Der Wert der Kunst unter anderen Vorzeichen

Skizze eines Forschungsprojekts

in (18.03.2022)

Das Ziel meines Arbeitsvorhabens bestand in der Klärung der Frage, worin der besondere Wert der (bildenden) Kunst besteht. Dazu habe ich für eine produktionsästhetische Perspektive optiert und diese mit einem rezeptionstheoretischen Ansatz verschränkt. Diese Kopplung ist neuartig, sie erfolgt weder in den marxistisch inspirierten Werttheorien, deren Autor*innen sich allein der Sphäre der Produktion widmen, noch in den sozialwissenschaftlichen Wertstudien von Georg Simmel bis zu Luc Boltanski/ Arnaud Esquerre. Letztere konzentrieren sich ausschließlich auf die Handlungen der Konsument*innen respektive Rezipient*innen, durch die dem Kunstwerk Wert zugeschrieben wird. Meine Arbeitshypothese lautete ursprünglich, dass der besondere Wert von künstlerischen Arbeiten das Ergebnis eines Zusammenspiels zwischen den Besonderheiten der künstlerischen Produktion und jenem rezeptiven, kollektiven und affektiven Begehren ist, das der französische Ökonom André Orléan als „affect commun“ (Englisch: „common emotion“) bezeichnet hat. Dieses Begehren funktioniert Orléan zufolge mimetisch. Damit ist gemeint, dass es sich stets nur auf bestimmte Produkte richtet, nämlich jene, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreuen. Doch während bei Orléan die Objekte selbst, also deren materielle Verfasstheit und deren symbolisches Potential, für das Aufkommen des kollektiven Begehrens (und damit für den Prozess der Wertattribution) keine Rolle spielen, postuliere ich in meiner Werttheorie der Kunst, dass das von den Objekten Ausgehende oder Geleistete für die Wertzuschreibung durchaus von Bedeutung ist. Anders gesagt besteht die Besonderheit des Wertes von künstlerischen Arbeiten meiner Ansicht nach darin, dass er materiell und symbolisch veranlasst wurde und dass er auf einer kollektiven Projektionsleistung basiert.

Nun hat schon Karl Marx den Doppelcharakter des Wertes in seiner Arbeitswerttheorie auf unübertroffene Weise herausgearbeitet. Der Wert geht ihm zufolge auf Arbeit zurück und ist doch zugleich seinem Wesen nach eine „gesellschaftliche Beziehung“. Dass Marx den durch und durch sozialen Charakter des Wertes hervorhebt, ohne dessen Arbeitsbezug aus dem Blick zu verlieren, war für mein Vorhaben von großem Nutzen. Denn im Rekurs auf den Marx’schen „Warenwert“ bzw. in Abgrenzung dazu wurde es mir möglich, die spezifische Wertform des Kunstwerks herauszuarbeiten. Ich wies nach, dass die Ware Kunst (und hier insbesondere das Leinwandbild) dem Marx’schen Warenfetisch hinsichtlich einiger Aspekte durchaus gleicht – etwa in Bezug auf die Lebendigkeitssuggestion oder die Verdeckung der Produktionsbedingungen. Doch mit Blick auf die wertreflexiven künstlerischen Praktiken der Nachkriegszeit konnte ich ebenfalls zeigen, dass die Ware Kunst im Unterschied zur gewöhnlichen Ware auf spezifische Weise den Eindruck erweckt, dass ihr ein „intrinsischer“ oder „substantieller“ Wert innewohne. Die grundlegende These meiner Wertstudie lautet folglich, dass Kunstwerke anders als gewöhnliche Güter zu suggerieren vermögen, dass sie von sich aus einen Wert hätten. Und ich habe weiter dargelegt, dass dieses Suggestionsvermögen häufig auf die künstlerischen Praktiken rückführbar ist, und zwar dahingehend, dass sie ihre Wahrnehmung als etwas (im materiellen oder symbolischen Sinn) Wertvolles selbst befördern. In methodischer Hinsicht stellte es sich immer wieder als notwendig heraus, die eher allgemein gehaltene Theoretisierung des Wertes der Kunst auf konkrete künstlerische Praktiken zu beziehen.


