Einschätzungen zur Situation
Gewaltsam eskalierte Konflikte und Kriege stellen Wissenschaft, Soziale Bewegungen und Publizistik international immer vor mehrere Herausforderungen: wie adäquat auf die Krise reagieren? Wie Solidarität zeigen und leben, die nicht nur wohlfeil, anmaßend oder paternalistisch ist? Wie Einfluss auf das Konfliktgeschehen nehmen und dabei friedenspolitisch sinnvoll handeln? So stellt natürlich auch der Krieg gegen die Ukraine dieselben Fragen an uns. In den folgenden Beiträgen versuchen die Mitglieder der Redaktion eine erste vorsichtige Sortierung dessen, was Friedenswissenschaften zur Lösung und Transformation des Konfliktes beitragen könnten, welche Dynamiken es kritisch zu hinterfragen gilt und welche Fragen noch offen sind.
Manche Überlegungen in diesem Schwerpunkt sind noch roh, manche könnten zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Heftes schon wieder hinfällig sein, dennoch wollen wir uns an einer – wie immer temporären – Einordnung versuchen.
Alles über Bord werfen?
Friedenswissenschaft und Friedensbewegung im Kontext des Ukrainekrieges
von Melanie Hussak und Jürgen Scheffran
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Russland in der Ukraine hat die Koordinaten der internationalen Ordnung durcheinandergewirbelt. Glaubt man der Darstellung in Massenmedien und Regierungspolitik, herrscht zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Krieg in Europa, ungeachtet der Kriege in Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion nach 1990. Es wird der Eindruck erweckt, die liberale Weltordnung habe über drei Jahrzehnte den Frieden in der Welt gesichert und wurde nun plötzlich durch einen skrupellosen Diktator aus dem Dornröschenschlaf gerissen. Unter dem Diktat der ausgerufenen »Zeitenwende«, in der alles von der Kriegslogik beherrscht wird, seien frühere Gewissheiten über Krieg und Frieden obsolet oder naiv geworden. Gehört die Friedenspolitik insgesamt auf den Prüfstand?
Wir sehen das nicht so, denn gerade dieser Krieg bestätigt einmal mehr viele frühere Erkenntnisse. Es kann nicht alles über Bord geworfen werden, was zuvor richtig war und auf die Gefahren dieser vertrackten Situation hingewiesen hatte. Im Vorfeld des Krieges gab es genügend Warnungen, die zum Krieg führenden Triebkräfte zu vermeiden und die Eskalationsspirale einzudämmen. Um den Nebel des Krieges zu durchdringen, braucht es dieses Wissen.
Gibt es eine Mitverantwortung?
Die im Westen vorherrschende Meinung ist, dass Wladimir Putin, getrieben von imperialen russischen Großmachtambitionen, allein für diesen Krieg verantwortlich sei. Während dies mit Blick auf den Befehl zum Angriffskrieg korrekt ist, wird die Reduzierung auf einen einzelnen Kriegsaggressor den Dynamiken innerhalb der russischen Führung und Bevölkerung nicht gerecht. Schon vor dem Krieg gab es das geopolitische Ringen zwischen der Durchsetzung der liberalen Weltordnung auf der einen und gezielten Regelverstößen dagegen auf der anderen Seite.
Dieser Konflikt ist nicht zu verstehen ohne die Mitverantwortung des Westens für die vorangegangene Konflikteskalation (vgl. u.a. Zumach 2022). Westliche Staaten (allen voran die USA) haben selbst nicht immer Rücksicht auf ihre eigenen Prinzipien genommen, auch nicht auf das Völkerrecht und seinen Beitrag zum Weltfrieden (vgl. Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). So wurden die Chancen für nukleare Abrüstung und die atomwaffenfreie Welt nicht genutzt, bestehende Verträge beiderseits in Frage gestellt bzw. aufgekündigt, neue Abkommen wie der Atomwaffenverbotsvertrag oder die Kontrolle der Weltraumrüstung blockiert. Mit verschiedenen Militärinterventionen haben sich die Hardliner gegenseitig in die Hände gespielt. Die am Krieg verdienende Rüstungsindustrie und Militärstrategen drängen schon länger auf eine »Zeitenwende« geopolitischer Machtkämpfe und eine forcierte Aufrüstung. Die westliche Drohkulisse hat Russland jedoch nicht vom Angriff auf die Ukraine abgehalten. Wurden vor zwei Jahrzehnten Warnungen vor einem kommenden Kalten Krieg noch ignoriert (Scheffran 2000), reden heute fast alle von einem neuen Kalten Krieg oder gar Weltkrieg.
Lehren aus Konfliktanalysen ziehen
Was bleibt in dieser Situation? Lehren aus Konfliktgeschichte und -analyse wurden in diesem Krieg bislang vielfach ignoriert. (Selbst-)Kritische Ansichten werden diskreditiert durch den politisch-medialen Komplex, in dem der Westen Opfer, aber nicht Täter ist. Jede eigene Verantwortung für die Vermeidung der Ursachen wird zurückgewiesen. Der Ukrainekrieg bestätigt jedoch in vielfacher Weise frühere Erkenntnisse der Friedenswissenschaft und -bewegung, darunter:
- Statt Sicherheit zu schaffen, erhöhen Militär und Rüstung die gegenseitige Bedrohung, die Gegenmaßnahmen und ein Wettrüsten fördert. Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete gießen Öl ins Feuer, verstärken Sicherheitsdilemmata und Gewaltspiralen und verlängern den Krieg.
- Rüstung und Krieg verbrauchen Finanzmittel und Ressourcen, die für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme nicht zur Verfügung stehen, Umwelt und Klima belasten. Wie andere Krisen und Konflikte der letzten Jahre hat auch dieser Krieg viel mit der expansiven Geschichte kapitalistischer Systeme zu tun, die an verschiedene Grenzen stößt, Umbrüche und Krisen verursacht (Scheffran 2021).
