Schulstreiks in Frankreich
Ein hoher Beamter des Bildungsministeriums wurde im Februar in den Medien mit den warnenden Worten zitiert: "Schüler und Studenten sind wie Zahnpasta: Wenn sie einmal aus der Tube entwischt sind, bekommt man sie nicht wieder hinein."
Einfach und klar ist die Botschaft, die ein Demonstrant auf einem Pappschild vor sich herträgt: "La concurrence n‘est pas la solidarité." Dass Konkurrenz und Solidarität nicht dasselbe sind, denken auch die anderen 80000 Mitdemonstranten in Paris und die 800000 in ganz Frankreich, die anlässlich des Streik- und Aktionstags gegen Arbeitszeitverlängerung und sozialen Kahlschlag an diesem 10.März auf der Straße sind.
Es handelt sich um Gewerkschafter aus den öffentlichen Diensten, die gegen Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Bildungswesen oder im Transportsektor protestieren und bessere Löhne einfordern. Derzeit finden auch größere Ausstände beim Automobilkonzern Citroën und in der Möbelkaufhauskette Castorama statt, um gegen Niedriglöhne und (in den Automobilwerken) auch gegen rassistische Diskriminierungen zu kämpfen.
Und auch viele Kritiker der neoliberalen EU- Verfassung, über die am 29.Mai in Frankreich abgestimmt wird, sind bei den Demonstrationen vertreten. Statt auf Solidarität zwischen den Bevölkerungen der nunmehr 25 Mitgliedstaaten basiert die Logik dieses Verfassungsvertrags eben genau auf der wirtschaftlichen Konkurrenz, die verallgemeinert werden soll.
Die beeindruckendste soziale Bewegung der letzten Monate aber ist jene der Schülerinnen und Schüler der Oberstufenschulen (lycées). Auch die Lehrer, die bereits im Frühsommer 2003 die "Speerspitze" des damaligen massenhaften Ausstands gegen die regressive "Rentenreform" stellten - aber von der damaligen Niederlage und den nachfolgenden Lohnabzügen für mehrere Streikwochen besonders hart getroffen wurden - sind derzeit wieder massiv mobilisiert. Auf den Protestzügen am 10. März stellten sie, die teilweise mit ihren Gewerkschaften und teilweise in nach Schulen aufgestellten Streikblöcken (wie 2003) mitliefen, bspw. in Paris den mit Abstand größten Demoblock. Direkt hinter ihnen, aber in eigenständigen Blöcken, liefen die Schülerinnen und Schüler.
Ihre bereits seit Ende Januar anhaltende Streikbewegung ist eine der am längsten andauernden der letzten Jahre. Auch die Ankündigung von Bildungsminister François Fillon von Anfang Februar, seine besonders umstrittene "Abiturreform" aus dem Gesetzespakt "zur Zukunft des Schulwesens" herauszunehmen, hat die Proteste nicht eindämmen können. Mitte Februar, als der Gesetzentwurf aus dem Bildungsministerium Fillon - freilich ohne die "Abiturreform" - zur Annahme in erster Lesung in die Nationalversammlung kam, demonstrierten frankreichweit über 100000 Schüler. Weitere Protesttage fanden am 8. und 10.März statt. Auch am 15.3., an dem die Gesetzesvorlage zur ersten Lesung in den Senat - das parlamentarische "Oberhaus" - kam, fanden größere Protestzüge statt.
Ökonomisierung von Bildung
Der Bildungsminister der Raffarin-Regierung will bisherige Kurse, in denen Oberstufenschüler eigenständig (aber unter pädagogischer Betreuung) Referate erarbeiten oder auf andere Weise eigene Arbeiten durchführen - wie bspw. einen Film drehen oder ein Theaterstück vorbereiten -, abschaffen. Sie sind der konservativen Regierung zu teuer. Mehrere Fächerangebote, darunter "seltenere" Fremdsprachen, sollen gestrichen werden.
Eine Neudefinition der "carte scolaire", die die Verteilung von Geldmitteln und Lehrkräften frankreichweit definiert, soll ferner im kommenden Herbst zum Abbau von fast 4000 Lehrerstellen (durch Nichtersetzung der altersbedingten Abgänge) führen. Besonders davon betroffen wäre die nordfranzösische Krisenregion Nord- Pas de Calais, das ehemalige Industrierevier nahe der belgischen Grenze, wo sich ohnehin soziale Probleme zusammenballen.
Das bisherige Zentralabitur soll verschwinden bzw. stark reduziert werden: Statt bisher 13 Fächer sollen nur noch 6 Gegenstand der zentralen Prüfung sein. Stattdessen soll jede Schule ihre eigenen Abiturnoten unter Berücksichtigung der ganzjährigen Mitarbeit erstellen.
