Kritische Rehabilitierung

Dialektisches Denken in der analytischen Sozialtheorie von Jon Elster

Als Motto für seinen wirkungsgeschichtlich äußerst relevanten Artikel ,,What Is Dialectic?" hat Karl R. Popper einen Satz des französischen Philosophen René Descartes gewählt, der in englischer Übersetzung lautet: ,,There is nothing so absurd or incredible that it has not been asserted by one philosopher or another." Der Satz könnte täuschen, denn Popper bemüht sich in dem erwähnten Artikel, das Positive der Dialektik zu retten, auch wenn der Satz den Tenor der Rezeption der Popperschen Kritik an der Dialektik gut wiedergibt. Popper selbst ist in dem Artikel nicht so einseitig und entschieden, wie der Satz es vermuten lassen würde. Im Gegenteil. Selbst wenn Popper letzten Endes für die von ihm propagierte ,,trial-and error"-Methode plädiert, die die Entwicklung vieler und unterschiedlicher Theorien fördere und der Dialektik überlegen sei, differenziert er den Begriff der Dialektik so, daß er eine doppelte Bedeutung des Begriffs registriert: einmal Dialektik als deskriptive Theorie von empirischen Sachverhalten und Entwicklungen, der eine begrenzte Gültigkeit zukomme, sodann Dialektik in einem fundamentalen Sinne als spezifische Logik, die sich von der traditionellen klassischen Logik unterscheiden würde. Während Popper für die Dialektik als eine deskriptive Theorie von Wirklichem manches übrig hat, verurteilt er radikal die Konzeption der Dialektik, die in dieser eine alternative Logik sieht. Eine dialektische Logik konstruieren zu wollen, in der womöglich ein bestimmter Satz zur gleichen Zeit wahr und falsch sein könne, ist für Popper ein sinnloses Unternehmen. Denn, wie er selbst sagt, das Akzeptieren logischer Widersprüche verhindere das Geschäft der Aufklärung und der Rationalität. Selbst wenn es in der Wirklichkeit Entwicklungen und Phänomene gebe, die einen widerspruchsvollen Charakter hätten, könnte man als Wissenschaftler nicht zulassen, dies ist das feste Credo des kritischen Rationalisten Karl Popper, daß die Sprache, die verwendet wird, um solche Phänomene zu beschreiben, widerspruchsvoll sei. Über real Widerspruchsvolles habe man vielmehr in einer klaren, aufschlußreichen und falsifizierbaren theoretischen Sprache zu reden, um die jeweiligen Sachverhalte begrifflich zu erhellen und nicht zu verdunkeln. Die pejorativen Konnotationen, die mit dem Begriff der Dialektik gekoppelt sind, bringt Popper mit einem lockeren, unpräzisen Gebrauch des Begriffes (,,loose and woolly") in Verbindung sowie mit der großen Konfusion, die entsteht, wenn man behauptet, daß Widersprüche für das Denken gut seien, ohne zu spezifizieren, wie ein solcher Satz genau zu verstehen sei. Widersprüche sind für Popper in der Tat gut für das Denken, aber nur deswegen, weil sie eine Herausforderung für das Denken darstellen, sie zu überwinden und zu klaren und präzisen Konzepten zu kommen. In dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel sieht Popper den größten paradigmatischen Repräsentanten eines verwirrenden Gebrauchs des Begriffs ,,Dialektik", der sich im Hegelschen Philosophie-System gut eigne, die widerspruchsvollsten Funktionen zu erfüllen. Das Hegelsche philosophische System sieht Popper im einzelnen durch drei fatale Momente charakterisiert, die ein aufklärerisches und aufklärendes Denken verhinderten: erstens durch einen rationalistischen Dogmatismus, der Kantische Rationalitätsstandards ignoriere; zweitens durch eine dialektische Logik, die aus dem zweideutigen Gebrauch von Begriffen wie ,,Vernunft" und ,,Denkgesetze" Kapital schlage; drittens durch einen Panlogismus, der die Vernunft überall am Wirken sehe, sowie durch eine Identitätsphilosophie, die den realen Differenzen nicht gerecht zu werden vermöge. Hegel ist mit anderen Worten für Popper derjenige Philosoph, anhand dessen man sehen könnte, wie der vage (,,vague") und elastische (,,elastic") Gebrauch des Begriffs ,,Dialektik" mit einem maximalistischen philosophischen Anspruch verbunden werden könnte, was notwendigerweise zur Erzeugung von entweder nichtssagenden, trivialen oder aber ganz sinnwidrigen Aussagen führte.