- Die Systemgrenzen bedingen auch die Renaissance von nationalistischen, autoritären und identitären Verhaltensmustern, die verbunden sind mit gewaltbereitem Großmachtstreben. Dies gilt nicht nur für Russland oder China, sondern gerade auch für die liberalen Demokratien, die im Kampf um ihre Hegemonie Prinzipien über Bord werfen. So wird dem Vorrang für das Zivile und das Gewaltverbot in den internationalen Normen schrittweise die schon dünne Luft entzogen, wodurch die Möglichkeiten gewaltfreier Konflikttransformationen immer kleiner werden.
- Die Eigendynamik militärischer Gewalt und Eskalation destabilisiert die internationalen Beziehungen, fördert Bedrohungsängste, lässt sich schwer stoppen, erschwert die Suche nach Auswegen und Lösungen (vgl. W&F Ausgabe 3/2015 zu Friedensverhandlungen).
- Mediale Berichterstattung verstärkt oft Empörungsreflexe wie in einer Echokammer, schafft Feindbilder und Blockkonfrontation (siehe W&F Dossier 80).
- Militärische Mittel sind für die Bewältigung (sicherheits-)politischer Herausforderungen unserer Zeit (Klimawandel, Pandemien, Ressourcen, Terrorismus, Cyberkonflikte, vernetzte Sicherheit) schlecht geeignet und behindern ihre kooperative Lösung. Sicherheitspolitik sollte vielmehr einer Friedenslogik folgen, die Kriege vermeidet, statt sie zu führen. Das Wissen über Friedenslösungen muss genutzt werden (vgl. W&F Dossier 75)
Alternativen denkbar machen
Dieser Krieg hat globale und systemische Auswirkungen, wie lange kein anderer vor ihm. Die unmittelbaren Folgen treffen hauptsächlich die Menschen in der Ukraine, aber auch die Bevölkerung Russlands und Menschen in der ganzen Welt. Die Schäden und Kosten zerstören allerdings auch die Bedingungen für eine nachhaltige Friedensordnung und ein wieder denkbarer Atomkrieg riskiert das Ende der Menschheit. Problematisch sind auch Wirtschaftskriege, Waffenlieferungen oder Militäraktionen, die die Eskalationsspirale vor und in diesem Krieg angeheizt haben, ebenso Sanktionen, die die Bevölkerung weltweit treffen (vgl. Werthes und Hussak in dieser Ausgabe, S. 18).
Es bedarf also der Alternativen. Zu unterstützen ist humanitäre Hilfe für Flüchtlinge und Opfer von Gewalt, ebenso der Ausbau der Verbindungen zur Zivilgesellschaft und Friedensbewegung in Russland und der Ukraine, um Bewegungen zur Beendigung des Kriegs zu mobilisieren. Die Zivilgesellschaft muss mit ihren zivilen Prinzipien für menschliches Zusammenleben und Konfliktlösung überall gefördert werden, ebenso Deeskalation und Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen und Rückzug der Waffen. Weiterhin braucht es Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit setzt auf Diplomatie und »Win-Win«-Lösungen und berücksichtigt nicht nur die eigenen Sicherheitsinteressen, sondern auch die anderer Akteure.
Statt einer »Zeitenwende« für Konfrontation, Aufrüstung und Krieg, brauchen wir eine Zeitenwende für Kooperation, Abrüstung und Frieden, für gemeinsame Sicherheit, Nachhaltigkeit und die Lösung der globalen Probleme durch tragfähige Konzepte für eine »lebenswerte Welt« im gemeinsamen Haus der Erde (Scheffran 2022). Doch dafür müssen diese Konzepte auch gehört und angewendet werden.
Notwendige Verschiebungen in der Friedensforschung?
Die Ereignisse der vergangenen Wochen führen zu alten wie neuen Debatten in Friedensforschung und -bewegung. Sie betreffen Themen wie die europäische Sicherheitsordnung, Aufrüstungsprogramme und Möglichkeiten einer raschen Energiewende. Sie zeigen aber auch die Notwendigkeit neuer thematischer Schwerpunktsetzungen, die zwar vielfach benannt wurden, aber dennoch zu wenig innerhalb der Friedens-Community Raum gefunden haben. So könnte dieser Krieg für die Friedensforschung bedeuten, Frühwarnsystemen wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und auch stärker militärische Analysen und Szenarien in Risikobewertungen einzubeziehen, auch wenn deren Konfliktbearbeitungsmethoden strikt abgelehnt werden. Zudem bedarf es einer stärkeren Beschäftigung mit politischen Desinformations- und Destabilisierungsbestrebungen Russlands im Ausland sowie deren Unterstützung durch europäische rechte Parteien.
Blickt man auf die zahlreichen Stellungnahmen zum Kriegsausbruch aus Wissenschaft und Bewegung, so wird ein breiter Konsens über eine verpasste Chance der Prävention deutlich (siehe Dokumentation, S. 27). Der größte Handlungsspielraum wird der präventiven Friedensarbeit zugeschrieben, die Instrumentarien wie Dialog und Verhandlung auf unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Ebenen entfaltet (Fischer 2022). Zudem herrscht breite Einigkeit darüber, dass eine nachhaltige Friedensordnung nicht ohne Russland zu erreichen ist.
Uns scheint ein stärkeres Zusammenwirkens von Friedensforschung, Friedensbewegung und Friedenspädagogik unumgänglich. Jede*r dieser Akteur*innen der Friedens-Community kann für je andere Handlungsebenen und Phasen von Konflikten wichtige Beiträge leisten. Der Krieg in der Ukraine kann ein – wenn auch trauriger – Anlass sein, durch die Verständigung über gemeinsame Zielsetzungen das Verhältnis mit- und zueinander neu zu überdenken und den Austausch untereinander zu stärken. Dies ist auch ein Bestreben dieser Zeitschrift.