Wissenschaftliche Ergebnisse: „Vertrauenskonstellationen“ und „fiktionale Erwartungen“
Die zentrale These meiner Werttheorie der Kunst lautet, dass Kunstwerke suggerieren, dass ihnen ein substantieller Wert innewohnt. Mehr noch: Seit den 1960er Jahren tauchen immer wieder künstlerische Arbeiten auf, die ich als „wertreflexiv“ bezeichne. Es handelt sich um Arbeiten, die auf ihre Wertform selbst Bezug nehmen, indem sie ihr beispielsweise explizit zuarbeiten oder indem sie diese bewusst unterlaufen oder gar ins Lächerliche ziehen. Auf Seiten der Produktion führe ich die besondere Wertform des Kunstwerks, den Umstand, dass sein Wert intrinsisch zu sein scheint, im Wesentlichen auf drei produktionsästhetische Faktoren zurück: auf den materiellen Unikatcharakter des Kunstwerks, auf die von Kunstwerken vorgenommene (oder die mit ihnen assoziierte) symbolische Intervention und auf den hohen Stellenwert, welcher der künstlerischen Arbeit beigemessen wird (und der sich im Wert des aus dieser Arbeit hervorgehenden Produkts niederschlägt).

Neben diesen produktionsästhetischen Faktoren, auf denen der besondere Warenwert des Kunstwerks basiert, bedarf es aber auch wertgenerierender Zuschreibungen. Damit dem Kunstwerk Symbol- und Marktwert zugesprochen wird, muss es das bereits erwähnte kollektive, affektive und mimetische Begehren (Orléans „affect commun“) auf sich ziehen. Dieses kollektive Begehren entsteht Orléan zufolge im Rahmen einer Verschmelzung des Begehrens vieler Individuen. Je mehr Menschen ein Objekt begehren, desto attraktiver wird es – es handelt sich also um einen sich selbst verstärkenden Mechanismus. Damit das Objekt Anziehungskraft entwickeln kann, muss ein gewisses Maß an Vertrauen – nach Orléan die Basis schlechthin für den Wert – bestehen. Der Begriff des „Vertrauens“ hat sich entsprechend für meine Untersuchung der Wertzuschreibungen im Kunstbetrieb als zentral erwiesen.

Nur: Meiner Meinung nach gehen diese vertrauensbasierten Evaluierungsprozesse anders als das Orléan darlegt nicht nur auf die Handlungen (und Präferenzen) von Individuen zurück. Es scheint mir eher so zu sein, dass sie – einmal losgetreten – bis zu einem gewissen Grad auch ohne deren Zutun ablaufen. Mit Verweis auf die Studien der Wissenshistorikerin Karin Knorr Cetina gehe ich von Mustern aus, die über Handlungsmacht verfügen. Knorr Cetina spricht in diesem Zusammenhang von „Wissensmaschinerien“, in denen ihr zufolge verschiedene Handlungen konvergieren. Diese Wissensmaschinerien können auch selbst Handlungen setzen und dynamisch fortführen. Mein Vorschlag lautet hier, auch das rezeptive, kollektive und affektive Begehren, von dem Orléan spricht, als ein solches Muster anzusehen – ein Muster, das nicht nur aus den Evaluierungen der Individuen besteht, sondern das auch selbst Evaluierungen vornimmt. Somit charakterisiere ich das rezeptive, kollektive Begehren, das dafür verantwortlich ist, dass bestimmte Kunstwerke positiv mit Wert aufgeladen werden, als eine Wissensmaschinerie im Sinne Knorr Cetinas, die sich nicht ausschließlich auf die Intentionen und Interessen der Akteur*innen zurückführen lässt. Denn diese Maschine „handelt“ auch selbst und bildet ihrerseits kollektive Handlungsketten heraus.