Schüler und Lehrergewerkschaften befürchten dadurch eine verschärfte Ungleichheit in der Anerkennung der Abschlüsse, vor allem zwischen Paris und den Banlieues (Trabantenstädten) und anderen sozialen "Krisenzonen". Denn statt eines allgemeingültigen Abschlusses, den eine zentrale Kommission ohne Ansehen der Herkunft der Schüler ausstellt, gäbe nunmehr jede Schule ihre eigenen Abiturdiplome aus. Dieser Teil der "Reform", der das Abitur betrifft, wurde jedoch nach der ersten Protestwelle vorübergehend zurückgestellt. Die Kommission, die dazu tätig ist, soll jedoch weiterarbeiten.
Wer sind die Akteure?
Organisiert werden die Proteste vor allem durch zwei "Gewerkschaften" der Oberstufenschüler. Da wäre erstens die FIDL, die mitunter verbalradikal auftritt, aber faktisch durch die Sozialdemokratie kontrolliert wird und durch deren Satellitenorganisation SOS Racisme ins Leben gerufen wurde. Die politische Kontrolle über diese Parteiableger hat Julien Dray inne, der 1986 von der LCR zur französischen Sozialdemokratie übertrat und heute einer der übelsten Karrieristen im Lande ist, sich aber auf Demagogie versteht.
Zum Zweiten gibt es die UNL, die etwas unabhängiger auftritt und deren Führungskader den Minderheitsflügeln der sozialdemokratischen "Parteilinken" nahe steht. Diese beiden Verbände saßen zunächst auch in der durch Bildungsminister Fillon einberufenen "Reformkommission", haben diese jedoch im Februar verlassen.
Links bis linksradikal orientiert sind daneben die CAL (Comités d‘actions lycéens). In ihren Reihen sind vor allem die Jeunesses Communistes Révolutionnaires (JCR, Jugendorganisation der LCR) und die libertär-kommunistische Vereinigung Alternative libertaire aktiv. Anders als die FIDL und die UNL werden diese "Aktionskomitees" durch die Regierung nicht als Gesprächspartner anerkannt. Auf dem linken Flügel der Protestbewegung spielen sie aber durchaus eine Rolle.
Der schwierige Umgang mit jugendlicher Gewalt
Zu den aktuellen Schwierigkeiten der Mobilisierung gehört, dass die Pariser Demonstration der Schülerinnen und Schüler am 8.März von kriminellen Jugendbanden aus den Trabantenstädten attackiert wurde und nach zwei Dritteln der geplanten Route abgebrochen werden musste.
Diese Form der Gewalt ist ein neues Phänomen. Denn anders als die früher bei Demonstrationen auftretenden "casseurs" (Krawallmacher) greifen die jetzt auftretenden Banden nicht die Polizei oder Luxusgeschäfte an - sondern stürzen sich mit größerer Übermacht auf einzelne Demonstrationsteilnehmer, um ihnen Handys oder Markenklamotten abzunehmen.
Dieses bisher unbekannte Phänomen ist einerseits Ausdruck der extremen Zerrüttung des sozialen Zusammenlebens an den Rändern der Gesellschaft. Das gilt vor allem für die Trabantenstädte, in denen sich die sozialen Probleme wie in einem Brennglas konzentrieren und deren Bewohner durch die offizielle Politik ohnehin "abgeschrieben" sind. Andererseits aber meint eine Bildungsgewerkschafterin, dass viele der jetzigen "Bandenführer" auch persönlich von extremen Gewalterfahrungen geprägt und psychisch geschädigt worden sind, vor allem als Zeugen von Massakern in afrikanischen Bürgerkriegsländern oder gar ehemalige "Kindersoldaten" sind.
Dass es aber soweit kommen konnte, dass die Gewalt dieser Banden eine ganze Demonstration zerstören kann, lag auch an nicht vorhandenen oder völlig unstrukturierten Ordnerdiensten und mangelnder Organistionserfahrung. Das wird sich so nicht wiederholen: Am 15.März stellen Gewerkschaften und Schülerverbände gemeinsame Ordnerdienste.
Doch bei vielen, vor allem jüngeren Schülern, hat die Erfahrung der Woche davor eine einschüchternde Wirkung hervorgerufen. Sie bleiben lieber zu Hause oder plädieren für Protestaktionen innerhalb der Schulgebäude. Verschwörungstheoretiker, die auf Mailinglisten von "mehreren Toten am 8.März, die durch die Medien verschwiegen werden", fabulieren und eine gezielte polizeiliche Steuerung am Werk sehen, machen die Situation nicht besser. Nur eine verbesserte Organisierung und zunehmende Erfahrung der Schüler kann aus dieser Falle herausführen.