Jede dieser drei Gruppen hat die Möglichkeit, andere Kommunikationskanäle zu adressieren, Dialogprozesse einzuleiten sowie Spielräume und Gelegenheitsfenster zu nutzen. Als ein Beispiel für ein gelungenes Zusammenwirken können die Dialogprozesse genannt werden, wie sie nach den Kriegshandlungen in den westlichen Balkanstaaten ab den 1990er Jahren unter anderem vom »Nansen Dialogue Network« (nansen-dialogue.net) durchgeführt wurden. Eine weitere Methode ist die Theaterarbeit, die vom Hamburger Regisseur Georg Genoux in Russland und der Ukraine durchgeführt wurde (Genoux 2021). Er beschreibt eindrucksvoll die individuellen wie gesellschaftlichen Transformationspotentiale von Konflikten, die in künstlerischen Prozessen entstehen können.
All dies verdeutlicht: Keinesfalls sollten friedenswissenschaftliche Erkenntnisse in Zeiten eskalierten Krieges über Bord geworfen werden; vielmehr ist es an uns, die Verstärkung von Friedensforschung zu fordern, das Verhältnis zur Friedensbewegung neu auszuhandeln und uns resolut für zivile und gewaltfreie Wege zur Konflikttransformation einzusetzen.
Literatur
Fischer, M. (2022): Krieg in der Ukraine. Blog Brot für die Welt, 27.02.2022.
Genoux, G. (2021): Die Seele heilen. Die Kraft des Theaters. Wissenschaft & Frieden 3/2021, S. 42-44.
Scheffran, J (2000): Zurück zum Kalten Krieg? Russland und der US-Hegemonieanspruch. Wissenschaft & Frieden, 2/2000.
Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedenswarte 3-4/2021, S. 205-227.
Scheffran, J. (2022): Klimaschutz für den Frieden: Der Ukraine-Krieg und die planetaren Grenzen. Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2022, S. 113-120.
Zumach, A. (2022): Putins Krieg, Russlands Krise. Le monde diplomatique, 10.03.2022.
Ein psychologischer Blick auf die Situation
von Klaus Harnack
Ein guter Indikator, wie groß unser Unvermögen ist, diesen Krieg zu verstehen und einordnen zu können, zeigt uns die in den Medien immer wieder aufgeworfene Frage „Wie erkläre ich den Kindern diesen Krieg?“ Ist diese, für sich genommen, legitime Frage, nicht in Wirklichkeit eine Stellvertreterfrage, die zeigt, dass wir bei der Einordnung dieses Krieges selbst noch im völligen Dunkeln stehen? Wir finden uns im ersten Augenblick der Schockstarre mit leeren Händen bezüglich unsere Handlungsoptionen wieder, denn die meisten friedensorientierten Naturwissenschaften basieren auf einem Präventions- anstatt auf einem Interventionsverständnis. Im Angesicht des eskalierten Konfliktes in der Ukraine ist es deswegen jetzt umso wichtiger, weniger auf die eigene mahnende Tätigkeit in der Vergangenheit zu referieren, als vielmehr friedenspsychologische Methoden und Erkenntnisse ausfindig zu machen, die der gegenwärtigen Kriegslogik eine fundierte Logik des Friedens entgegenstellen.
Gruppendenken und Gesichtswahrung
Mit Blick auf den Aggressor könnte die Theorie des »Groupthink« (Janis 1972) zu einer Erklärung des Entstehungsprozesses beitragen, wie es zu dem Angriff kommen konnte. Groupthink oder das Gruppendenken beschreibt einen Prozess innerhalb einer geschlossenen und isolierten Gruppe, bei der die Gruppe für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbare und objektiv schlechte Entscheidungen trifft. Dabei wird der Zusammenhalt der eigenen Gruppe für viel wichtiger gehalten als die getroffenen Entscheidungen selbst. Getrieben wird dieser Mechanismus durch die Bedrohung und Isolation der Gruppe. Die Meinungen passen sich immer mehr aneinander an und eigentlich hilfreiche divergierende Standpunkte werden zunehmend aktiv bekämpft und unterdrückt, um die selbstgeformte artifizielle Gruppendynamik zu stabilisieren. Die Abwehr von Bedrohungen der Gruppenüberzeugungen wird so zum primären Ziel. Beispiele dafür lassen sich in den absurd anmutenden, öffentlich abgehaltenen Sitzungen des russischen nationalen Sicherheitsrats in den Tagen vor Kriegsbeginn im Februar 2022 oder auch in den Entscheidungen der ukrainischen Führung, bestimmten Parteien die Ausübung ihres politischen Mandats zu verbieten, sehen.
Während die Theorie des »Groupthink« für die Entstehung der Angriffsentscheidung herangezogen werden kann, kann die Thematisierung der Notwendigkeit für einen gesichtswahrenden Ausstieg einen möglichen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation weisen. So schwer es emotional fällt, so notwendig ergibt es sich aus psychologischer Sicht, dass dem Aggressor immer auch eine Hintertür auf diplomatischem Parkett eröffnet wird. Schon Clausewitz betonte, dass nichts schwerer ist, „als der Rückzug aus einer unhaltbaren Position“, denn je mächtiger ein*e Aggressor*in seinem*ihrem Selbstverständnis nach ist, desto enger wird das eigene psychologische Korsett und umso kleiner der eigene Aktionsradius, Handlungen aus der Vergangenheit zu revidieren. Eine Chance liegt hier in der sehr diffusen Kriegsbegründung Russlands, die eine Beilegung des Krieges ohne internen Gesichtsverlust ermöglichen und eine weitere Eskalation verhindern könnte. Hier könnte sich der Kriegsapparat sowohl auf die »geglückte« Unterstützung der Separatistengebiete Luhansk und Donezk, eine Schwächung des westlichen Einflusses innerhalb der Ukraine oder um die »erfolgreiche« Abwehr russischer Nationalinteressen berufen.
Kognitive Dissonanz
Ein psychologischer Klassiker, der das Erleben mittelbar Beteiligter beschreibt, ist das durch den US-Sozialpsychologen Leon Festiger (1957) bekannt gewordene Konstrukt der »kognitiven Dissonanz«. Wie andere Konsistenztheorien beschreibt es die interne Harmonisierung von Kognitionen, Motivation und tatsächlicher Handlung, die nach Widerspruchsfreiheit im eigenen Denken strebt.
