»Frente Amplio« mischt den Wahlkampf auf

Otto König/Richard Detje: Tiefe Gräben – Präsidentschaftswahlen in Chile

Am 19. November 2017 wird in Chile ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt. Mehr als 8,2 Millionen BürgerInnen sind aufgerufen, eine(n) Nachfolger(in) für Michelle Bachelet zu bestimmen, die nicht mehr zur Wahl antreten kann, da die chilenische Verfassung keine direkte Wiederwahl zulässt.

An diesem Tag werden auch die Parlamentsabgeordneten und die SenatorInnen neu gewählt. Eine(n) klare(n) Favoriten(in) gibt es nicht. Die Ernüchterung der Bevölkerung über die politische Klasse ist groß. Möglicherweise ist dies eine Chance für die neue Bewegung »Frente Amplio« jenseits der beiden großen Blöcke.

Seit dem Ende der Militärdiktatur Pinochets im Jahr 1990 haben sich in dem südamerikanischen Land zwei politische Koalitionen an der Regierung abgewechselt: Das Mitte-Links-Bündnis »Nueva Mayoría«, das aktuell regiert, und das rechts-konservative Bündnis »Chile Vamos«. Ein Ergebnis der »transición pactada« und insbesondere des »binominalen Wahlsystems«, ein Überbleibsel der 1980 von der Diktatur aufoktroyierten Verfassung, das den beiden Parteien des Rechts­Blocks eine überproportionale Repräsentanz und damit quasi eine institutionalisierte Vetomacht im Kongress garantierte.

Der politische Kern des »chilenischen Modells«, das ständige Aushandeln von Kompromissen hinter verschlossenen Türen und die »Politik des Möglichen« einer faktischen Großen Koalition zwischen den in der Regierungsverantwortung stehenden Parteien des Mitte­links­Lagers und dem oppositionellen Rechts-Block, ist zunehmend in die Kritik geraten. [1]

KritikerInnen der 1990 gegründeten »Concertación« und 2013 in »Nueva Mayoría« umgetauften Parteienkoalition von Sozialisten, Sozial- und Christdemokraten werfen dem Bündnis vor, dass es das nach dem Putsch in 1973 von den Chicago Boys implementierte neoliberale Wirtschaftssystem größtenteils unverändert gelassen und sich mit punktuellen Reformen zufriedengegeben hat.

Nach der Übernahme des PräsidentInnenamtes durch den Investmentbanker Sebastián Piñera, nach der ersten Amtszeit von Bachelet 2010, setzte dieser den neoliberalen Kurs noch entschiedener fort, mit der Folge, dass sich Chile laut OECD inzwischen zu einem Land mit der »ungleichsten Einkommensverteilung der Welt« entwickelte.

Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) schrumpfte 2013 von 5,5% auf 4,1%, sackte 2014 auf 1,8% ab und hat sich seitdem nicht mehr erholt. Die IWF-Prognose für 2016 wurde inzwischen von der Zentralbank von 2,25 auf 1,25% fast halbiert. Hauptgrund ist der weltweite Preisverfall des Kupfers, Chiles wichtigstem Devisenbringer. Mit der sinkenden Nachfrage aus China, Chiles Hauptexportmarkt, halbierte sich der Kupferpreis seit 2012 von 4,5 US-Dollar auf gegenwärtige 2,4 US-Dollar pro Pfund.

Vier Jahre später kehrte Bachelet mit 62% der WählerInnenstimmen und Reformversprechen in den Moneda-Palast in der Hauptstadt Santiago de Chile zurück. Doch schon zwei Jahre später bei der Kommunalwahl 2016 manifestierte sich die verstärkte Resignation der Menschen über die Politik der politischen Elite in der niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 35%. Die junge Demokratie erlebt ihre dramatischste Repräsentationskrise seit Ende der Pinochet-Diktatur.

 

Zusammenschluss von linken Parteien und BürgerInnenbewegungen

Gleichzeitig entstand eine breite, landesweite Sozialbewegung. Deren Anfänge liegen in dem 2006 begonnenen Protest der Studierenden, der mit den Massendemonstrationen 2011 seinen Höhepunkt erreichte, bis hin zu den aktuellen Protesten von Millionen ChilenInnen gegen das private Rentensystem. Auf der Basis dieser außerparlamentarischen Aktionen hat sich die neue »Frente Amplio« – bestehend aus zwölf linken Parteien und BürgerInnenbewegungen – herausgebildet, die seit Monaten die Konfrontation mit den beiden etablierten politischen Blöcken sucht und den Wahlkampf aufmischt. Als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen nominierte die Frente die Journalistin Beatriz Sánchez.

Dagegen konnte sich die regierende »Nueva Mayoría« nicht auf eine(n) gemeinsame(n) Kandidaten(in) einigen. Während die Partido Socialista (PS), Partido por la Democracia (PPD), Partido Radical Socialdemócrata (PR) und Partido Comunista (PC) den politisch unabhängigen Soziologen und Senator von Antofagasta, Alejandro Guillier, unterstützen, stellten die ChristdemokratInnen ihre Vorsitzende Carolina Goic als Kandidatin auf. Für das rechtskonservative Bündnis »Chile Vamos« kandidiert erneut Ex-Präsident Sebastian Piñera (2010-2014) – laut aktueller Forbes-Liste der mit 2,7 Milliarden US-Dollar Vermögen reichste Unternehmer Chiles.