Auf Seiten der Produktion untersuchte ich zudem, in welcher Form Kunstwerke den Anstoß dazu geben, dass sich solche Handlungsketten herausbilden. Und ich stelle mir die Frage, welche Voraussetzungen sie erfüllen müssen, um mit Wert angereichert zu werden. Die Theorie der „fiktionalen Erwartungen“ des Soziologen Jens Beckert wies mir an diesem Punkt den Weg. Wenn Beckert von „fiktionalen Erwartungen“ spricht, so meint er damit, dass ein positives Bild von der Zukunft besteht. Auch Kunstwerke müssen solche Erwartungen wecken, damit sie der Gegenstand von Wertzuschreibungen werden können. Im Konzept der „fiktionalen Erwartung“ fließen beide oben beschriebenen Ebenen, die produktionsästhetische und die rezeptionstheoretische, zusammen, was es für mein Vorhaben besonders nützlich macht. Denn auch gemäß meiner Theorie trifft das vom Kunstwerk Ausgelöste („Fiktionen“) auf bestimmte „Erwartungen“ bei den Rezipient*innen. Von diesem Punkt ausgehend erbringe ich in meiner Werttheorie den Nachweis, dass sich Kunstwerke von gewöhnlichen Waren unterscheiden, und zwar aufgrund des bei Kunstwerken besonders eng gestrickten Bandes zwischen „Produkt“ und „Person“. Schon die Signatur sorgt bei Kunstwerken dafür, dass ein eindeutiger Bezug zum*zur Autor*in hergestellt wird. Durch die Signatur wird die Einmaligkeit des Werkes beglaubigt, was dazu führt, dass der*die singuläre Autor*in trotz seiner*ihrer faktischen Abwesenheit auf geisterhafte Weise in seinem*ihrem Werk präsent zu sein scheint. Auf die „fiktionalen Erwartungen“ der Rezipient*innen wirkt sich dieser enge Konnex zwischen Person und Produkt dahingehend aus, dass häufig Spekulationen über die Autor*innen angestellt werden. Dass diese sich auf die Autor*innen richtenden Rezeptionsprozesse auch Vorgänge der Wertdiskriminierung zur Folge haben können, arbeite ich ebenfalls heraus – und zwar mit Blick auf den ausgesprochen selektiven Kanon der westlichen Kunstgeschichte und auf die Ausschlussmechanismen, die auf dem Kunstmarkt wirksam werden. Speziell in der Auktionssphäre macht es bezüglich der Wertbildung einen Unterschied, ob der*die Urheber*in eines Kunstwerks als weiß und männlich oder als Schwarz und/oder weiblich imaginiert wird.

Pandemiebedingte Neuausrichtung: Der Wert unter veränderten Vorzeichen
Meine Studie weist einen starken Gegenwartsbezug auf. Unter dem Eindruck der Pandemie und der damit verbundenen ökonomischen und sozialen Entwicklungen sah ich mich deshalb dazu gezwungen, mein eben skizziertes Erkenntnisinteresse stark auszuweiten.

Schon während des ersten „Lockdown“ im März 2020 musste ich mein Thema neu konturieren. Denn auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene war im Zuge des „Lockdown“ eine vollständige „Unterbrechung der Wertschöpfungsketten“ (Sighard Neckel) zu beobachten – ein Stillstand der Produktion, der Konsumption und der Investitionen, der auch die Wertschöpfungsprozesse in der Kunstwelt unmittelbar beeinträchtigte. Die Voraussetzungen für die Produktion und die Rezeption hatten sich völlig verändert; es zeichnete sich ein Strukturwandel ab, dessen Auswirkungen bis heute unabsehbar sind.
Durch die Schließung von Kunstinstitutionen, die Absage von Ausstellungen und Kunstmessen sowie durch den Wegfall von Eröffnungen wurden zunächst einmal jene sozialen Rituale nicht mehr vollzogen, die im Sinne des „affect commun“ maßgeblich zur Wertermittlung beitragen. Es konnten sich keine „Vertrauenskonstellationen“ um Kunstwerke herum bilden und die sich an ihnen entzündenden „fiktionalen Erwartungen“ fielen entsprechend eher pessimistisch aus. Der Wert der Kunst stand in der Folge auf unsicherem Grund.