Als kognitive Dissonanzreduktion wird die Triebfeder beschrieben, die die Lücke (Inkongruenz) zwischen den eigenen Vorstellungen, Überzeugungen und Wünschen und der Realität zu schließen versucht, indem das Denken die Realitätswahrnehmung den eigenen Vorstellungen und Wünschen systematisch angleicht. Dies kann auf staatlicher Ebene durch Propaganda, aber eben auch als interner Mechanismus individuell geschehen. Die im Vorfeld des Konfliktes aufgezogenen Narrative Russlands und die von westlicher Seite getroffenen Entscheidungen, wie beispielsweise der Umgang mit der NATO-Osterweiterung, Nord Stream 2 oder die vorherige Situation auf der Krim dokumentieren diesen Prozess. Aufbauend auf dieser Erkenntnis könnten zukünftige Entscheidungen besser reflektiert und die Aussagen der beteiligten Parteien auf mögliche Interessen und Ressourcen überprüft werden, um so zukünftige Maßnahmen der Annäherung auf Basis einer breiteren Akzeptanz im politischen Diskurs besser vertreten zu können.
Grundbedürfnisse befriedigen
Für die Zeit nach einer hoffentlich baldigen Beendigung der kriegerischen Gewalt verweist das „bedürfnisbasierte Modell der Versöhnung“ (Shnabel und Nadler, 2008) auf einige grundlegende Aspekte, um den Bedürfnissen aller Konfliktparteien nachzukommen. In aller Kürze besagt das Modell, dass Opfer eine Einschränkung ihres Status und ihrer Macht erfahren haben, während Täterschaft mit einer Einschränkung der moralisch-sozialen Dimension einhergeht. Für eine Versöhnung müssen diese Verluste im Zuge einer Annäherung wieder hergestellt werden, d.h., dass das Opfer für die Bereitschaft zur Versöhnung eine Kompensation des erlittenen Kontrollverlustes benötigt, während der*die Täter*in wieder Anerkennung vom Opfer und Drittbeteiligten erfahren möchte. Dies sollte besonders in vermittelten Drittparteiengesprächen berücksichtigt werden, um den diplomatischen Prozess zu unterstützen.1
Natürlich stellt diese, wie auch die vorhergenannten Theorien immer nur Teilaspekte dar und werden in ihrer Begrenztheit der Realität nicht umfänglich gerecht; aber alle Theorien zeigen Handlungsoptionen auf, die uns aus dem Unvermögen des Verstehens und der Optionslosigkeit herausführen können. Für die Anwendung bedürfen sie der Erweiterung und Schärfung durch weitere Disziplinen, um das Ziel einer friedensorientierten Doktrin erreichen zu können. Einer Doktrin, die sowohl die gegenwärtige Situation, als auch die Situation nach Beendigung des Konfliktes im Auge hat und mit Hilfe der Werkzeuge der friedensorientierten Wissenschaften die Logik des Friedens auch in Zeiten des Krieges anwendet.
Anmerkung
1) Für weitere mögliche Lektionen aus der psychologischen Verhandlungsforschung siehe auch Frech (2021).
Literatur
Festinger, L. (1957): A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press.
Frech, A. (2021): Frieden lernen. Eine Einführung in die Psychologie des Verhandelns. W&F 3/2021, S. 39-41.
Janis, I. L. (1972): Victims of Groupthink: A Psychological Study of Foreign-policy Decisions and Fiascoes. Boston: Houghton, Mifflin.
Shnabel, N.; Nadler, A. (2008): A needs-based model of reconciliation: Satisfying the differential emotional needs of victim and perpetrator as a key to promoting reconciliation. Journal of Personality and Social Psychology 94(1), S. 116-132.
Die Rückkehr des Militärischen
von Marius Pletsch, Paul Schäfer und Marek Voigt
Weltweit ist bei den Rüstungs- und Militärausgaben seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und dem bewaffneten Konflikt um die seit 2014 von Russland militärisch unterstützten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk ein deutlicher Trend nach oben zu beobachten. Neben der Rüstung gegen Russland nach 2014 waren weitere Faktoren der amerikanische Politikwechsel des »pivot to Asia« – also der Fokus auf die Einhegung der aufstrebenden Großmacht China – unter Präsident Obama und später die Wahl Trumps, welche die europäischen Staaten veranlassten, mehr für Rüstung auszugeben. Zu der internationalen Aufrüstungsdynamik tragen auch die sich intensivierenden Konflikte über die regionale Vormachtstellung in Südostasien, im Nahen und Mittleren Osten oder westliche »Stabilisierungs- und Ausbildungseinsätze« auf dem afrikanischen Kontinent – insbesondere im Sahel – bei.
Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar rückte in der Außenpolitik der Fokus wieder abrupt auf »staatliche Sicherheit«. Das ging einher mit der Wiederkehr der Abschreckungslogik(en) des Kalten Krieges und einem neuen, als »systemisch« apostrophierten Konflikt zwischen West und Ost. Beides wird diese Aufrüstungsdynamik über Jahre an Fahrt gewinnen lassen, Mittel und Aufmerksamkeit binden und Kooperation bei globalen Herausforderungen hemmen oder komplett zum Erliegen bringen. Das ist besonders tragisch, da globale Krisen wie die Klimakatastrophe nicht abwarten werden, bis die Blöcke meinen, den Systemkonflikt militärisch entschieden zu haben. Die Aktienkurse der Rüstungsschmieden nach dem Beginn des Krieges waren hier Vorboten. Es wird der „Zwang zur Abschreckung“ (Zellner 2022) ausgerufen, und Friedens- und Konfliktforscher Niklas Schörnig sagte dem evangelischen Pressedienst, „[w]ir müssen gezwungenermaßen wieder wie im Kalten Krieg denken“ (Bayer-Gimm 2022).