Dieser Dialektik-Artikel Poppers, der zum ersten Mal im Jahre 1940 in der Zeitschrift ,,Mind" veröffentlicht wurde und dann in ,,Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge" wiederaufgenommen wurde, zusammen mit seiner Hegel- und Marx-Kritik in ,,The Open Society and its Enemies" und in ,,The Poverty of Historicism", haben im angelsächsischen Raum eine enorme Wirkung gehabt, indem sie dafür gesorgt haben, daß dialektisches Denken lange Zeit in der analytischen Philosophie mit unpräzisem, verwirrendem und ideologisch mißbrauchbarem Denken gleichgesetzt wurde. Dennoch gibt es in der gegenwärtigen analytischen Sozialtheorie den Versuch, dialektisches Denken aufzugreifen und mit den begrifflichen Mitteln, die nun zur Verfügung stehen, d.h. konkret mittels der rationalen Entscheidungstheorie und der Social Choice Theory, zu präzisieren und zu entwickeln. Im folgenden soll ein bestimmter Autor als Repräsentant dieser neuen begrifflichen Anstrengung aufgegriffen und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Er ist nur einer unter vielen möglichen anderen, auf die im Laufe der folgenden Erörterungen Seitenblicke zu werfen sein werden. Gemeint ist der in den Vereinigten Staaten lehrende norwegische Sozialtheoretiker Jon Elster. Mir geht es hier aber um keine exegetische Rekonstruktionsarbeit seines Denkens, sondern um die Sache, die in seinen sozialtheoretischen Ansätzen behandelt wird. Deswegen haben die folgenden Überlegungen mehr als einen expositiven Charakter. Sie wollen auf das bei Elster Erörterte hinweisen und gleichzeitig in einer sehr vorsichtigen Weise über Elster hinausgehen.

Die historische Bedingtheit sozialtheoretischer Kategorien

In einer umfangreichen Arbeit mit dem bezeichnenden Titel ,,Making Sense of Marx" operationalisiert Jon Elster den Begriff der Dialektik bei Karl Marx so, daß er dreierlei unterscheidet. Dialektik soll erstens ein bestimmtes Deduktionsverfahren sein, durch welches im Sinne der Hegelschen Logik die verschiedenen Begriffe und Kategorien, die für eine bestimmte philosophische Theorie von Bedeutung sind, voneinander abgeleitet würden und mittels dessen die Übergänge und die radikale Geschichtlichkeit der abgeleiteten Begriffe allererst dargestellt werden könnten. Außerdem bezeichne ,,Dialektik" zweitens eine Reihe von Gesetzen wie die Gesetze, die Friedrich Engels in seinem ,,Anti-Dühring" analysiert habe. Schließlich und drittens sei unter Dialektik eine Theorie sozialer Widersprüche zu verstehen. Elster urteilt dann ziemlich schnell und vielleicht doch ein wenig oberflächlich, wenn er kurz nach dieser differenzierenden Darlegung das in Anlehnung an die Hegelsche Logik konzipierte und durchgeführte Deduktionsverfahren als schwer verständlich (,,barely intelligible") bezeichnet, die dialektischen Gesetze für uninteressant (,,of limited interest") hält und letzten Endes sich nur für die sozialen Widersprüche interessiert, durch deren Analyse er meint, eine Theorie sozialen Wandels gewinnen zu können, von der es heißt, sie sei ein ,,important tool" der allgemeinen Sozialtheorie.1 Diese Elstersche Dreiteilung möglicher dialektischer Themenstellungen soll der Leitfaden der folgenden Ausführungen sein.

Sozialtheoretische Begrifflichkeiten, d.h. die Begriffe und Kategorien, die in der Theorie verwendet werden, welche konstruiert wird, um soziale Realitäten konzeptuell zu erfassen, sind immer historisch bedingt. Dies bedeutet, mit anderen Worten, daß man über Modernisierung, Industrialisierung, Kapitalisierung oder Globalisierung (unterschiedliche wirtschaftliche und soziokulturelle Phänomene also) nur mittels Begriffen reden und sich verständigen kann, die diese Phänomene als historische Tatsachen wesentlich in dem Sinne voraussetzen, daß die Begriffe selbst Resultat und Produkt der historischen Lage sind, in der sie entstanden sind und die sie mit den zu begreifenden Phänomenen teilen. Die Begriffe fallen, anders formuliert, nicht vom Himmel oder existieren nicht in einem logischen Himmel, in dem sie a priori ihre Gültigkeit hätten, so daß man sie dann nur im Sinne einer den Wesenskern der Begriffe nicht tangierenden Materialisierung und Konkretisierung auf die jeweilige Epoche oder auf die jeweilige soziale Realität, wenn diese sich ergeben hat, anzuwenden hätte, wodurch man sie instanziieren oder veranschaulichen würde.

