Politisch - pluralistisch - sozialistisch

Plädoyer für den

Der PDS-Programmentwurf richtet sich nicht gegen die Partei, sondern die mit ihm verbundene politische Absicht zielt auf deren Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 19-23

1.

Der "offizielle" PDS-Programmentwurf aus der Feder von Dieter Klein, Michael und André Brie ist mit politischer Absicht geschrieben worden - wie wohl jeder andere, konkurrierende Entwurf auch. Ist das unredlich? Ein Programm für eine politische Partei ohne politische Absicht zu schreiben, hieße, der Aufgabe nicht gerecht zu werden. Und unredlich wäre es, diese politische Absicht zu verbergen.

Die politische Absicht, auf der der jetzige offizielle Entwurf ruht, lag stets offen zu Tage. Sie richtete sich nie gegen die Partei, sondern auf ihre Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit. Es ging nie darum, auf dem Umweg über die Programmdebatte eine neue Partei zu kreieren, sondern die Absicht zielte auf die Veränderung der Gesellschaft - und weil die PDS die Fähigkeit dazu erst (wieder) erlangen musste, auch auf die Veränderung, auf die Fortsetzung des Erneuerungsprozesses dieser Partei.

Parteiprogramme sind nicht in erster Linie Weltbeschreibungen, sondern politische Handlungsgrundlagen. Politische Parteien beschließen nicht, wie gut oder böse die Welt ist - sie rücken gesellschaftliche Fragen und Probleme in das Zentrum ihrer Tätigkeit und bestimmen, von welchen Grundsätzen aus und mit welchen Methoden sie diese Fragen zu welchem Zweck bearbeiten wollen. Darum geht es auch für die PDS. Der "offizielle" Programmentwurf stellt sich genau dieser Herausforderung. Er bewältigt sie nicht völlig und nicht vollständig, aber er bietet die Grundlage dafür, dass am Ende der jetzt beginnenden entscheidenden Phase der PDS-Programmdebatte ein solches politisches Parteiprogramm steht.

Der 1989 eingeleitete Erneuerungsprozess der SED-Nachfolgepartei wird erst dann einen vorläufigen Abschluss gefunden haben, wenn die politische Handlungsfähigkeit der PDS in der heutigen deutschen Gesellschaft mit ihrer europäischen und globalen Einbindung in aller Breite hergestellt und auch programmatisch reflektiert ist. Erst dann hat Sozialismus in Deutschland als demokratische und soziale, auch ökologische Alternative zu den gegenwärtigen Verhältnissen wieder eine wirkliche Chance.

Doch genau diese politische Absicht steht immer wieder in Rede. Noch immer ist die PDS - in Selbstverständnis wie Außenwahrnehmung - in erster Linie ein ideologisches Phänomen, nicht eine politische Größe. Fast alle relevanten Akteure führen die Auseinandersetzungen spontan am liebsten in den vertrauten ideologischen Räumen - und sie scheuen die politischen. Bald könnte die PDS ein Dutzend Programmentwürfe haben. Aber: "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme", schrieb Marx 1875 (fast schon bernsteinianisch) in seinem Begleitbrief zu Kritik des Gothaer Programms an Wilhelm Bracke. Der jetzt vorliegende offizielle Programmentwurf setzt nicht auf Sieg im ideologischen Konflikt, sondern zielt darauf, einer pluralistischen sozialistischen Partei gemeinsame Schritte wirklicher Bewegung zu ermöglichen. Er ist Resultante einer mittlerweile zweijährigen intensiven Debatte. Man sollte jetzt auf dieser Grundlage die Debatte in den nächsten zwei Jahren zum nötigen politischen Ergebnis bringen - und sie nicht auf den ideologischen Ausgangspunkt von vor zwei Jahren zurück zwingen.

2.

Ein politisches Programm ist auch kein wissenschaftlicher Forschungsbericht. Das Programm einer pluralistischen Partei kann weder ein Sammelsurium von Versatzstücken der einzelnen in ihr vertretenen Richtungen und Strömungen noch die Unterwerfung unter einen einzigen theoretischen Ansatz sein. Der jetzt vorgelegte offizielle Entwurf führt nicht platt zurück zum "wissenschaftlichen Sozialismus" in den Formen des 19. Jahrhunderts, schon gar nicht zur realsozialistischen Staatsdoktrin des "Marxismus-Leninismus" im 20. Jahrhundert - er beharrt aber auch nicht darauf, den "modernen Sozialismus" zum ideologischen Grunddogma der PDS zu machen. Mit Blick auf die Autoren ist dies eine besondere Leistung. Ihnen ist ein politischer Text gelungen, der die eigene wissenschaftliche und propagandistische Ambition zugunsten von Integrationskraft, Offenheit und Gemeinsamkeit im Handeln - heute und mit sozialistischer Perspektive - zurückstellt.