Deutsche Aufrüstung in einer »neuen Zeit«?
Die Ukraine wird von der Bundesrepublik mit modernen und weniger modernen Rüstungsgütern direkt unterstützt. Geliefert wurde zunächst aus dem Bestand der Bundeswehr. Da hier die Möglichkeiten erschöpft sind, werden seit Ende März auch Waffen direkt von Rüstungsunternehmen in die Ukraine verschickt.
Für die von diesen unmittelbaren Waffenlieferungen an die Ukraine gänzlich unabhängige Aufrüstung der Bundeswehr soll ein Sondervermögen in der Höhe von 100 Mrd. € geschaffen werden, abgesichert durch das Grundgesetz, zweckgebunden und ausgenommen von der Schuldenbremse. Das Geld wird noch in diesem Haushaltsjahr eingestellt. Nach dem Haushaltsentwurf von Bundesfinanzminister Lindner sieht der jährliche Haushalt 2022 50,334 Mrd. € und 2023 bis 2026 pro Jahr 50,1 Mrd. € für das Bundesverteidigungsministerium vor. Das 2 %-Ziel der NATO soll die nächsten fünf Jahre mithilfe des Sondervermögens erreicht, wahrscheinlich sogar übererfüllt werden.
Folgt man dem öffentlich vermittelten Eindruck, so handelt es sich um eine dramatische Veränderung der deutschen Politik. Der Blick auf den Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zeigt jedoch: An den dort erkennbaren Linien und den generellen Absichten und Plänen für die deutsche Verteidigungspolitik hat sich nicht viel geändert. Stichworte sind hier: rasche Klärung der Tornado-Nachfolge für die nukleare Teilhabe, Drohnenbewaffnung, Zusage und Unterstützung an multinationale Großprojekte wie dem »Next Generation Weapon System« im »Future Combat Air System« (FCAS) und dem »Main Ground Combat System« (MGCS). Damit ist offensichtlich: Die Richtung war vorgezeichnet. Allerdings sind Skrupel, Bedenken und Einwände auch aus dem Lager der jetzigen Regierungsparteien gegen diesen Kurs auf einen Streich mit der Rede von Kanzler Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag vom Tisch gewischt worden. Jetzt kann das Angedachte immens beschleunigt, finanziell abgesichert und, ohne Widerstände befürchten zu müssen, durchgezogen werden. Der Ausdruck »Zeitenwende« ist daher mit größter Vorsicht zu betrachten. Genau genommen zielt er eher auf eine Öffentlichkeit ab, die alles Weltgeschehen unter dem Primat militärischer Abschreckung einer »Politik der Stärke« betrachten soll. Die Scholz’sche Überrumpelung des Parlaments und der Öffentlichkeit passte haargenau zu dieser Art »Wende«: Über Sinn und Unsinn einer fixen Aufrüstung (2 %-Ziel), über die Beschaffung spektakulärer Waffen-Großprojekte und über die Einsatzdoktrin der Streitkräfte soll nicht weiter nachgedacht und diskutiert werden. Dabei ist die strategische Debatte, wozu die Bundeswehr von der Politik überhaupt gebraucht und eingesetzt werden soll, bitter notwendig. Herbert Wulf schreibt dazu treffend: „Zuerst Finanzen bereit zu stellen und dann zu fragen, was damit geschehen soll, ist die falsche Reihenfolge“ (Wulf 2022). Was jetzt zu sehen sei, sei „Panikpolitik, die der Bundeswehr kaum nützt“ (ebd.). Unter dem Dach des Auswärtigen Amts soll über die kommenden Monate eine »Nationale Sicherheitsstrategie« erarbeitet werden. Bis die Strategie fertig ist, werden zahlreiche wegweisende Beschlüsse schon den parlamentarischen Prozess passiert haben.
Neue Blöcke?
Die sich über die Jahre langsam, aber stetig zuspitzende neue Blockkonfrontation mit Russland und China auf der einen und »dem Westen« auf der anderen Seite wird sich durch den Krieg gegen die Ukraine beschleunigen. Präsident Biden hat bei seinem Besuch in Polen Ende März 2022 den neuen Systemkonflikt wie folgt beschrieben: Er sehe ihn als eine „große Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer regelbasierten Ordnung und einer, die von brutaler Gewalt bestimmt wird. Wir müssen dabei klar sehen: Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen“ (The White House 2022).
Was an Bidens emphatischer Rede richtig ist: Es gibt in der Tat einen weltweiten Konflikt zwischen autoritären und freiheitlichen Ordnungsvorstellungen, zwischen der konsequenten Umsetzung von Menschenrechten und ihrer Nichtachtung. Nur kann dieser Wertekonflikt nicht bestimmten Staatengruppen oder Allianzen (der »gute« Westen gegen den »bösen« Osten) zugeordnet werden. Der Blick auf die verschiedenen Partner auf der westlichen Hälfte des neuen Großkonflikts zeugt davon, dass die alte Politik der doppelten Standards fortgesetzt werden soll. Wer auf der richtigen Seite steht, darf auf milde Beurteilung hoffen, wenn es um Demokratie und Menschenrechte geht.