Die Operation, die Immanuel Kant in seiner ,,Kritik der reinen Vernunft" in bezug auf die allgemeinen Verstandesbegriffe oder Kategorien durchführt, nämlich die Operation ihrer Ableitung oder Aufstellung2, kann, was die sozialtheoretischen Kategorien und Begriffe angeht, dementsprechend nie eine ahistorische Deduktion sein. Denn die Begriffe, die für die Sozialtheorie relevant sind, haben einen genetischen Entstehungskontext, der ihrem Geltungskontext nicht extern bleiben kann. Und dies ist es gerade, was die These von der historischen Bedingtheit sozialtheoretischer Kategorien genau besagt. Diese These ist eine dialektische These, denn in ihr geht es um das komplexe Verhältnis von historischem Bestimmtsein und transepochaler Gültigkeit, ein Verhältnis, das kein Identitätsverhältnis, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit ist.

Leider ist diese historische Vermitteltheit der sozialtheoretischen Begriffe und Kategorien nicht das, was Elster primär interessiert, wenn er in Anlehnung an Hegel und Marx die Dialektik als Verfahren zur Deduktion von Begriffen auffaßt. Vielmehr konzentriert er sich auf die Art, wie Hegel in seiner ,,Wissenschaft der Logik" einzelne Kategorien aus der internen Bewegungsdynamik anderer Kategorien ableitet und somit deren wesentliche Übergängigkeit und Vermitteltheit darstellt. Auf Marx bezogen: Elster interessiert sich abstrakt dafür, wie Marx in den ,,Grundrissen der politischen Ökonomie" und im ,,Kapital" den Begriff des Kapitals vom Begriff des Geldes in Hegelscher Manier ableitet, wie wenn die theoretische Ableitungsoperation a priori am Schreibtisch, unabhängig von der gesellschaftlichen Wirklichkeit vollzogen werden könnte. Dabei ist der Zirkulationsprozeß, durch welchen allein aus Geld Kapital werden kann, ein geschichtliches Phänomen, dessen begriffliche Erfassung die Bestimmung der Kategorien ,,Geld" und ,,Kapital" sowie ihrer wechselseitigen Dependenz und Vermitteltheit allererst ermöglicht. Nicht abstrakt und a priori also entsteht die Kategorie ,,Kapital" aus der Kategorie ,,Geld", sondern auf der Basis eines realen Tauschprozesses, der historisch indiziert ist, wird aus Geld Kapital. Dieser reale Tauschprozeß wird theoretisch in einer Form begriffen, die der politischen Ökonomie ermöglicht, die Kategorien ,,Geld" und ,,Kapital" in ihrer wechselseitigen Bedingtheit systematisch zu entwickeln und darzustellen.

In der Tat sind alle Begriffe und Kategorien der Sozialtheorie historisch bedingt. Sie ergeben sich aus den realen Problemen einer bestimmten geschichtlichen Lage und Handlungskonstellation. Sie sind, um die Begrifflichkeit des nordamerikanischen Sozialtheoretikers Charles Wright Mills aufzugreifen, ,,historically rooted". Wenn sie aber entstanden sind, sind sie generalisierbar und können auf andere geschichtliche und gesellschaftliche Lagen angewandt werden. Sie bleiben in ihrer Gültigkeit, d.h. in ihrer Erklärungskraft und Anwendbarkeit, nicht auf eine bestimmte geschichtliche oder soziale Lage eingeschränkt. Vielmehr kommt ihnen eine transepochale Validität zu, die keineswegs in einem Widerspruch mit der historischen Bedingtheit ihres Ursprungs steht. Auf die historische Bedingtheit der einzelnen sozialwissenschaftlichen Begriffe und Kategorien, die ihre theoretische Validität und Erklärungskraft keineswegs aufhebt, bezieht sich C. Wright Mills, wenn er formuliert: ,,Many of the conceptions most commonly used in social science have to do with the historical transition from the rural community of feudal times to the urban society of the modern age: Maine's ,status` and ,class`, Tönnies's ,community` and ,society`, Weber's ,status` and ,class`, St. Simon's ,three stages`, Spencer's ,military` and ,industrial`, Pareto's ,circulation of élites`, Cooley's ,primary and secondary groups`, Durkheim's ,mechanical` and ,organic`, Redfield's ,folk` and ,urban`, Becker's ,sacred` and ,secular`, Lasswell's ,bargaining society` and ,garrison state` - these no matter how generalized in use, are all historically rooted conceptions."3

