Schwangerschaft & Geschlecht

Reproduktion jenseits normativer Vorstellungen

Die gesellschaftliche Betrachtung von Kinderwünschen, Schwangerschaftserleben und Familiengründung ist nach wie vor heteronormativ und verhaftet in einem binären Verständnis von Geschlecht. In diesem Schwerpunkt geht es um Lebensrealitäten jenseits von „Junge oder Mädchen“ und „Vater, Mutter, Kind“ und um die Rolle der Reproduktionsmedizin dabei.

Inhaltsverzeichnis gesamte Ausgabe

Ausgangpunkt der Themenwahl für diesen Schwerpunkt war der Diskurs um die nicht-invasiven Pränataltests (NIPT), an dem sich das GeN seit etwa einem Jahrzehnt immer wieder kritisch beteiligt.(1) Die öffentliche Diskussion um diese vorgeburtlichen Bluttests fokussiert sich klar auf die Trisomien 13, 18 und 21. Deren gleichzeitige Suche nach zahlenmäßigen Abweichungen der sog. Geschlechtschromosomen, wie z.B. dem Turner-Syndrom (45 XO), findet hingegen kaum öffentliche Beachtung.

Das Geschlecht gilt in unserer Gesellschaft als eine zentrale, identitätsstiftende, soziale Kategorie, der sich Menschen zuordnen und zugeordnet werden. In unserer Arbeit zu Pränataldiagnostik und Reproduktionstechnologien stoßen wir immer wieder auf komplexe Fragen und scheinbare Widersprüche. Auf der einen Seite zeigen sich „fortschrittliche“ Entwicklungen und der Einsatz neuer Verfahren in der Reproduktionsmedizin, auf der anderen Seite gibt es eine Aufrechterhaltung heteronormativer Vorstellungen von Familie sowie binärer Geschlechternormen. Wir wollen einigen, oft wenig beachteten Perspektiven in diesem Schwerpunkt Raum geben. Dafür gehen wir einer Auswahl von Fragen und Forderungen rund um die Verschränkungen von Schwangerschaft und Geschlecht nach.

Im Kontext von Reproduktion wird die Bedeutung von sex (biologischem Geschlecht) und gender (sozialem Geschlecht) besonders sichtbar: Eine Schwangerschaft gilt als natürlicher Ausdruck von Weiblichkeit. Was bedeutet dieses normative Bild einerseits für Frauen, die nicht schwanger werden können und andererseits für schwangere Personen, die keine Frauen sind?

Auch das Geschlecht eines Fötus spielt im Umgang mit Schwangerschaft eindeutig eine wichtige Rolle. Nach aktuellen Studienergebnissen der Soziologin Eva Sänger begründet der Ausspruch Es ist ein Junge oder Es ist ein Mädchen „die Anerkennung als geschlechtlich differenziertes Mitglied der Gesellschaft.“(2) Die geschlechtliche Betrachtung und Einordnung am Lebensanfang hat sich mit der Etablierung und Weiterentwicklung pränataler Ultraschalluntersuchungen längst in den Zeitraum vor der Geburt verschoben. Bei Sorge um Fehlinterpretationen auf dem Ultraschallbildschirm oder einfach als „netten Nebenbefund“ eines NIPT zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer autosomalen Trisomie, bieten nun die vorgeburtlichen Bluttests eine „sichere“ Bestimmung des fetalen Geschlechts: Für einen kleinen Aufpreis können werdende Eltern die Untersuchung der X- und Y-Chromosomen hinzubuchen. Lässt sich das Geschlecht medizinisch einmal nicht „eindeutig“ – also weder männlich noch weiblich – definieren, gilt dies als unnormal.

Der Beitrag von Janina Krause eröffnet den Schwerpunkt und beschreibt wie die NIPT die normative Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit stabilisieren und zur Pathologisierung diverser Körper beitragen. Wie passt der Ausbau der Praxis einer geschlechtlichen Einordnung – in die binären Kategorien männlich und weiblich bereits vor der Geburt – mit Errungenschaften für queere Menschen, wie beispielsweise der seit 2018 mögliche positive dritte Geschlechtseintrag divers, zusammen?

Auf den folgenden Seiten gibt Theresa Richarz einen Überblick über die rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen und Hürden, mit denen sich Menschen mit Kinderwunsch konfrontiert sehen, die nicht in die klassische heteronormative Vorstellung von Wunscheltern hineinpassen. Eindrücklich erläutert die Rechtswissenschaftlerin, warum die aktuelle Situation nicht nur unbequem für queere Wunscheltern ist, sondern sogar verfassungswidrig.

Im daran anschließenden Interview berichtet Nathan sehr persönlich über seine Erfahrungen als trans* Person. Der Gynäkologe erzählt von der Entstehung und Entwicklung seines Kinderwunsches, vom schwanger werden und schwanger sein als trans* Mensch sowie von den Herausforderungen rund um die Geburt und als queere Familie.