Auch die Europäische Union sieht sich dazu aufgerufen, in diesem Wettstreit zwischen Demokratie und Diktatur Farbe zu bekennen. Sie möchte endlich zu einem wirkmächtigen globalen Akteur werden. Offen bleibt, was der strategische Kern dieser Bemühungen sein soll: Eigenständigkeit auch von den USA oder weiter an der Seite der USA gegen Russland/China? Neokoloniale Missachtung der Belange des Globalen Südens oder strikte Ausrichtung auf die globale, gleichberechtigte Kooperation zur Verwirklichung der »Sustainable Development Goals«? Was wir stattdessen wahrnehmen, ist eine Fokussierung auf die militärische Stärkung der EU (siehe z.B. W&F 1/2021). Die durch den Krieg begünstigte relative Einigkeit zwischen den Staaten der EU soll nun genutzt werden, um diesen Prozess voranzutreiben. Der Instrumentenkoffer dafür wurde über die vergangenen Jahre prall gefüllt: die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), der Europäische Verteidigungsfonds (EDF), die Europäische Friedensfazilität oder auch die seit Jahren zunehmende Dual-Use Forschung in den Forschungsprogrammen der EU (bspw. Horizon 2020). Im Rahmen des »Strategischen Kompasses« soll nun zusätzlich eine neue 5.000-köpfige Eingreiftruppe geschaffen werden, die ab 2025 einsatzfähig sein soll (Demirel und Wagner 2022). Was davon tatsächlich umgesetzt werden wird, ist nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte nicht abschließend zu beantworten. Tatsache bleibt, dass die EU ihre hegemonialen Machtambitionen auf den oben geschilderten systemischen Konflikt ausrichten und militärisch untersetzen will. Damit bleibt auf der Strecke, dass sich die EU in den globalen Auseinandersetzungen der Zukunft als Macht des Interessenausgleichs, der globalen Zusammenarbeit, einer Politik der Deeskalation und der Abrüstung profilieren könnte.
Die NATO scheint immerhin – Stand Anfang April 2022 – nicht gewillt zu sein, sich direkt(er) am Krieg in der Ukraine zu beteiligen – die Risiken einer Eskalation und eines noch größeren Krieges mit aktiver NATO-Beteiligung erscheinen zu hoch. Dennoch werden Truppen und Material in die osteuropäischen Mitgliedsländer in Bewegung gesetzt.
Gleichzeitig ist der nukleare Schrecken zurück in den Köpfen und präsent wie seit über 30 Jahren nicht mehr, unverhohlene Drohungen eines Einsatzes dieser verheerenden Waffen inklusive. Dies ist umso bedrohlicher, da fast alle bi- und multilateralen Sicherungsinstrumente der zwischenstaatlichen Kooperation nicht mehr existieren. Im Bereich der nuklearen Waffen ist nur noch der »New Start«-Vertrag für die Begrenzung der Strategischen Nuklearwaffen verblieben, andere Instrumente der nuklearen und auch konventionellen Rüstungskontrolle wurden mal von den USA, mal von Russland aufgekündigt. Einem absichtlichen, aber auch versehentlichen Einsatz durch Fehleinschätzung und unbeabsichtigte Zwischenfälle muss vorgebeugt werden. Nukleare Abrüstung wird durch die aktuelle Eskalation nicht etwa weniger wichtig, wie die Regierungen auf beiden Seiten zu glauben scheinen, sondern umso dringender. Ein halbherziges Herangehen, wie das Deutschlands, ist nur wenig überzeugend. Dabei könnte Deutschland hier, wie Wolfgang Richter schreibt, einen wichtigen Beitrag leisten. Auch wenn das Signal für die Atomwaffen besitzenden Staaten nicht überschätzt werden solle, „die Glaubwürdigkeit seiner Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik […] würde gestärkt werden, sollte sich Berlin aus der nuklearen Teilhabe lösen und dies als Beitrag zur globalen Abrüstung kommunizieren. Als politisches Signal würde ein solcher Schritt dem NVV-Prozess einen positiven Impuls geben“ (Richter 2021, S. 99).
Auch wenn sie im Kontext von verstärkter Aufrüstung, Militarisierung und Blockbildung derzeit wenig opportun erscheinen, so müssen Optionen der Deeskalation, diplomatischen Konfliktlösung und Abrüstung jetzt erst recht auf den Tisch.
Literatur
Bayer-Gimm, J. (2022): Friedensforscher: Westen muss für Verständigung aufrüsten. evangelisch.de, 3.3.2022.
Da Silva, D.; Tian, N.; Marksteiner, A. (2021): Trends in World Military Expenditure, 2020. SIPRI Fact Sheet.
Demirel, Ö.; Wagner, J. (2022): Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU. telepolis, 26.3.2022.
Richter, Wolfgang (2021): Abrüstung, Nichtverbreitung und nukleare Teilhabe. Deutschlands europäische und globale Verantwortung. In: Maihold, G. et al. (Hrsg.): Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse. SWP Studie 15, S. 97-100.
The White House (2022): The Royal Castle in Warsaw. Warsaw, Poland. 26.3.2022.
Wulf, H. (2022): Panikpolitik. ipg-journal.de, 15.3.2022.
Zellner, W. (2022): Der Zwang zur Abschreckung: Das Dilemma des Westens. Blätter, 04/2022.
Reflexionen über pazifistisches Handeln und Solidarität
von Christiane Lammers und David Scheuing
Mit Kriegsausbruch in der Ukraine sind pazifistisch begründete Forderungen und Hinterfragungen der Kriegslogik noch weiter in Bedrängnis geraten. Pazifismus und ein Eintreten für Gewaltfreiheit wird als moralisch nicht begründbare Haltung verstanden. Das Einlassen auf die Gewaltspirale sei die einzige Möglichkeit, um die Ukraine, Moldawien und Andere – womöglich auch uns – vor dem Zugriff Putins zu retten. Bleiben noch Möglichkeiten einer gewaltfreien, solidarischen Reaktion, fragen wir uns angesichts der gewaltsamen Eskalation.
In einem Interview zur Dringlichkeit pazifistischen Handelns setzt sich der Wissenschaftsphilosoph Olaf Müller (2022) mit dem Rettungsgedanken in dieser Kriegssituation auseinander, im Sinne des Schutzes von Menschenleben: Es sei kein Verteidigungskrieg denkbar, in dessen Verlauf keine Stadt in Schutt und Asche gelegt wird. An dem Schicksal von Mariupol sehen wir, wie unbarmherzig ein entschlossener Angreifer reagiert – gerade wenn er bzw. die Soldaten sich durch militärische Gegengewalt legitimiert sehen, durch Tötung und Zerstörung die eigene Haut zu retten. Olaf Müller liegt es fern, der Ukraine die Legitimität der (auch gewaltsamen) Verteidigung abzusprechen, aber er macht auf einen schwierigen Punkt aufmerksam: Entspricht es unserem Wertesystem, tausendfache Opfer in der Ukraine in Kauf zu nehmen und, das sei von uns hinzugefügt, hunderttausendfache Hungertote, die vermutlich als »Kollateralschaden« im Globalen Süden in diesem und in den nächsten Jahren sterben werden?