Sozialtheoretische Begriffe und Kategorien liegen nicht in der Welt herum. Sie sind selbstverständlich das Ergebnis der Begriffsarbeit, die Menschen leisten, wenn diese ihre soziale Welt verstehen und erklären wollen. Deswegen sind sozialtheoretische Begriffe und Kategorien nicht beliebig erzeugbar, sondern setzen immer als Bedingung ihrer Möglichkeit konkrete soziale und geschichtliche Lebenswirklichkeiten voraus. Sozialtheoretische Begriffe stehen außerdem zueinander in bestimmten Verhältnissen, die keine abstrakten logischen Ableitungsverhältnisse sind, sondern auf Bewegungen und Prozesse, ja auf die Entwicklungsdynamik der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit verweisen, aus der sie selbst mittels theoretischer Begriffsarbeit hervorgegangen sind.

Dialektische Gesetze?

Friedrich Engels hat in seiner Streitschrift gegen Eugen Dühring ,,Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", die als ,,Anti-Dühring" in die Geschichte eingegangen ist, in den Unterabschnitten XII und XIII des der Philosophie gewidmeten ersten Abschnitts, die die Überschrift ,,Dialektik" tragen, zwei dialektische Gesetze vorgeführt, die er mit vielen Beispielen zu belegen versucht. Das erste Gesetz ist das Gesetz des Übergangs der Quantität in Qualität. Das zweite Gesetz ist das Gesetz der Negation der Negation. Die schwierigen Fragen, was ,,Gesetze" sind und ob die zwei von Engels in Anlehnung an die Naturgesetze aufgefaßten Gesetzmäßigkeiten bzw. Regularitäten auch in einem strengen Sinne ,,Gesetze" sind, möchte ich hier nicht erörtern. Jon Elsters Verdikt, daß das von Engels in den beiden Unterabschnitten Entwickelte für die gegenwärtige Sozialtheorie nicht besonders relevant sei, hängt selbstverständlich mit Elsters spezifischer Konzeption der Sozialtheorie zusammen, die hier im folgenden Abschnitt zur Sprache kommen soll. Im folgenden möchte ich mich darauf beschränken, auf einige der Beispiele kurz einzugehen, die Engels bemüht, allerdings ohne daß er systematisch nachweist, inwieweit die in den Beispielen angesprochenen Phänomene ausreichen, um die Rede von strengen ,,Gesetzen" zu rechtfertigen. Die Ausführungen Engels' möchte ich hier als bemerkenswerte Hinweise auf bestimmte Phänomene bewerten, die nicht zu ignorieren sind. Ich bezweifle aber, daß man für sie einen strengen Gesetzescharakter, wie Engels behauptet, reklamieren kann, sowie daß sie alle die gleiche Bedeutung haben.

Als Belege für das Gesetz des Übergangs der Quantität in Qualität nennt Engels diverse Beispiele, die sich auf einzelne Bewegungsabläufe, auf das Leben, auf einige Operationen der niederen und der höheren Mathematik, auf geometrische Linienprobleme, auf die chemische Zusammensetzung von Körpern sowie auf die französische Kavallerie beziehen. Als besonders illustrativ für das Zusammenspiel von quantitativen und qualitativen Aspekten, das sich als ein Kompositionsphänomen erweist, bei dem neue Organisations- und Systemqualitäten erzielt werden können, scheint mir das Beispiel der französischen Kavallerie zu sein. Engels zitiert Napoleon, der geschrieben haben soll: ,,Zwei Mameluken waren drei Franzosen unbedingt überlegen; 100 Mameluken standen 100 Franzosen gleich; 300 Franzosen waren 300 Mameluken gewöhnlich überlegen, 1000 Franzosen warfen jedesmal 1500 Mameluken."4 Den Grund für das ,,Umschlagen von Quantität in Qualität", das bei diesem Zitat vorliegt und bewirkt, daß eine bestimmte Zahl von Franzosen in der Lage ist, eine Schlacht gegen die, einzeln betrachtet, viel stärkeren Mameluken zu gewinnen, nennt Engels in der folgenden Passage: ,,Grade wie bei Marx eine bestimmte, wenn auch veränderliche, Minimalgröße der Tauschwertsumme nötig war, um ihren Übergang in Kapital zu ermöglichen, gradeso ist bei Napoleon eine bestimmte Minimalgröße der Reiterabteilung nötig, um der in der geschlossenen Ordnung und planmäßigen Verwendbarkeit liegenden Kraft der Disziplin zu erlauben, sichtbar zu werden und sich zu steigern bis zur Überlegenheit selbst über größere Massen besser berittner, gewandter reitender und fechtender ... Kavallerie."5 Mit anderen Worten: Die Franzosen, als Kavallerie organisiert, vermögen zu erreichen, was sie als einzelne Kämpfer nie erreichen würden. Durch eine Organisation von Quantitativem lassen sich Qualitäten (wie zum Beispiele Siege) erreichen.