Im letzten Artikel des Schwerpunktes stellt die Rechts- und Geschlechtswissenschaftlerin Sevda Evcil eine relativ neue Entwicklung der Reproduktionsmedizin vor: Die Uterustransplantation. Aus genderkritischer Perspektive diskutiert sie die Bedeutung des Verfahrens für die Aufrechterhaltung von Schwangerschaft als Weiblichkeitsnorm. Die derzeit als experimentelles Verfahren geltende Uterustransplantation ist ein erneutes Beispiel für eine medizintechnische Methode, die um des „Fortschritts“ Willen entwickelt und eingesetzt wird, bevor eventuelle ethische und gesellschaftliche Aspekte öffentlich und politisch diskutiert wurden. Die öffentliche Meinungsbildung sowie die Rechtsprechung sind mit geschaffenen Tatsachen konfrontiert.

Glossar

Als kleine Sprachhilfe für die Lektüre dieses Schwerpunktes (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) erklären wir hier reproduktionsmedizinische (Fach-)Wörter und beschreiben einige der vorkommenden Bezeichnungen der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt. Die Begriffe sind bei Erstnennung im Text gekennzeichnet. Beschreibungen sind wohlgemerkt keine Definitionen, da die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung nur von jeder Person selbst definiert werden können.(3)

Queer ist ein offener Begriff, der alle einschließt, die mit ihrem Aussehen und/oder Verhalten heteronormativen Vorstellungen nicht entsprechen. „Queer“ kann praktisch gelebt und als Selbstbezeichnung von Personen oder Bewegungen genutzt werden. Das Wort wird im deutschen Sprachgebrauch teilweise als Oberbegriff für LSBTI* verwendet.(4) Gleichzeitig ist es ein wissenschaftlich geprägter Begriff (Queer Theory), welcher die feministische Kritik an der herrschenden Heteronormativität bezeichnet.

Geschlechtliche Identität / Gender meint das „soziale Geschlecht“ (eng. „gender“) also das empfundene Geschlecht einer Person. Dieses kann oder kann nicht mit dem „biologischen Geschlecht“ (eng. „sex“), welches sich durch körperliche Geschlechtsmerkmale wie z.B. Genitalien oder die sog. Geschlechtschromosomen definiert, übereinstimmen.

Cis (lat. cis = „diesseits“) bezeichnet Personen, deren geschlechtliche Identität mit dem bei der Geburt zugewiesenen männlichen oder weiblichen „biologischen Geschlecht“ übereinstimmt.

Trans* (lat. trans- = „jenseits von“, „über … hinaus“) wird häufig als Oberbegriff verwendet, um unterschiedliche geschlechtliche Identitäten zusammenzufassen. Trans* Personen fühlen sich nicht – oder nicht nur – dem Geschlecht zugehörig, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde. Manche verstehen sich eindeutig als Frau oder Mann, manche verorten sich zwischen oder jenseits dieser binären Geschlechterkategorien (Selbstbezeichnungen sind z.B. nicht-binär, genderfluid). Die Identität kann oder kann nicht mit dem äußeren Erscheinungsbild einer Person „zusammenpassen“. Manche trans* Personen verändern ihre Körper durch Hormone und/oder Operationen, andere nicht. Das Sternchen * steht als Platzhalter für alle Begriffe, die an die Vorsilbe trans- angehängt werden können.

Transition bezeichnet den Prozess der Veränderungen einer Person bezogen auf die geschlechtliche Identität. Die Schritte, die Reihenfolge und die zeitliche Dimension dieses Prozesses sind individuell verschieden. Beispielsweise können Namens- oder Pronomenänderungen, Hormontherapien oder Operationen Teil einer Transition sein – müssen es aber nicht.

Passing meint das „Durchgehen“ der geschlechtlichen Identität einer Person. Wird beispielsweise eine trans-männliche Person als männlich „gelesen“, so hat diese Person ein gutes Passing.

Misgendern bedeutet eine Person in einer für sie unpassenden Geschlechtsidentität wahrzunehmen und zu adressieren. Meist bezieht sich der Begriff auf „falsche“ geschlechtliche Anreden (wie „Herr“ oder „Frau“) oder Pronomen (wie „er“ oder „sie“).

Deadname (dt. „toter Name“) bezeichnet die Vornamen von trans* oder inter* Personen, die diese nicht mehr verwenden. Meist sind dies Vornamen, die bei der Geburt eingetragen wurden und eine Zugehörigkeit zum festgestellten „biologischen Geschlecht“ ausdrücken, die nicht mit der geschlechtlichen Identität übereinstimmt. Die Verwendung des Deadnames wird von trans* und inter* Personen häufig als verletzend und gewaltvoll erlebt.