Pandemiebedingt hatten zahlreiche Institutionen zudem die Flucht in sogenannte „Online-Showrooms“ angetreten – ein digitales Phänomen, mit dessen sozialen, ästhetischen und werttheoretischen Implikationen ich mich ebenfalls ausführlich befasst habe. Eine der produktionsästhetischen Grundthesen meiner Studie lautet, dass sich die besondere Wertform des Kunstwerks seinem materiellen Unikatcharakter verdankt. Gerade bei gemalten Bildern besteht im Rahmen einer Online-Präsentation jedoch das Problem, dass sich ihre materielle Textur über dieses Medium kaum vermitteln lässt, dass sie oft nur erahnt werden kann. Und das, was in den Kunstwerken symbolisch auf dem Spiel steht, lässt sich bei Betrachtung der Online-Plattformen der Museen und Galerien ebenfalls kaum nachvollziehen, denn häufig erscheinen die Werke hier wie kontextfreie Monaden. In den Phasen, in denen die Pandemie das öffentliche Leben am massivsten beeinträchtigte, entsprachen folglich die werttheoretischen Grundannahmen, auf denen meine Studie ursprünglich beruhte, weder auf Seiten der Produktion noch auf Seiten der Rezeption der Realität.
Angesichts der massiven Schwächung kunstbetrieblicher Infrastrukturen versuchten zahlreiche Künstler*innen – gleichsam an den analogen Institutionen vorbei – sogenannte „NFTs“ (Non Fungible Tokens) online zu verkaufen. Es handelt sich dabei um Zertifikate für digitale Kunstwerke, die deren Echtheit und Einzigartigkeit belegen sollen. Es geht bei diesen Bescheinigungen letztlich immer darum, ein immaterielles Werk zum Unikat zu erklären. Das scheint mir im Zusammenhang mit meiner Werttheorie an den „NFTs“ besonders bemerkenswert zu sein. Hier zeigt sich einmal mehr, wie zentral die Vorstellung des einmaligen Kunstwerks (samt der Idee, dass auch der*die Schöpfer*in unersetzlich ist) für die besondere Wertform (auch) der (Online-)Kunst ist.

Pandemiebedingte Neuausrichtung: Identitäre Zuschreibungen als Faktoren der Wertbildung
Auch aufgrund jüngst aufgekommener Protestbewegungen wie #MeToo und Black Lives Matter schien mir der Wert unter neuen Vorzeichen zu stehen, weshalb ich eine weitere inhaltliche Ergänzung meines Vorhabens vornahm. Ich schrieb ein Kapitel über identitäre Zuschreibungen als Faktoren der Wertbildung, in dem ich mich der wertmindernden Kraft von „race“ und „gender“ widme. Genauer gesagt: Ich beschäftige mich darin mit der Frage, welche Folgen die imaginierte (oder reklamierte) „Identität“ des Urhebers*der Urheberin eines Werkes für die Wertbildung hat. Ich lege dar, dass mit den Arbeiten von als „weiblich“ oder „Schwarz“ markierten Künstler*innen traditionell andere „fiktionale Erwartungen“ verknüpft sind als sie in Bezug auf jene von „weißen“, „männlichen“ Kunstschaffender bestehen. Ich führe das sowohl auf die besondere Wertform des Kunstwerks als auch auf die projektiven Spekulationen der Rezipient*innen über die Urheber*innen der von ihnen betrachteten Werke zurück. Dass den Arbeiten weiblicher oder/und Schwarzer Künstler*innen traditionell weniger Vertrauen entgegengebracht wurde, erachte ich zudem als Ausdruck der in unserem kapitalistischen System tief verankerten sexistischen und rassistischen Strukturen.



Isabelle Graw ist Mitbegründerin und Herausgeberin von Texte zur Kunst und Professorin für Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Städelschule in Frankfurt a.M.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 59, Winter 2021/22, „Der Wert der Kunst“.