Verweigerung und die autoritäre Reorganisation des Neoliberalismus
Der Beitrag entstammt der Ausgabe zu „Klassenkampf und Klassenpolitik“ des *prager frühling. Dieser Beitrag wie auch alle anderen Beiträge sind auf der Webseite des Magazins frei zugänglich.
Die globale politische Konjunktur ist uns gerade alles andere als freundlich gesinnt. In den Jahren nach der Finanzkrise von 2007/08 hatten sich bedeutende Kämpfe entwickelt — so etwa der Zyklus der Protestcamps und Besetzungen öffentlicher Plätze oder die Auseinandersetzungen um die Austeritätspolitik in Europa, um nur zwei Beispiele zu nennen. Nun ist es nicht so, dass Kämpfe und Bewegungen heute gänzlich fehlen würden. Doch sind wir in vielen Teilen der Welt mit Versuchen konfrontiert, eine konservative Stabilisierung durchzusetzen, die Nationalismus und Autoritarismus mobilisiert, um, verbunden mit einer disziplinären Wendung, die Kontinuität neoliberaler Politik zu sichern. Ob in Russland oder in den Vereinigten Staaten, in China oder Lateinamerika, in der Türkei oder in Ägypten, es ist leicht, Beispiele für eine solche Tendenz in einem globalen politischen Zyklus zu finden. Die aktuelle Situation in Europa ist in diesem Rahmen zu sehen, und auch wenn zweifellos die jeweils spezifischen Bedingungen in bestimmten Regionen und Ländern eine Rolle spielen, lassen sich die Vorzeichen eines konservativen Stabilisierungsprojekts für den gesamten Kontinent deutlich erkennen. Für dieses Projekt stehen die Gesichter von Rajoy oder Macron genauso wie das Antlitz der großen Koalition. Seinen besonderen Charakter aber bekommt dieses Projekt durch die wechselseitige Beziehung zum «Rechtspopulismus».
Wie lässt sich diese globale Konjunktur interpretieren? Natürlich muss eine genaue Analyse die Besonderheiten verschiedener Ausgangslagen berücksichtigen. Allerdings lässt sich die Hypothese formulieren, die Krise von 2007/08 habe zu einer Erschöpfung der klassischen Formen neoliberalen Regierens, wie wir sie seit den frühen 1990er Jahren kannten, geführt. Elemente wie das Ideal des unternehmerischen Selbst, das Funktionieren öffentlich-privater Partnerschaften, die Betonung des Wettbewerbs sind dabei nicht verschwunden, sondern werden in der politischen Rhetorik wie auch in Steuerungsprozessen neu kombiniert. Diese zielen darauf ab, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu reorganisieren, und setzen zu diesem Zweck auf letztlich recht traditionelle Formen von Disziplin und Hierarchie. Der Neoliberalismus nimmt so ausgesprochen autoritäre und nationalistische Züge an, insbesondere in Ländern, die regional oder im kontinentalen Maßstab eine führende Rolle anstreben. Die globale Tendenz einer deutlichen Zunahme von Ungleichheit findet in solchen Mustern ein Dispositiv der Einhegung und – letzten Endes – Regierbarkeit.
Im Gegensatz zu dem, was die Verfechter eines «linken Populismus» glauben, halte ich es nicht für möglich, innerhalb eines solchen Dispositivs zu agieren; weder lassen sich so Belange «einfacher Leute» vertreten, noch eine «progressive» Gesellschaftspolitik verfolgen. Die Kritik an jeder Form von Nationalismus bleibt eine politisch entscheidende Aufgabe. Doch darüber hinaus bestimmt sich das, was ich als Kombination von Neoliberalismus und Nation skizziert habe, heute in vielfältiger und veränderlicher Weise innerhalb der rigiden, durch die Verwertung und Akkumulation des Kapitals gezogenen Grenzen. Die Ära des Fordismus gehört, es wurde schon oft darauf hingewiesen, seit Jahrzehnten der Vergangenheit an, und der Bruch betrifft ebenso das Paradigma des industriellen Kapitalismus im Allgemeinen – doch hält ein großer Teil der Linken, vor allem in Europa, unbeirrt an den Bedingungen jener Epoche fest, um davon ausgehend sowohl das Subjekt sozialer Veränderung, die «Klasse», als auch die gesellschaftlichen Alternativen zu denken, seien diese nun «reformistisch» oder «revolutionär». Nicht zu übersehen ist indes heute die avancierte Rolle, die, in der Gesamtstruktur des Kapitalismus, solche Prozesse der Kapitalverwertung spielen, die (etwa in der Finanzsphäre oder in der Logistik, um nur zwei besonders signifikante Beispiele zu nennen) den Wert unmittelbar der gesellschaftlichen Kooperation extrahieren – und dabei jede Vermittlung überspringen. Es sind vor allem derartige Prozesse, die den sich abzeichnenden Formen des Zusammenspiels von Neoliberalismus und Nationalismus – und der Rolle des Staates in diesem Zusammenspiel – präzise Grenzen setzen.
