Vom ,Update` des Betriebsverfassungsgesetzes zur Mitbestimmung

Diskussionspapier

in (11.12.2000)

"Für GewerkschafterInnen bleibt Arbeit - ungeachtet der Debatte über ein mögliches Ende der Arbeitsgesellschaft - als organisierendes Zentrum des Alltags der Fokus ihres Engagements..."

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

in unserem Seminar ,,Vor der Reform der Betriebsverfassung: Anforderungen an Mitbestimmung im globalen Kapitalismus" vom 8. bis 10. September 2000 in Tabarz hat sich eine Redaktionsgruppe konstituiert, die dieses Diskussionspapier verfasst hat. Da wir der Meinung sind, wichtige konträre Ansichten zur gegenwärtigen Diskussion über Perspektiven gewerkschaftlicher Mitbestimmungsforderungen (Kommission Mitbestimmung) bzw. bedenkenswerte Ergänzungen zu den Forderungen des DGB zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes formuliert zu haben, entstand dieses Papier. Insgesamt sind wir der Auffassung, dass das Thema Mitbestimmung bislang zu stiefmütterlich behandelt wird. Mit diesem Papier möchten wir Diskussionen unter Kolleginnen und Kollegen sowie in unseren Gewerkschaften anstoßen.

Die vom DGB geforderten Reformen des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) halten wir durchgängig für richtig und hilfreich. Sie unterscheiden sich wohl tuend von den Positionen der ,,Kommission Mitbestimmung" von Hans-Böckler-Stiftung und Bertelsmann-Stiftung, deren Ergebnisse wir nur als eine Unterwerfung zentraler ArbeitnehmerInnenansprüche unter die betriebswirtschaftliche Standortlogik werten können. Die Mitträgerschaft führender Gewerkschaftsvertreter und Gewerkschaftsvertreterinnen an den ,,Empfehlungen" der Kommission Mitbestimmung halten wir daher für skandalös.

Trotz der grundsätzlichen Zustimmung unseres Seminares zu den DGB-Forderungen halten wir die im Rahmen der Kampagne ,,Neues Handeln - Zeit für Reformen in Betrieb und Verwaltung" bisher formulierten Forderungen für diskussionswürdig, teilweise für problematisch sowie insgesamt für nicht weit reichend genug.

Die vorgeschlagene Neuregelung des § 14 (a) BetrVG ist unseres Erachtens problematisch: Die Vorteile des vorgeschlagenen, entbürokratisierten Wahlverfahrens, das wir insbesondere bei einer erstmaligen Betriebsratswahl für erforderlich halten, wären, wenn es generell in Betrieben bis 100 Beschäftigten durchgeführt würde, mit schwer wiegenden Nachteilen verbunden. So hätte der Arbeitgeber nach unserem Dafürhalten in einem solchen Verfahren größere Chancen als bisher zur rechtswidrigen, häufig aber kaum nachweisbaren Einflussnahme. Zudem halten wir die Berücksichtigung von ausländischen Kollegen und Kolleginnen, von MitarbeiterInnen aus verschiedenen Arbeitsbereichen und Nebenbetrieben, vor allem aber der Frauen durch das verkürzte Wahlverfahren des Betriebsratsgremiums für gefährdet.

Auch bleibt der Ausbau des bisherigen Beratungsrechtes des Betriebsrates bei der Personalplanung im § 92 zu einem Mitbestimmungsrecht wegen des Fehlens einer Verpflichtung des Arbeitgebers zur Umsetzung der mitbestimmten Personalplanung leider folgenlos.

Für wichtig halten wir dagegen insbesondere die Forderungen zur Erweiterung der Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte bei wirtschaftlichen Entscheidungen, wie die Neuregelungen der §§ 87 (a) Abs. 4 (Festlegung des Arbeitsumfangs) und 111 (a) (Mitbestimmung beim Interessenausgleich) in den Betrieben zu propagieren, um sie durchsetzbar zu machen. Entsprechend verwundert waren die SeminarteilnehmerInnen darüber, dass von Gewerkschaftsseite weder in der Öffentlichkeit noch in den Betrieben für eine Ausweitung unserer Mitbestimmungsforderungen ernsthaft geworben wurde. Wir haben deshalb im Seminar verabredet, in unseren jeweiligen gewerkschaftlichen Handlungsräumen entsprechend aktiv zu werden.