Auch mit dem berechtigten Verweis auf die diesbezügliche Schuld des russischen Aggressors kann man sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Ebenso wie es uns fernliegt, der Ukraine Vorschriften zu ihrem eigenen Handeln zu machen, ist es auch unabdingbar, dass wir eigene Entscheidungen bezüglich unseres Handelns treffen und unsere deutsche und europäische Politik selbstkritisch in Zweifel ziehen. Die Hoffnung des Westens ist bislang darauf gerichtet, dass die Wehrkraft der Ukraine, unterstützt durch westliche Militärhilfe und begleitet von massiven Sanktionen gegen Russland, den Krieg beendet. NATO-Diplomat*innen und Militärexpert*innen warnen allerdings schon heute vor einem langanhaltenden Zermürbungskrieg, in dem beide Seiten nur verlieren können und die Wahrscheinlichkeiten für Kriegsverbrechen und hohe zivile Opferzahlen rasant steigen.1
Wenn der Rettungsgedanke von Müller hält, so ergibt sich also schon aus humanitären Gründen die Notwendigkeit, an der Abschaffung aller Gewaltmittel zu arbeiten. Dies allein ist jedoch unzureichend, um der Situation des Überfalls durch einen Aggressor zu begegnen. Außerdem dürfte eine solche Forderung, heute erhoben, in den Ohren der Ukrainer*innen wie Spott klingen. Zu Recht fordern sie unsere Solidarität.
Solidarität als gewaltfördernde oder -mindernde Vokabel
Doch was heißt nun »Solidarität«? Von staatlicher ukrainischer Seite wird unter Solidarität vor allem das Zurverfügungstellen von Waffenhilfe bis hin zum direkten Kriegseintritt verstanden. Wenn allseits in Europa argumentiert wird, dass letztlich vor allem Waffengewalt zählt – so z.B. bei den Begründungen für die massive Steigerung des Rüstungshaushalts in Deutschland – dann ist dies ein konsequentes Verständnis. Diese Gleichsetzung war auch in anderen gewaltförmigen Konflikten zu beobachten – z.B. in der inzwischen schon sprichwörtlichen Formel der »uneingeschränkten Solidarität«, die westliche Staaten nach dem 11. September 2001 gegenüber den USA erklärten.2
Solidarität könnte jedoch auch anders verstanden und umgesetzt werden: als gewaltminderndes Konzept, dessen Ziel es ist, vor allem Menschenleben konkret zu schützen. Hierzu zählt nicht nur die Flüchtlingshilfe, humanitäre Hilfe und alle erdenkliche Diplomatie. Es gilt auch zu prüfen, ob kurzfristig geplant Mittel des Sozialen Widerstands in dieser hoch eskalierten Situation Sinn machen.
- Zum Stichwort Flüchtlingshilfe: Es muss alles getan werden, damit Fluchtkorridore offen bleiben bzw. neu geöffnet werden. Auch Männern sowie Personen, die den Kriegsdienst verweigern wollen, muss die Flucht ermöglicht werden.
- Humanitäre Hilfe wird in großem Ausmaß und lange erforderlich sein. Es wird erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten zu begegnen sein, da die internationale humanitäre Hilfe weltweit massiv beansprucht wird.
- Bezüglich bisher öffentlich gewordener diplomatischer Initiativen ist es etwas irritierend, dass, zumindest medial vermittelt, vor allem auf westliche Regierungsvertreter*innen gesetzt wird. Schröders Treffen mit Putin wurden mit Hohn quittiert, von China verlangte man vielseits eine eindeutige Positionierung gegen die russische Regierung, die UN wurde vor allem als Struktur für Deklarationen gegen Russland genutzt (siehe dazu auch Zumach in dieser Ausgabe, S. 21). Das mag alles politisch gut begründbar sein, aber wird dabei nicht verkannt, dass es dringend eines »neutralen Dritten« bedarf, um die Aushandlung eines Waffenstillstands voranzutreiben?
Hoffnungen auf Soziale Verteidigung? Naiv gedacht?
Nun zum Letztgenannten: der solidarischen Unterstützung des Sozialen Widerstands. Die Berichterstattung über das Kriegsgeschehen lässt kein klares Bild entstehen über Art, Ausmaß und Relevanz des Widerstands der ukrainischen Zivilbevölkerung. Die hohen Flüchtlingszahlen innerhalb der Ukraine und in die Nachbarstaaten lassen vermuten, dass der zivile Widerstandswille nicht so groß ist, wie seitens der ukrainischen Regierung vermittelt. Wie dem auch sei: Ziviler Widerstand ist analytisch zu trennen von »Sozialer Verteidigung«.
Ersterer kann auch gewaltförmige Mittel einschließen, also auch Methoden des bewaffneten Partisanenkampfs. Die heroisch anmutenden Bilder von Molotow-Cocktails und Bomben bauenden Ukrainer*innen haben wir vor Augen.3 Gewaltförmiger, zivilgesellschaftlicher Widerstand bedeutet jedoch, dass involvierte Zivilpersonen zu Kombattant*innen im Krieg werden, d.h. nicht mehr völkerrechtlich bzw. durch das Kriegsrecht geschützt sind. Im urbanen Kampfgeschehen werden unbewaffnete Zivilist*innen zu »menschlichen Schutzschilden«. Es wird am Ende kaum mehr zu unterscheiden sein, ob Zivilist*innen im Kampf getötet oder widerrechtlich umgebracht wurden. Die vielen Toten, die nach dem Rückzug der russischen Truppen aus den Kiewer Vorstädten gefunden wurden, geben schon einen bitteren Vorgeschmack darauf, wie die Kriegslogik greift.