Das von Engels bemühte Umschlagen von Quantität und Qualität läßt sich anhand der Gehirnleistungen gut veranschaulichen. Die Konnektivität von Gehirnzellen vermag die vielen komplexen Bewußtseinsleistungen - wie Wahrnehmungen, Gedächtnisleistungen, Gefühle, Gedanken, Argumentationen usw. - zu erzeugen, die wir mit qualitativen Begriffen beschreiben. Diese geistigen Bewußtseinsleistungen sind Systemeigenschaften eines physiologischen Organs, das in seinen Funktionsweisen quantitativ erfaßbar und meßbar ist.

Bei dem zweiten von Engels vorgeführten Gesetz der Negation von Negation geht es um die Differenz zwischen einem ersten Anfangszustand und einem Endzustand, der erreicht wird, indem der Zwischenzustand, der sich aus der Negation des ersten Anfangszustands ergibt, wiederum negiert wird. Über die mathematischen Beispiele, die Engels zur Exemplifikation dieses zweiten Gesetzes angeführt hat, hat sich Popper in dem eingangs zitierten Dialektik-Artikel lustig gemacht, indem er sie als Kunststück der Sophistik dargestellt hat. Ähnlich wie Popper könnte man in bezug auf die von Engels angeführten geologischen Beispiele reagieren. Dennoch ließe sich eine gewisse allgemeine Plausibilität für die Argumentation Engels' retten. Der Gesundheitszustand nämlich, der nach langer, quälender Krankheit erreicht wird, ist mehr und etwas anderes als der Gesundheitszustand, der Wirklichkeit gewesen ist, bevor die Krankheit ausbrach. Durch die Krankheit als Negation von Gesundheit gewinnt die nach ihr wieder erreichte Gesundheit eine andere Qualität, gleichgültig wie diese neue Qualität im einzelnen gedeutet wird.

Im Bereich des Sozialen, d.h. des Gesellschaftlichen, Wirtschaftlichen, Kulturellen und überhaupt Geschichtlichen, sind viele Autoren bereit, die Validität der von Engels (beispielsweise anhand von Aneignungs- und Enteignungsprozessen) geschilderten Dialektik der Negation der Negation zu akzeptieren. Allerdings hört diese Bereitschaft auf, wenn Engels versucht, die Dialektik der Negation der Negation im Natürlichen (zum Beispiel bei der Entstehung und Entwicklung von Gerstenkörnern und Schmetterlingen) zu entdecken. Eines wird man allerdings trotz aller differenzierend anzubringenden Kritik zugeben müssen, und zwar folgendes: daß außerhalb der rein formalen Wissenschaft der Mathematik das Produkt der Negation der Negation bzw. der Negation eines Negierten in einem strengen Sinne nicht identisch mit dem noch nicht negierten Anfangszustand sein kann. Und daß dies keineswegs eine triviale Einsicht ist, beweist die Tatsache, daß eine solche Einsicht so oft in sozialwissenschaftlichen Erklärungen verdrängt wird.