Welche spezifische Form die konservative Stabilisierung auch annehmen mag, sie wird dadurch bestimmt sein, dass sie Räume von Freiheit und Gleichheit minimiert, den Status quo und bestehende Machtverhältnisse zementiert und die Demokratie weiter untergräbt, indem sie sie auf einen formalen Schein reduziert. Es geht also darum, effektive Wege zu finden, Beschränkungen zu durchbrechen, in spezifischen Situationen zu handeln, aber gleichzeitig darauf zu setzen, dass vereinzelt Risse in der Struktur der konservativen Stabilisierung globale Kettenreaktionen auslösen und eine neue Konjunktur eröffnen können. Einmal mehr stellt sich die Frage nach dem Subjekt, das den Bruch herbeiführen kann. Können wir dieses Subjekt «Klasse» nennen? Meiner Überzeugung nach ist dies nicht nur möglich, sondern sogar notwendig. Aber dazu müssen wir uns vom traditionellen Bild der Klasse verabschieden, das zu guten Teilen auf der Erfahrung der Fabrik und den Traditionen der Arbeiterbewegung beruht. Die Erfahrung der Ausbeutung ist heute in hohem Maß breiter und vielfältiger, sie umfasst bestimmte Arten «klassischer» Arbeitsverhältnisse, aber auch die Bekanntschaft mit komplexen Netzwerken der gesellschaftlichen Kooperation; und in den Blick geraten und hinterfragt werden müssen ebenso die Grenzen und Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Handarbeit und intellektueller Arbeit, «produktiver» und «nicht produktiver» Arbeit. Zweifellos wäre eine viel genauere Analyse nötig, um das Feld der Ausgebeuteten besser zu bestimmen. Aber dessen ungeachtet lässt sich feststellen, dass nur aus diesem zutiefst heterogenen Feld ernstzunehmende Herausforderungen für die konservative Stabilisierung entstehen können.
In Europa wie auch anderswo auf der Welt gibt es heute zwei Erfahrungen, denen in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zukommt: den Frauenbewegungen und den Bewegungen der Migrantinnen und Migranten. Eine Linke, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht werden will, sollte aus deren Erfahrungen heraus ihr Handeln und ihr Programm überdenken – nicht weil sie die einzigen Erfahrungen von Kampf und Konflikt heute sind, sondern weil die Frauenbewegungen und die Bewegungen von Migrantinnen und Migranten unmittelbar das Problem der Öffnung aufwerfen, das heute notwendigerweise eine Politik charakterisieren muss, die ich persönlich weiterhin «Klassenpolitik» nennen würde. Es sind dies Bewegungen, die sich unmittelbar auf dem Terrain des «Werdens» der Klasse und der gesellschaftlichen Kooperation konstituieren, indem sie einerseits das Verhältnis von Produktion und Reproduktion und andererseits die Erfahrung der Mobilität konflikthaft artikulieren und interpretieren (was die Mobilität und Flexibilität der Grenzen der gesellschaftlichen Arbeit und Kooperation einschließt). Und Reproduktion und Mobilität sind heute auch für das Kapital ein strategisches Terrain: Die disziplinäre Gewalt der konservativen Stabilisierung zielt insbesondere auf diese beiden Bereiche ab. Und stößt hier auf Verweigerung und Empörung: eine materielle Basis, um neue Koalitionen und neue Programme einer radikalen Transformation des Bestehenden zu denken.
Sandro Mezzadra ist Professor am Dipartimento di Scienze Politiche e Sociali in Bologna und forscht zu Arbeit, Migration und Grenzregimen. Der Text wurde von Thomas Atzert aus dem Italienischen übersetzt.
Der Beitrag entstammt der Ausgabe zu „Klassenkampf und Klassenpolitik“ des *prager frühling. Dieser Beitrag wie auch alle anderen Beiträge sind auf der Webseite des Magazins frei zugänglich.