen zu wollen oder nachträglich zu rechtfertigen. Genauso gibt es Regeln, die sich von Daten ableiten lassen, die sich auch parallel in der Medienöffentlichkeit wiederfinden. Eine der wichtigsten Regeln ist die, dass es an der Glaubwürdigkeit der Politiker liegt, ob sie gewählt werden und dass diese Glaubwürdigkeit an bestimmte, demoskopisch erfassbare Merkmale geknüpft ist. In den vielfältigen "Persönlichkeitsprofilen" von Politikern, die sich in den Umfragen aus zehn oder 15, häufig adjektivisch bezeichneten gegensätzlichen Eigenschaften ausdrücken (entschlossen/nicht entschlossen etc., auch als Skalenabfragen von 1-5), kann man dann herauslesen, wie ein Politiker aufzutreten hat, wenn er glaubwürdig und damit wählbar sein will. Manchmal taucht in diesen Profilen auch etwas auf, dass auf die Verlässlichkeit abzielt oder etwas, dass "Authentizität" zu einem Faktor macht. Das sind nun nicht gerade Eigenschaften, auf die man vielleicht nicht ohnehin gekommen wäre, aber in Kombination mit Themen (dazugehörigen Untersuchungen) und aktualpolitischen Debatte erfahren diese Punkte eine neue Aufmerksamkeit: Dann nämlich, wenn es gar nicht gut um die Profile und Prozentpunkte bestellt ist.
Sozialer Protest in der mediale Dramaturgie
Ein solches Phänomen kann man im Moment in der Öffentlichkeit gut beobachten: Insbesondere im Zusammenhang mit den Protesten in Bezug auf Hartz IV, aber auch schon zuvor in Bezug auf die Agenda 2010, wurde immer wieder auf die Frage der Standfestigkeit, der Verlässlichkeit verwiesen. Hier wird Widerständigkeit gegenüber der populären Meinung zu einem gewinnenden Aspekt der politischen Kommunikation gemacht. Diese auf "Führung", "Durchsetzungsvermögen" und "starke Persönlichkeit" zielenden Kommunikationen erinnern eher an autoritative Vorstellungen von Meinungsbildung, sind aber dennoch nicht von der Hand zu weisen und müssen, so scheint es, bedient werden. Und an dieser Stelle spielen dann auch die Medien eine Rolle: Zunächst wurden die Proteste im Osten abgetan oder ignoriert, dann plötzlich im Sommer aufgenommen und zu einem wichtigen Thema gemacht, bis schließlich mit den Auftritten Lafontaines ein Kulminationspunkt erreicht wurde, der nur noch durch reaktives Regierungshandeln gesteigert werden konnte.
Neben dem Fakt, dass diese Handlung als Placebo vollzogen wurde, steht die Beobachtung, dass danach sich das Blatt zu wenden begann und die Protestler abgestempelt und de-legitimiert wurden, gleichzeitig aber die zuvor in die Defensive gedrückte Regierungspolitik als richtig erscheint, gerade in ihrem immer wieder explizierten Willen durchzuhalten, da man die getroffene Entscheidung für richtig hält. Sicherlich dürften genügend "Nachbesserungen" aus der Vergangenheit zu diesem Verhalten beigetragen haben, aber auch die demoskopische Regel, dass bewusst eingegangene oppositionelle Entscheidungen gegenüber der Bevölkerungsmehrheit später zu einer umso stärkeren Zustimmung geführt haben. Das hat vielleicht auch ein Berater beim Blick auf die Geschichte anderer sozialstaatlicher Veränderungen wie z.B. der Einführung der dynamischen Rente entdeckt .. Das hieße, dass Glaubwürdigkeit im sichtbaren Durchhaltewillen, also auch einer bewussten Opposition gegenüber der Mehrheitsmeinung bestünde, die auf eine Bestätigung durch die Zeitläufe zielt oder besser: hofft. Doch dazu wäre vielleicht auch ein anderes Medienensemble und eine geringere Kurzatmigkeit vonnöten. Wir leben heute nicht mehr in den (massenmedial ganz anders gelagerten) fünfziger Jahren. Heute sind Medien tendenziell selber politische Akteure, wenn auch nicht auf Seiten einer der Parteien (oder zumindest nicht direkt).
Medien tendieren eher dazu, den politischen Willen des Bürgers stärker gegen die Politik in Stellung zu bringen, wie man es immer wieder am Schlagwort der Staats- und Politikverdrossenheit sehen kann. Diese Stichworte sollen eine allgemeine Desintegration bezeichnen, die bei den letzten Wahlen mit den Erfolgen der Rechten im Osten mit demoskopischen Daten zur Ablehnung der Demokratie unterstützt wurden. Dass dabei medial nur bestimmte Daten Verwendung fanden und andere Fragen, die ein positive Einstellung gegenüber der Demokratie als richtiger Staatsform zeigen, ignoriert wurden, wie es z.B. in Giovanni di Lorenzos Leitartikel der ZEIT nach den Wahlen von Sachen und Brandenburg zu beobachten war, passt wiederum in das Bild der medialen Strategie, die Proteste zunächst "hoch zu schreiben", um sie nach einer bestimmten Phase als Protagonisten der News fallen zu lassen oder sogar "niederzuschreiben". Dabei helfen Umfragedaten ungemein. Sie erfüllen damit eine äußerst ambivalente Rolle zwischen Information und Desinformation.