Soziale Widersprüche und Mechanismen

Im ersten Abschnitt von ,,Alchemies of the Mind", einer Untersuchung der Funktion und Rolle von Emotionen und Affektlagen im rationalen Leben menschlicher Subjekte, trägt Jon Elster sein Verständnis dessen vor, was ein Sozialtheoretiker zu leisten vermag, wenn er ein guter Sozialtheoretiker ist. Der Abschnitt trägt den signifikanten Titel ,,A Plea for Mechanisms". Sozialtheoretiker, so die Grundthese Elsters, sind nicht in der glücklichen Lage, in der sich Naturwissenschaftler befinden, die Wissen über Naturgesetze zu sammeln vermögen. Im Bereich des Sozialen oder des Praktischen kann es für Elster keine Gesetze geben, die immer und überall, d. h. ausnahmslos, gelten. Sozialtheoretiker sind aber in der Lage, mehr als Erzählungen oder Beschreibungen zu liefern. Die Sozialtheorie ist demnach weder eine harte Naturwissenschaft noch eine weiche narrativ-deskriptiv vorgehende Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die dazwischen liegt, denn sie kann sich zu einer Theorie von Mechanismen entwickeln, die sich erklären lassen und die dem Sozialtheoretiker helfen, ex post, und nie ex ante, zu erklären, warum im Sozialen etwas der Fall ist bzw. warum etwas sich ereignet hat. Mechanismen werden in dieser Konzeption Elsters als objektive Phänomene oder Abläufe betrachtet, die eine Zwischenposition zwischen den Gesetzen der nomothetischen Naturwissenschaften und den Beschreibungen der idiographischen Wissenschaften einnehmen. Mechanismen ermöglichen uns, Gewesenes zu erklären, allerdings nicht Zukünftiges zu prognostizieren, denn im Sozialen gibt es keinen absoluten Determinismus. Ex ante sind wir nie in der Lage zu sagen, welcher Mechanismus in der jeweiligen Situation Wirklichkeit werden wird. Nachdem aber etwas geschehen ist, machen Mechanismen Kausalerklärungen möglich. Ex post sind wir also wohl in der Lage zu sagen, warum etwas geschehen ist und wie es geschehen ist. Für das Tun oder das Unterlassen von etwas gibt es Ursachen bzw. Mechanismen, auf die wir zwecks Erklärung zurückgreifen können. Diese Mechanismen können uns aber nicht ex ante sagen, ob das Verhalten, das man durch sie ex post angemessen erklären kann, eintreten oder nicht eintreten wird. Erst wenn das Verhalten eingetreten ist, können die Mechanismen ihren Dienst tun. Der Unterschied zwischen Gesetzen und Mechanismen läßt sich, mit anderen Worten, folgendermaßen festhalten: Während Gesetze die Form ,,Wenn die Bedingungen C1, C2, ... Cn der Fall sind, dann immer E" haben, haben Mechanismen die Form ,,Wenn C1, C2 ... Cn, dann manchmal E".6 Wissenschaftliche Erklärungen durch Rekurs auf Mechanismen werden dementsprechend die Form haben: ,,Wenn A, dann manchmal C, D und B", und nicht die Form, die die Erklärungen mittels Gesetzen haben, nämlich die Form: ,,Wenn A, immer B". ,,Erklärungen" sind sie aber allemal, und nicht bloße beschreibende Plausibilisierungen.

Der Bereich, in dem die von Elster dargestellten Mechanismen greifen, der Bereich des Sozialen, den die Sozialtheorie begrifflich zu erfassen versucht, ist demnach keineswegs völlig determiniert, sondern ist vielmehr durch eine grundsätzliche Unbestimmtheit und Offenheit gekennzeichnet. Diese Unbestimmtheit besagt nach Elster ein Doppeltes: erstens, daß man in der jeweiligen Entscheidungs- oder Handlungssituation nicht wissen kann, welcher Mechanismus greifen wird, und zweitens, daß man nicht genau wissen kann, welche genauen weiteren Folgewirkungen der Fall sein werden, wenn ein bestimmter Mechanismus ausgelöste wurde.7

Jon Elster findet die einzelnen Mechanismen, die für eine Sozialtheorie mit wissenschaftlichem Anspruch relevant sind, in den populären Sprichwörtern, in bestimmten literarischen Werken und bei Autoren wie Montaigne und Tocqueville, um nur einige der Quellen zu nennen, die Elster zu seiner Theorie der Mechanismen angeregt haben.