Trotz einer grundsätzlich positiven Bewertung des DGB-Entwurfs sind wir der Auffassung, dass eine ,,Modernisierung" des BetrVG im Sinne eines schlichten ,,Update" nicht ausreichend ist. Das Betriebsverfassungsgesetz ist nicht nur in die Jahre gekommen, sondern sicherte den abhängig Beschäftigten in seiner Grundkonzeption zu keiner Zeit tatsächliche Mitbestimmungsmöglichkeiten über betriebliche und wirtschaftliche Fragen. Der alleinige Bezug der Mitbestimmungsdiskussion auf die jeweils miteinander konkurrierenden Einzelbetriebe und deren betriebswirtschaftliche Rationalität verhindert eine konsequente Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen. An weiter reichende Vorstellungen von überbetrieblicher Mitbestimmung wird in diesem Kontext kaum mehr gedacht.

In diesem Zusammenhang möchten wir an die Idee der Wirtschaftsdemokratie erinnern: Bereits Mitte der 20er-Jahre wurde innerhalb der deutschen Gewerkschaftsbewegung das Konzept der ,,Wirtschaftsdemokratie" als umfassender Mitbestimmungsansatz entwickelt (vgl. Fritz Naphtali, Hg. ; Wirtschaftsdemokratie - Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 1928). Dessen Spuren finden sich auch heute in programmatischen Aussagen der Gewerkschaften. Neben dem Ausbau von öffentlichen, gemeinwirtschaftlichen und genossenschaftlichen Wirtschaftsbetrieben wurde seinerzeit insbesondere in Ergänzung zur - weiter zu entwickelnden - Betriebsverfassung die Errichtung von paritätisch beschickten Wirtschaftsräten auf Bezirks- und Reichsebene sowie z.T. auf Branchenebene gefordert. Diese sollten wirtschaftspolitische Entscheidungen treffen und somit schrittweise die ,,leitenden Organe der Wirtschaft aus Organen der kapitalistischen Interessen in solche der Allgemeinheit" (ebenda S. 15) umwandeln. Historisch betrachtet verlor man nach der Einführung der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie in den Jahren 1947/48, der Phase der Restauration und der damit verbundenen Niederlagen bei der Neuordnung der Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung allmählich das weit reichende Konzept der Wirtschaftsdemokratie aus den Augen. Fragen der innerbetrieblichen Mitbestimmung standen zunehmend im Vordergrund.

Sicher muss aus heutiger Sicht vieles am Konzept der Wirtschaftsdemokratie neu überdacht werden. Die Gefährdung des Öko-Systems, die mit der internationalen Wirtschaftsverflechtung einhergehende Ausgrenzung vieler Länder der Peripherie sowie ganzer Regionen in den kapitalistischen Metropolen ließen sich in den 20er-Jahren noch nicht erahnen. Ebenso wenig konnte die sich vollziehende Transformation der Industrieländer zu ,,postfordistischen Gesellschaften" - mit den damit verbundenen Verschiebungen in den Branchengewichten und -strukturen, Formen der Arbeit und der Lebensführung - vorhergesehen werden. Daher ist etwa der damalige nationale Rahmen des Konzeptes der Wirtschaftsdemokratie nicht mehr zeitgemäß. Weiterhin wären in den Gremien der wirtschaftlichen Mitbestimmung heute zumindest auch VertreterInnen von Umweltschutzorganisationen aufzunehmen. Schließlich sind neuere Erfahrungen der demokratischen Teilhabe wie der ökonomischen Steuerung zu berücksichtigen. Von Bedeutung erscheinen uns hierbei u.a. Konzepte der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik, die Idee demokratisch verfasster wirtschaftlicher Selbstverwaltungskörper und der Investitionslenkung.