Das Bekenntnis zum und das Festhalten am Pluralismus - sowohl in Bezug auf die Gesellschaft als auch mit Blick auf die eigene Partei - ist und bleibt für die PDS ein hoher Wert. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Pluralismus innerhalb der Linken heute auch die Bewegungsform der anhaltenden Krise der Linken und ihrer mannigfachen Ratlosigkeiten und unfertigen Bewältigungsmuster ist. Er ist es aber eben nicht nur. Er ist auch die Voraussetzung für Kreativität - eine Voraussetzung, die unter staatssozialistischen Verhältnissen und vom Parteikommunismus des 20. Jahrhunderts ausgeschaltet, bestenfalls auf arrogante Art gering geschätzt wurde.

Ein aktives Verhältnis zum Pluralismus ist aber auch eine zentrale Voraussetzung für politisches Wirken in der heutigen Gesellschaft und unter den Bedingungen nach dem Epochenbruch von 1989/90. Die SED bewegte sich selbstverständlich neben und außerhalb der kapitalistischen Wirklichkeit in der BRD - wo sonst? Auch linke Kräfte, die ihren zentralen Bezugspunkt - kritisch oder apologetisch - in der Tatsache hatten, dass eine wie auch immer geartete alternative Welt zur sie selbst umgebenden kapitalistischen Wirklichkeit bestand, konnten sich gedanklich in eine Position neben und außerhalb der eigenen Gesellschaft begeben.

Für die PDS besteht diese Möglichkeit nicht. Erkennt sie das nicht, wird sie nostalgisch oder verträumt. Beides ist unpolitisch. Es gibt nur einen Weg: sich mit allem Ernst auf die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der heutigen Gesellschaft einzulassen - und sich somit in sie hinein zu begeben und sie mit dem Anspruch auf Veränderung politisch zu durchschreiten. Die Hauptgefahr auf diesem Wege ist die vielfältige Gefahr der politischen Illusion - von der Unterschätzung der gegebenen Verhältnisse, Strukturen und Institutionen (ihrer progressiven Potenziale wie ihrer konservativen Blockadewirkung) bis hin zur Überschätzung der eigenen Kräfte.

Zu Recht begann die Wiederaufnahme der programmatischen Debatte auf dem Berliner Bundesparteitag vom Januar 1999 mit einer klaren Rückbesinnung auf den Begriff Kapitalismus und dem Bestreben, den heutigen Kapitalismus komplex und präzise zu erfassen. Die Reden von Lothar Bisky und Dieter Klein machten das deutlich. Der Anspruch auf eine umfassende und tiefgehende Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus bestimmte seither die programmatische Arbeit wie auch die Debatte. Inhaltlich gab es dazu viel Streit, im Anliegen waren sich alle Beteiligten einig. Entsprechend umfangreich ist der analytische Teil im vorliegenden Entwurf ausgefallen. Er enthält viel an Argumentation und Begründung für den bevorstehenden Diskurs. Es steht zu vermuten und auch zu hoffen, dass im Ergebnis dessen der entsprechende Teil im 2003 zu beschließenden Programmtext knapper und akzentuierter ausfällt.

Traditionell legt die sozialistische Linke großen Wert auf die ökonomische Seite der Probleme. In der Debatte wie letztlich im Resultat müssen allerdings die Fehler der alten "marxistischen Orthodoxie" vermieden werden, die schon Friedrich Engels in seinen Altersbriefen vehement bekämpfte: "Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase." (Hervorhebungen beim Autor - T.F.) Die ökonomischen Verhältnisse samt ihren sozialen Implikationen - als ökonomische Machtverhältnisse, ökonomisches Funktionsgerüst der Gesellschaft wie auch und besonders die Entwicklung der Produktivkräfte - setzen sich gerade eben nicht an sich quasi mit der Unausweichlichkeit der Gewalt eines Wirbelsturmes durch - sondern vermittelt durch gesellschaftliche, durch politische Akteure. Und die sind a priori auch nicht nur blinde Vollstrecker. " ... die verschiedenen Momente des Überbaus - politische Formen des Klassenkampfes und seine Resultate - Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. - Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, über auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus", betont Engels weiter. Und sagt, "dass das Endresultat stets aus den Konflikten vieler Einzelwillen hervor geht ... Aber daraus, dass die einzelnen Willen - von denen jeder das will, wozu ihn Körperkonstitution und äußere, in letzter Instanz ökonomische Umstände (entweder seine eignen persönlichen oder allgemein-gesellschaftliche) treiben - nicht das erreichen, was sie wollen, sondern zu einem Gesamtdurchschnitt, einer gemeinsamen Resultante verschmelzen, daraus darf doch nicht geschlossen werden, dass sie = 0 zu setzen sind. Im Gegenteil, jeder trägt zur Resultante bei und ist insofern in ihr einbegriffen."