Hier kann es gar nicht darum gehen, die vielen Mechanismen, die Elster in seinen einzelnen Werken (,,Nuts and Bolts", ,,Political Psychology", ,,The Cement of Society", ,,Ulysses and the Sirens", ,,Sour Grapes", ,,Logic and Society", ,,Solomonic Judgments", ,,Local Justice", ,,Ulysses Unbound" u.a.) vorführt, im einzelnen vorzustellen. Wichtiger als eine additive Aufzählung der einzelnen Mechanismen ist die Explizitmachung der dialektischen Natur der von Elster analysierten und in seinen eigenen sozialtheoretischen Erklärungen verwendeten einzelnen Mechanismen. Denn in der Tat sind die Mechanismen, von denen Elster ein Doppeltes erwartet, nämlich die Erklärung sozialer Phänomene und die Verwissenschaftlichung der Sozialtheorie, wenn diese zu deren Theorie wird, durch und durch dialektischer Natur. Sie sind dialektischer Natur, denn sie verweisen auf Widersprüche und Paradoxien, die Wirklichkeit werden, wenn Individuen handelnd Soziales gestalten und in ihrer natürlichen Umwelt etwas bewirken. Mechanismen erklären geradezu, wie solche Widersprüche und Paradoxien zustande kommen, wie beispielsweise intentionales, gut geplantes und koordiniertes Handeln Unbeabsichtigtes und Nichtgewolltes hervorbringen kann, und zwar durch eine Reihe von dialektischen Mechanismen, deren Logik und Dynamik Elster zu erfassen versucht. In ,,Logik und Gesellschaft" werden drei Hauptklassen solcher Mechanismen unterschieden: diejenigen, die sich unterschiedlichen Kompositions- bzw. Aggregationseffekten verdanken; Mechanismen der Kontrafinalität; und Mechanismen der Suboptimalität. In anderen Werken Elsters und bei anderen Autoren wie Raymond Boudon oder James S. Coleman findet man andere Klassifikationen, die genauso plausibel sind wie die von Elster in ,,Logik und Gesellschaft" verteidigte Klassifikation. Bei den auf unterschiedliche Weise klassifizierbaren Mechanismen geht es um vielfältige Phänomene. Es geht zum Beispiel um das Zustandekommen von Endresultaten, die von den handelnden Akteuren nicht beabsichtigt werden konnten, denn sie erweisen sich als das, was die Akteure vernünftigerweise nicht wollen können, obwohl sie als Folge dessen, was die Akteure in der jeweiligen Wahl- und Entscheidungssituation vernünftigerweise gewollt haben, Realität geworden sind. Weiter geht es um Handlungs- und Entscheidungssituationen vom Typ des sogenannten ,,Gefangenendilemmas", bei denen das für alle Beteiligten Beste nicht mit dem koinzidiert, was jeweils das Beste für die einzelnen ist. Es geht aber auch um paradoxe Effekte, die sich auf dem Wege der Normalität oder des von allen Gewollten ergeben. Besonders interessant scheinen mir die Phänomene oder Mechanismen der Kontrafinalität zu sein. Einige von ihnen lassen sich allerdings auch als Kompositions- oder Aggregationseffekte deuten. Elster faßt sie aber als Exemplifikationen der Kontrafinalität, die er in der Arbeit ,,Logik und Gesellschaft" ziemlich umständlich definiert. Die Beispiele von Kontrafinalität, die Elster nennt, sind die folgenden: a) das Aufstehen in einem Hörsaal, um besser den Referenten zu sehen, was, wenn alle Zuhörer es tun, dazu führen muß, daß keiner besser sehen kann; b) die Situation, die eintritt, wenn alle auf einmal ihr bei der Bank deponiertes Geld abheben wollen; c) der von Sartre zitierte allgemeine Erosionseffekt, der eintritt, wenn jeder chinesische Bauer durch das Fällen von Bäumen versucht, das ihm zur Verfügung stehende Land zu erweitern; d) die negative Spirale von Bevölkerungswachstum und Armut; e) das kontraproduktive Verhalten mancher Wähler, die unterstellen, daß die von ihnen favorisierte Partei klar gewinnen wird, und deswegen am Wahltag nicht wählen gehen; f) der komplexe Spinnweb-Zyklus aus der ökonomischen Theorie; g) die Marxsche Erklärung des Falles der Profitrate auch als das Ergebnis von Maßnahmen, die unternommen werden, um dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken.8 Ähnliche Beispiele kann man auch bei James S. Coleman, der eine Neubegründung der Sozialtheorie auf der Basis des ,,methodologischen Individualismus" versucht hat, und bei dem französischen analytischen Sozialtheoretiker Raymond Boudon finden, der sich darum bemüht zu zeigen, wie in einigen gesellschaftlichen Bereichen politische Strategien, die mehr Gleichheit implementieren wollen, de facto mehr Ungleichheit erzeugen, und wie die exklusive Orientierung am Eigeninteresse das Eigeninteresse faktisch vernachlässigen kann.9 Außerdem gibt es die von Elster in den Mittelpunkt seiner Selbstbindungstheorie gerückten ,,Zeit-Inkonsistenzen", die darauf zurückzuführen sind, daß das, was ich gegenwärtig vernünftigerweise wollen kann, nicht das sein kann, was ich zu einem anderen, zukünftigen Zeitpunkt wollen sollte, wenn ich dann vernünftig sein will. Solche ,,Zeit-Inkonsistenzen" lassen die gegenwärtigen Entscheidungssituationen zu höchst komplexen, widerspruchsvollen Handlungslagen werden, zu deren Bewältigung es eine Reihe von Strategien gibt, die Elster u.a. in dem Buch ,,Ulysses Unbound" detailliert untersucht hat.10