Die Gesetzgebung kann zwar nicht ignorieren, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von der Logik der Gewinnmaximierung dominiert wird. Dennoch darf diese nicht zur Folge haben, dass die Gewerkschaften sich diesem Dogma beugen. Die Einflussnahme der betrieblichen Interessenvertretungen auf wirtschaftliche Fragen würde so der Standortlogik und den Unternehmerinteressen geopfert. Daher darf die Diskussion um Mitbestimmung nicht an der Investitionsautonomie der Unternehmer Halt machen. Denn eine auf allgemeine Belange gerichtete Steuerung wirtschaftlicher Tätigkeiten, wie des ökologischen Umbaus der Gesellschaft, der sozialen Steuerung des Strukturwandels oder der Gestaltung von Arbeit und Technik würde an der betriebswirtschaftlichen Logik des Einzelunternehmens scheitern. Unter den heutigen Bedingungen eines verschärften internationalen Wettbewerbs bringt diese Logik nichts als eine konkurrenzielle Anpassungsspirale einzelner Unternehmen, Kommunen, Regionen und Staaten um günstigere Wettbewerbsbedingungen hervor. Dass hierbei soziale und ökologische Gesichtspunkte häufig nur als Kostenfaktoren betrachtet werden, die von Unternehmen auf die Gesellschaft, von einzelnen Staaten auf andere Länder, von den Zeitgenossen auf künftige Generationen abgewälzt werden, ist kein Geheimnis. Die mikroökonomische Rationalität neoliberaler Politik wird damit gesamtgesellschaftlich betrachtet irrational. Der neoliberalen Utopie der Verbetrieblichung sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche ist gesellschaftlich-verantwortliche Vernunft entgegenzusetzen. Dies bedeutet aber auch, dass sich gerade heute, unter den so genannten Bedingungen der Globalisierung, eine perspektivische Politik der Demokratisierung nicht auf den betrieblichen oder unternehmerischen Bereich beschränken darf. Für GewerkschafterInnen heißt dies zunächst, für die längst überfällige Reform des Betriebsverfassungsgesetzes einzutreten, der Erosion der Flächentarifverträge entgegenzutreten, eine europäisch abgestimmte Tarifpolitik einzuleiten und auf die Etablierung internationaler Sozial- und Umweltstandards sowie Kapitalverkehrskontrollen hinzuwirken.

Für GewerkschafterInnen bleibt Arbeit - ungeachtet der Debatte über ein mögliches Ende der Arbeitsgesellschaft - als organisierendes Zentrum des Alltags der Fokus ihres Engagements. Ohne Demokratie in der Gesellschaft kann es jedoch auch keine Demokratie in der Arbeitswelt geben. Die Elemente einer Demokratisierung der Wirtschaft sind deshalb einzubetten in eine umfassendere Strategie der Demokratisierung des Alltagslebens. Hierzu gehört die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit, eine Politik der Gleichstellung der Geschlechter und der Solidarität mit unseren ausländischen MitbürgerInnen, die Ausschöpfung und Ausdehnung partizipativer Gestaltungschancen am Arbeitsplatz, in den Betrieben, den Kommunen und Ländern. Eine dieser Perspektive verpflichtete Politik wird eine Dynamisierung hervorbringen, die der ökonomisch verkürzten Politik eines ,Jeder gegen Jeden' eine auf Solidarität, Internationalität und Nachhaltigkeit setzende Alternative voranbringen.

Rudi Abel, IGM, Mühlheim-Kärlich

Heinz Adami, IGM, Wabern

Harald Becker, IGM, Crossen

Joachim Braun, IGM, Rödermark

Julika Bürgin, hbv, Erfurt

Gert Gohde, IGM, Marburg

Vilja Großkopf, hbv, Großlöbichau

Johanna Helch, hbv, Schönau

Corinna Hersel, hbv, Haßleben

Simone Herzog, IGM, Gera

Rolf Hesse, IGM, Schmalkalden

Robert Hinke, ÖTV, Jena

Peter Hintermeier, IGM, Sömmerda

Stephan Huber, IGM, Dunzweiler

Andreas Huhn, IGM, Kassel

Thilo Kämmerer, IGM, Offenbach

Gerhard Küther, IGM, Philippsburg

Renate Licht, IGM, Erfurt

Angelo Lucifero, hbv, Erfurt

Yorck Meißner-Azerodt, IGM, Rotenburg/F.

Helmut Müller, hbv, Jena

Jürgen Neubert, ÖTV, Hayn

Manfred Olbrisch, IGM, Zotzenheim

Gabriele Quensel, hbv, Hörningen

Elke Redinger, IGM, Zweibrücken

Gerhard Roos, hbv, Jena

Martin Sacher, ÖTV, Erfurt

Oliver Simon, IGM, Dunzweiler

Astrid Striehn, hbv, Stotternheim

Bernd Vorlaeufer-Germer, ÖTV, Bad Homburg

Jörg Zimmermann, hbv, Erfurt

TeilnehmerInnen und Team des Wochenendseminars ,,Vor der Reform der Betriebsverfassung: Anforderungen an Mitbestimmung im globalen Kapitalismus" vom 8. bis 10. September 2000 in Tabarz; veranstaltet vom DGB-Landesbezirk Thüringen, DGB-Bildungswerk Thüringen e.V., hbv Thüringen, IGM Bezirksleitung Frankfurt.