Bleibt die Frage, ob solidarisches Handeln auch im Kontext der sogenannten »Sozialen Verteidigung« in dem jetzt hoch eskalierten Konflikt realisierbar wäre. Im Fokus der Sozialen Verteidigung steht nicht die Verteidigung des Territoriums, sondern die aktive Verteidigung der eigenen Lebensweise und Werte. Die dahinterstehende Annahme ist, dass letztlich die Kooperations»bereitschaft« der Bevölkerung darüber entscheidet, ob der Aggressor, hier die russische Regierung, etwas von der Kriegssituation und der Besetzung der ukrainischen Landesteile und Städte hat. Methoden der Sozialen Verteidigung sind etwa: Verlangsamung der Arbeit, Boykott u.a. von Institutionen der Gewaltprofiteure (oft bspw. Banken), Generalstreik oder Demonstrationen. Dabei ist natürlich nicht zu verkennen, dass Gewaltfreiheit unter kriegerischen Zuständen auch gefährlich ist und Menschenleben fordern kann. In Deutschland arbeitet vor allem der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) an und mit dem Konzept. Die Frage, ob die Bedingungen für gewaltfreie Soziale Verteidigung in der Ukraine gegeben waren und sind, wird dort bejaht (BSV 2022). Dass es derzeit einen praktizierten gewaltfreien Widerstand sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt, wird vom Metta Center for Nonviolence (2022) eindrucksvoll dokumentiert (siehe auch Wintersteiner in dieser Ausgabe, S. 24).
Unser solidarisches Handeln ist hierbei gefordert: Neben der Notwendigkeit, diesen Ansätzen in den politischen Debatten Gewicht zu geben, heißt es, diese konkret und praktisch zu unterstützen. Solidarität könnte sich ausdrücken in »Zivilem Peacekeeping«, auch wenn dies primär präventiv gedacht ist (vgl. Nonviolent Peaceforce 2021).4 Anwendung könnten Erfahrungen des »Balkan Peace Team« aus den 1990er Jahren finden, die im Rahmen einer internationalen Kooperation mehrerer Friedensorganisationen lokale Friedensfachkräfte, die Schutzbegleitung von Menschenrechtsaktivist*innen, Besuche der Flüchtlingslager, Versöhnungsarbeit, Jugendarbeit und Lobbyarbeit (Regierungen, diplomatische Vertreter*innen und NGOs) beinhaltete (Müller und Foster 2012). Aber auch für solches Vorgehen gilt, dass es seine Wirksamkeit erst dann entfalten kann, wenn es geplant Teil eines Gesamtkonzeptes ist – einer transnationalen Notfallvorbereitung, die Friedensorganisationen in den letzten Jahren haben vermissen lassen.
Pazifismus und Soziale Verteidigung als Grundräson?
Ein Gedankengang zum Schluss: Viele, die in der Friedensarbeit aktiv sind, lehnen das von der Bundesregierung beschlossene Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. € für die Bundeswehr ab. Angesichts der Verunsicherung durch die Unwirksamkeit bisheriger, als konflikteinhegend eingeschätzter Instrumente – von der UN-Charta, internationalen Institutionen bis hin zu ökonomischen Projekten wie Nordstream 2 –, werden wir nicht darum herumkommen zu antworten auf die Fragen: „Was soll geschehen, wenn die Krisenprävention versagt? Wollen wir, dass unser Land sich verteidigen kann?“ Aus den anfangs für die Ukraine genannten Gründen folgt die Frage nach der Form der Selbstverteidigung, die wir bereit wären zu tragen. Dieser Frage sollte nicht ausgewichen werden: Auch deshalb, weil Soziale Verteidigung, der Strategie, der Mittel und der Kompetenzen bedarf. 100 Mrd. € wären hierfür nicht notwendig, aber Planung und Vorbereitung, womöglich auch eine entsprechende gesellschaftliche Kultur. Es ist höchste Zeit, unsere eigene Politik zu hinterfragen und für Soziale Verteidigung zu streiten – in Solidarität mit den akut vom Krieg betroffenen Menschen, wie für unsere eigene Zukunft.
Anmerkungen
1) Siehe z.B. Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß im Interview mit dem Deutschlandfunk (Küpper 2022).
2) Zur Problematisierung der Solidarität im Kontext des Ukraine-Kriegs, siehe auch Vondermaßen und Bieß (2022).
3) »Stern« und »Focus« verifizierten diverse dieser Videos, die Ende Februar 2022 verbreitet wurden.
4) Das Konzept hat erstaunlicherweise auch Eingang in die Leitlinien der Bundesregierung zur Zivilen Krisenprävention von 2017 gefunden.
Literatur
BSV (2022): Gewaltfreie Alternativen zu Krieg und Rüstung. Thesenpapier von Christine Schweitzer, 15.03.2022.
Küpper, M. (2022): Militärstratege Brauß befürchtet „langen Zermürbungskrieg“. DLF, 21.3.2022.
Metta Center for Nonviolence (2022): Resistance to war in Ukraine: Actions, news, analyses, and resources for nonviolence. mettacenter.org/nonviolencereport/resistance-to-war-in-ukraine-resource-list, kontinuierlich aktualisiert.
Müller, B.; Foster, P. (2012): The Balkan Peace Team 1994-2001 Non-violent intervention in crisis areas with the deployment of volunteer teams. Stuttgart: ibidem Verlag.
Müller, O. (2022): Optionen des Pazifismus in kriegerischen Zeiten. Interview mit dem SRF. Vollständiges Transkript, W&F Blog.
Nonviolent Peaceforce (2021): Unarmed civilian protection. Strenghtening civilian capacities to protect civilians against violence. Zweite Edition. Selbstverlag.
Vondermaßen, M.; Bieß, C. (2022): Solidarität mit der Ukraine. Blogbeitrag, BedenkZeiten (Uni Tübingen), pdf bei Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.
erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/2 Kriegerische Verhältnisse, Seite 6–14