Sebastián Piñera, Beatriz Sánchez und Alejandro Guillier sind laut Umfragen die aussichtsreichsten KandidatInnen für das PräsidentInnenamt. Klar scheint, dass der Rechtsausleger Piñera kaum Chancen auf einen Sieg bereits im ersten Wahlgang hat. Entscheidend wird also sein, welche politischen Bündnisse sich für eine zweite Runde Anfang Dezember herauskristallisieren.

Die Ausgangslage für die regierende Nueva Mayoría ist nicht gut. Zwar gelang es der Präsidentin, das »binominale« Wahlsystem für die Wahlen im November durch ein Proporzsystem zu ersetzen und den Konsultationsprozess für eine neue Verfassung zu eröffnen, doch die zu Beginn der Amtsperiode versprochenen Reformen – kostenloses, öffentliches Bildungssystem, eine sozial gerechte Steuerreform, die Demokratisierung des Arbeits- und Streikrechts und die Schaffung eines öffentlichen Rentensystems« [2] – sind in den Debatten zwischen den Linken und den Neoliberalen in der Regierung zerrieben und letztlich blockiert worden.

In diesen Auseinandersetzungen setzte die ökonomische Oligarchie nicht nur auf die Blockadepolitik der Rechts­Parteien im Kongress, sondern griff über die offiziellen Lobbyverbände der UnternehmerInnen direkt in die politische Debatte über die Umsetzung der Reformagenda ein. Unterstützt wurde sie von den Medien, die eine Kampagne in Gang setzten, um die Reformen mithilfe gezielter Desinformationen zu delegitimieren: Die Steuerreform führe zu einer Belastung der Mittelschichten, die Bildungsreform beschneide die Wahlfreiheit der Eltern, die Arbeitsrechtsreform beende das Wirtschaftswachstum.

 

Großes Problem: Soziale Ungleichheit

Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist nicht zuletzt auch eine Folge davon, dass sich die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich verstärkt haben. Den hohen Reformstau gerade in der Sozial- und Umverteilungspolitik des Landes belegt die 400 Seiten umfassende Untersuchung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) zur sozialen Ungleichheit in Chile. [3] So verdienen das reichste Zehntel der ChilenInnen immer noch mehr als 26-mal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Dies ist das stärkste Einkommensgefälle aller OECD-Staaten.

Laut der Studie sind die Einkommensunterschiede vor allem auf die Spaltung des Arbeitsmarktes zurückzuführen. Die Hälfte der ChilenInnen arbeitet im Niedriglohnsektor und verdient so wenig, dass sie eine durchschnittliche Familie nicht allein versorgen können ohne unter die Armutsgrenze zu rutschen, die in Chile derzeit bei umgerechnet 462 Euro monatlich liegt. Vor allem junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren und Frauen ohne abgeschlossene Ausbildung sind betroffen. Die Armutsquote liegt dem Bericht zufolge nur deshalb bei vergleichsweise »mäßigen« 11,7%, weil in den meisten Haushalten mehr als eine Person zum Einkommen beiträgt.

Diese Entwicklung wird nach wie vor durch die während der Diktatur verabschiedete Arbeitsgesetzgebung begünstigt, die u.a. das Recht der Gewerkschaften auf Kollektivverhandlungen und Streiks stark einschränkt. Eine Stärkung der Verhandlungsposition der Gewerkschaften würde es wahrscheinlicher machen, dass Produktivitätsgewinne vermehrt an die ArbeiterInnenschaft weitergegeben werden.

Ein weiterer Schlüssel für die soziale Ungleichheit ist die Bildung. Kein anderes OECD-Land bürdet den Familien in Relation zum Einkommen derart hohe Kosten für Schule und Universität auf, mit der Folge, dass 47% der StudentInnen mit Studiengeld-Krediten aussichtslos verschuldet sind. Zudem führt das Nebeneinander von staatlichen Schulen, subventionierten Privatschulen und teuren unabhängigen Privatschulen zu einer Segregation nach sozialen Klassen.

Gerade deshalb setzt die »Frente Amplio« im Wahlkampf auf die Themen Bildung, Arbeit, Migration und auf weitreichende Gestaltungsvollmachten für den Staat mit dem Ziel, die soziale und kulturelle Entwicklung im Land auch in die Tiefe hinein steuernd zu gestalten. Die Beteiligung der BürgerInnen und die Integration der sozialen Bewegungen in die Politik sowie die Überwindung der bestehenden hohen Einkommensungleichheit gehören zu den wichtigsten Anliegen des linken Bündnisses. Damit erhöht es den Druck auf das Mitte-Links-Bündnis »Nueva Mayoría« und setzt sich zugleich von dem wirtschaftsliberalen Kurs der rechts-konservativen Koalition »Chile Vamos« ab.

Der Ausgang der Wahl wird mit darüber entscheiden, ob die Agonie des »chilenischen Modells« beendet und frischer Sauerstoff, und somit ein Element der Hoffnung und der Erneuerung, in das politische System eingeführt und die am Horizont drohende Gefahr eines neuen rechtspopulistischen Regimes abgewendet werden kann.


[1] Vgl. Rainer Radermacher: Auf Sand gebaut - Das »chilenische Modell« in der Agonie, FES Juli 2015.
[2] Vgl. Otto König/Richard Detje: #NOmasAFP – Massenproteste gegen privates Rentensystem in Chile, Sozialismus Aktuell.de, 22.5.2017: www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/nomasafp/
[3] Portal Amerika 21 v. 19.6.2017