Genau dies beschreibt die Situation, in der die PDS heute auch wirkt. Die Situation, die sie einerseits programmatisch für sich reflektieren muss - und die sie andererseits programmatisch hinein sprechen muss. Der Resultante geht keine Kakophonie voraus, sondern ein Ringen unterschiedlicher Akteure, die aber sehr wohl aufeinander sowie auf vor der Gesellschaft insgesamt stehende Herausforderungen bezogen sind.

3.

Wieviel Sozialismus muss ein PDS-Programm enthalten? Und in welcher Maßeinheit bemisst sich der Sozialismusgehalt eines Textes? Die Debatte darüber hat ohne jeden Zweifel auch - und nicht an letzter Stelle - eine ehrabschneiderische Dimension. Wer um Gefolgschaft kämpft, ist schnell verleitet, den Konkurrenten in den Augen der Umworbenen herab zu setzen. Wer den totalen Triumph der eigenen Sichtweise will, der kann sich nicht nur mit den Inhalten seiner Kontrahenten auseinander setzen, der muss diesen Sichten und ihren Trägern die Legitimität absprechen, die Reputation nehmen.

Wer mit dem "Sozialismusgehalt" eines Textes operiert, der spielt letztlich mit dem Verhältnis von Wohlbefinden und Unwohlsein, von Eingänglichkeit und politisch-intellektueller Herausforderung beim Lesen eines Textes. Freilich: Das gilt für alle Seiten.

Im Wissen darum dennoch eine Bemerkung zu dem von den Gegnern des offiziellen Entwurfs erhobenen Vorwurf, er sei weniger sozialistisch als das Parteiprogramm von 1993. Ein PDS-Grundsatzprogramm muss Antwort geben auf die Frage, von welchem Sozialismusbild sich die Partei in ihrer Politik leiten lässt, was das Sozialistische an ihrer Politik ist und wie sich Vision oder Fernziel mit dem heutigen Wirken und mit den Grundsätzen ihres heutigen Wirkens verbinden.

Das Programm von 1993 gibt darauf im Abschnitt 3 "Sozialistische Erneuerung" Antwort. Die beiden Kernpassagen lauten:

"Der Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel - eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der Einzelnen ... zur Bedingungen der freien Entwicklung aller geworden ist. Sozialismus ist für uns eine Bewegung gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, gegen patriarchalische Unterdrückung, gegen die Ausplünderung der Natur, für die Bewahrung und Entwicklung menschlicher Kultur, für die Durchsetzung der Menschenrechte, für eine Gesellschaft, in der die Menschen ihre Angelegenheiten demokratisch und auf rationale Weise regeln. Sozialismus ist für uns ein Wertesystem, in dem Freiheit, Gleichheit und Solidarität, menschliche Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, Erhalt der Natur und Frieden untrennbar verbunden sind."

"Die konkreten Ziele der sozialistischen Bewegung ergeben sich aus den realen Widersprüchen und Konflikten und aus den herangereiften Entwicklungspotenzialen, nicht aber aus einem abstrakten Geschichtsplan. Angesichts der drängenden Nöte kämpfen wir um alternative Entwicklungswege. Sie werden das Resultat politischer Auseinandersetzungen sein, die bereits heute geführt werden."

Darauf - sowie auf den damit verbundenen Aussagen im Teil zum Selbstverständnis der PDS - ruhte die gesamte erfolgreiche pragmatische sozialistische Reformpolitik mit alternativer gesellschaftlicher Perspektive der PDS in den 90er Jahren. Der gesamte übrige Programmtext setzte diese beiden Passagen voraus, ohne sie jedoch weiter auszuführen.

Aus guten Gründen und sehr bewusst setzten sowohl die Programm-Kommission als auch die diejenigen, die im Frühjahr 2000 vor dem Münsteraner Bundesparteitag den Beschlussentwurf zur Weiterführung der programmatischen Debatte aushandelten, sowie die Delegierten, die diesen Beschluss mit überwältigender Mehrheit annahmen, gerade darauf, die Sozialismusbestimmung des Abschnitts 3 als auch die Aussagen zum Selbstverständnis im Abschnitt 5 nicht nur im Kern beizubehalten, sondern sie der Überarbeitung des Programms zu Grunde zu legen. Der offizielle Entwurf tut nun genau das.

Der Gedanke, dass Sozialismus für die PDS Ziel, Bewegung und Wertesystem zugleich ist sowie aus Auseinandersetzungen hervor geht, die schon heute geführt werden, wird nicht nur zitiert, sondern durchzieht den gesamten Text. Insofern bietet der Entwurf weit mehr an Sozialismus als das geltende Programm.