In ,,Logik und Gesellschaft" bekennt Jon Elster, daß er auf eine Art Rechtfertigung der Dialektik aus ist. Was er in mehreren Kapitel vorzutragen habe, soll dazu dienen, die Dialektik zu rechtfertigen. Freilich versichert er, nicht vorzuhaben, ,,alle Denkfiguren zu verteidigen, die von den Anhängern und Gegnern ,dialektisch` genannt wurden".11 Aber die Verteidigung einiger dialektischer Denkfiguren und Mechanismen strebe er an. Und in der Tat ist das, was er uns als Sozialtheorie anbietet, wie es an einer anderen Stelle heißt: keine Gesamttheorie oder kein philosophisches System, sondern ,,ein Bündel von ziemlich unverbundenen Begriffen", deren Kohärenz methodologischer Art ist.12

Hätte man auf andere analytische Sozialtheoretiker zurückgegriffen, die sich vornehmen, unter gegenwärtigen Theorieproduktionsbedingungen dialektisches Denken zu retten, bzw. bei denen dialektisches Denken vorhanden ist, so wäre das Bild, das sich ergeben hätte, ein ähnliches. All diesen Autoren geht es nämlich um die anhand der Untersuchung von Einzelfällen betriebene Erklärung der komplexen Vermittlung der Mikroebene mit der Makroebene des Gesellschaftlichen, mit anderen Worten: um die Erklärung der komplexen Vermittlung der Ebene der intentional handelnden sozialen Akteure mit der Ebene der strukturellen Zwänge und der systemischen Bedingungen, die zwar vergangenes Handeln zu ihrer Entstehungsvoraussetzung haben, den Rahmen aber für zukünftiges Handeln abstecken. Sie betreiben keine sozialphilosophische ,,grand theory" mehr. Aber immerhin betreiben sie bewußt Sozialtheorie, eine Theorie des Gesellschaftlichen also, die Erklärungskompetenz reklamiert. Und dies tun sie in einer methodologisch aufgeklärten Weise.

Anmerkungen

1 Vgl. J. Elster, Making Sense of Marx, Cambridge 1985, 37ff.

2 Kant nennt die Operation der Aufstellung oder Feststellung der Verstandesbegriffe oder Kategorien deren ,,metaphysische Deduktion", die er dadurch meint durchführen zu können, daß er auf die in den traditionellen Logik-Büchern seiner Zeit dargelegte Urteilsfunktion zurückgreift. Von der bloßen ,,metaphysischen Deduktion" der Kategorien unterscheidet er anschließend die ,,transzendentale Deduktion" der Kategorien, auf die es ihm ankommt und bei der es um den Nachweis der Vollständigkeit und der Notwendigkeit der ,,metaphysisch deduzierten" oder aufgestellten Kategorien geht. Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, 108ff.

3 C.W. Mills, The Sociological Imagination, London 1975, 169.

4 F. Engels, Anti-Dühring (Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft), MEW, Bd. 20, 120.

5 Ebenda.

6 Vgl. J. Elster, Alchemies of the Mind. Rationality and the Emotions, Cambridge 1999, 5.

7 Vgl. ebenda, 8.

8 Vgl. J. Elster, Logik und Gesellschaft. Widersprüche und mögliche Welten, Frankfurt a.M. 1981, 174ff.

9 Vgl. James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass. 1994; R. Boudon, Effets pervers et ordre social, Paris 1977; sowie R. Boudon, La place du désordre, Paris 1984.

10 Vgl. J. Elster, Ulysses Unbound. Studies in Rationality, Precommitment, and Constraints, Cambridge 2000, 24ff. sowie 34ff.

11 J. Elster, Logik und Gesellschaft, 108.

12 Vgl. ebenda, 110.

Prof. Dr. Thomas Gil, Philosoph, Frankreich-Zentrum an der Technischen Universität Berlin