Inter* bezeichnet einerseits Menschen, deren Körper sowohl „männliche“ als auch „weibliche“ Merkmale aufweist bzw. die genetisch oder hormonell nicht als „eindeutig männlich“ oder „eindeutig weiblich“ eingeordnet werden können.(5) Inter* ist ebenso eine emanzipatorische und selbstermächtigte Positionierung.

Divers ist der seit 2018 zulässige positive Geschlechtseintrag für inter* Personen. Bei Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das „Vorliegen einer Variante der Geschlechtsentwicklung“ kann die sog. dritte Option gemäß § 45b Personenstandsgesetz beim zuständigen Standesamt in die Geburtsurkunde eingetragen und nach Wunsch der Vorname geändert werden.

Heteronormativität bezeichnet eine diskriminierende Haltung, die Heterosexualität (hetero- dt. „verschieden; ungleich“ – gegenüber homo- „gleich“) als die normale Sexualität einstuft und andere Formen von Sexualität als Abweichung, unnormal oder sogar krankhaft begreift.

Intersektionalität (eng. „intersection“ = „Schnittpunkt; Schnittmenge“) bezeichnet das Aufeinander- und Miteinander-Wirken verschiedener sozialer Kategorien – wie z.B. Geschlecht, Alter, Herkunft, Behinderung, sexuelle Orientierung oder Religion – und bezieht diese in die Betrachtung von Diskriminierungsformen mit ein.

Intrauterine Insemination (IUI; „Besamung“ im Uterus) ist eine Form der medizinisch assistierten Reproduktion und kann den Eintritt einer Schwangerschaft mit einer Samenspende ermöglichen. Hierbei wird das aufbereitete Sperma einer Samenbank i.d.R. durch eine ärztliche Person mit Hilfe eines Katheters zum Zeitpunkt des Eisprungs in den Uterus der Person übertragen, die schwanger werden möchte.(6)

Die „Bechermethode“ (auch Eigen-, Heim- oder Selbst-Insemination) erfolgt durch die Person(en) mit Kinderwunsch selbst, zeitlich nahe dem Eisprung der Person, die schwanger werden möchte. Das Sperma stammt von einer bekannten Person („privater Spender“). Diese ejakuliert in einen Becher (z.B. Urinbecher aus der Apotheke) und das Sperma wird anschließend in die Vagina der Person übertragen, die schwanger werden möchte. Dies kann zum Beispiel mit Hilfe einer Spritze, einer Cervixkappe, einem Diaphragma oder einer Menstruationstasse erfolgen.(6)

 

 

Fußnoten:

(1)    Bereits vor der Marktzulassung in Deutschland im Jahr 2012 wies das GeN auf offene gesellschaftspolitische und ethische Fragen hin, die im Kontext von Pränataldiagnostik vor der Zulassung eines neuen Testverfahrens eine grundlegende Diskussion gebraucht hätten. Eine solche Debatte steht bis heute aus, während die NIPT auf die Trisomien 13, 18 und 21 kurz vor der Aufnahme in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung stehen. Siehe „Neutrale Informationsbroschüre?“ unter Kurz notiert, S.28 in diesem Heft. Ausführliche Kritik zum Thema gibt es auf unserer Homepage: www.gen-ethisches-netzwerk.de oder www.kurzelinks.de/gid256-tr [letzter Zugriff: 03.02.2021].

(2)    Sänger, E. (2020): Elternwerden zwischen „Babyfernsehen“ und medizinischer Überwachung. Bielefeld: transcript Verlag, S.181. Siehe auch „Pränatales Elternwerden per Ultraschall“ in: GID 255, S.35f.

(3)    Die Beschreibungen dieses Glossars sind teilweise angelehnt an die „Fibel der vielen kleinen Unterschiede“ von ANDERS & GLEICH - LSBTIQ* in NRW. LAG Lesben in NRW e.V. (Hg.) (2019): „Die Fibel der vielen kleinen Unterschiede“, 10. aktualisierte und überarbeitete Auflage, Düsseldorf.

(4)    Die Buchstabenkombination LSBTI* steht für lesbisch, schwul, bi, trans, inter - das Sternchen * steht als Platzhalter für alle geschlechtlichen Identitäten, die nicht cis sind, sowie für sexuelle Orientierungen, die nicht hetero sind.

(5)    Mehr Informationen z.B. unter www.intersexuelle-menschen.de.

(6)    Für eine ausführlichere Beschreibung der Reproduktionsmöglichkeiten mit Hilfe einer Samenspende siehe Artikel „Begründete ‚Ungleichbehandlung‘“: www.kurzelinks.de/gid256-ts [letzter Zugriff: 03.02.2021].