Ohne Netz und doppelte Boden

Bundesagentur möchte Aufstockung einschränken

Die Anzahl der Solo-Selbständigen ist auf ein Rekordhoch gestiegen. Die Wirtschaftslage, der Versuch der Arbeitslosigkeit zu entfliehen und die Hoffnung, einen Hauch von Selbstbestimmung zu finden, treibt viele in die Selbständigkeit, häufig aus Hartz IV heraus. Doch diese Rettungsleine soll nun gekappt werden.

Seit 2007 hat sich die Anzahl der Selbständigen, die aufstockend Hartz IV beziehen verdoppelt. Stand Juni 2012 waren es 127.100, von denen jeder Vierte nur 100 bis 200 Euro im Monat verdiente. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, findet, dies seien zu viele und möchte diese „Fehlentwicklung“ korrigieren, indem der Zugang zum ALG2 für Selbständige erschwert wird. Dabei ist die Selbständigkeit oft der einzige Ausweg, um aus dem deprimierenden Kreislauf von Bewerbungen und Absagen auszubrechen. So zum Beispiel für Menschen ohne Abschluss, die niemand fest anstellen möchte. Viele erhöhen aus der Grundsicherung heraus Schritt für Schritt ihre Einnahmen. Ohne den Stabilisator ALG2 im Rücken wäre dies kaum möglich. Selbständigkeit ist ein riskantes „Spiel“, mit Ups and Downs, ohne Netz und doppelten Boden. Wer das „Spiel“ wagen möchte, hat mit der Hartz-IV-Grundsicherung von Miete, Lebenserhaltung und Krankenversicherung sicher bessere Karten als ohne.

Ein anderes Problem ist das der Scheinselbständigkeit, welches in bestimmten Branchen, so zum Beispiel bei Marktforschungsunternehmen, gehäuft auftritt. Die Verantwortung liegt hier allerdings bei den Unternehmen und nicht bei den scheinbar Selbständigen, die sicherlich nichts gegen eine feste Übernahme einzuwenden hätten. An Kontrollen der Selbständigen beim Arbeitsamt mangelt es zudem schon jetzt nicht. Sie stehen bereits unter einem starken Rechtfertigungsdruck, müssen halbjährlich Formulare über Einnahmen und Ausgaben vorlegen, Quittungen und Kontoauszüge offenlegen und ihr Geschäftsmodell rechtfertigen. Es braucht sicher keine weiteren Belästigungen.

Hier soll, ebenso wie bei vergleichbaren Themen, beispielsweise der geplanten Einschränkung der Prozesskostenhilfe (siehe Zweite Klasse vor Gericht), ein gesellschaftliches Problem individualisiert werden. Dass es sich beim Anstieg der Solo-Selbständigen aber um ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen handelt, zeigt der jüngst veröffentlichte Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW) über Solo-Selbständige in Deutschland. In dieser Untersuchung wurde festgestellt, dass die Anzahl der Solo-Selbständigen stark angestiegen ist: Vor der Wende war es etwa 1 Million, derzeit sind es etwa 2,5 Millionen, während gleichzeitig die Anzahl Selbständiger mit Angestellten fast gleich geblieben ist. Es ist – wie der Anstieg der Leiharbeitszahlen oder der stärkere Einsatz von Werkverträgen – ein Teilphänomen des generellen Trends der Prekarisierung: der Auflösung von festangestellter Erwerbstätigkeit hin zu flexibleren Wirtschaftseinheiten hierzulande.

Einen besonders starken Anstieg im Jahresdurchschnitt verursachten die pflegerischen Berufe (2000 bis 2004 um jährlich 11,2 %, 2004 bis 2009 um jährlich 20,1 %; insgesamt um jährlich 16 %; von 12.000 Solo-Selbständigen in der Pflege im Jahr 2000 auf 45.800 im Jahr 2009), gefolgt von HausmeisterInnen (12,5 % Anstieg jährlich), ArtistInnen (10,9 %) und Reinigungsberufen (10,4 %). Es liegt nahe, hier Outsourcing-Prozesse zu vermuten, während derweil der traditionell selbständige Uhrmacherberuf (1.900 im Jahr 2000; 700 im Jahr 2009) zunehmend von der Bildfläche verschwindet.

Das Motiv für den Schritt in die Selbstständigkeit ist bei fast 60 % der Betroffenen der Schritt heraus aus der Arbeitslosigkeit. Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Ländern sind übrigens 44 % der Solo-Selbständigen in Deutschland AkademikerInnen, was auch einiges über die Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt aussagt. Auf diese gesellschaftliche Entwicklung versuchen nun Politik und Arbeitsagentur zu reagieren. So gab es in den letzten Monaten verschiedene Initiativen, die letztlich auf eine Reduzierung der Anzahl gering verdienender Selbständiger abzielten. So die Pläne für eine verpflichtende Rentenversicherung der Bundesarbeitsministerin Ursula van der Leyen, weiter die Abschaffung der Unterstützung von Gründern aus ALG1 heraus als Pflichtleistung für alle Versicherten und nun die Pläne des Vorstandsvorsitzenden der Arbeitsagentur, Frank-Jürgen Weise, das Aufstocken mit Hartz IV zu erschweren.

Eine mögliche Motivation hinter diesen ganzen Maßnahmenpaketen könnte sein, die Reservearmee auf dem Arbeitsmarkt zu halten bzw. wieder zu vergrößern, nachdem die Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren zurückgegangen sind. Hierdurch könnte der Niedriglohndruck durch Abbau „geparkter“ Solo-Selbständiger aufrecht erhalten bleiben. Allerdings: Solo-Selbständige sind selbst oft Niedriglöhner. Es ist wahrscheinlich, dass für die Ent-Selbständigten weiterhin niedrige Löhne und andere prekäre Arbeitsformen, wie Leiharbeit und Werkverträge, die Folgen wären. Motivationen und Realitäten der modernen Solo-Selbstständigen sind jedoch letztlich zu unterschiedlich, um hier generelle Aussagen machen zu können.

Die Pläne der Ministerin für Arbeit und Soziales sind am Widerstand von Selbständigen und Freiberuflern vorerst gescheitert. Es hat sich als Folge sogar ein Verband der Gründer und Selbständigen e.V. gegründet, um „Gründern, Selbständigen, Freiberuflern und kleinen Unternehmen eine Stimme“ zu geben. Wie es weitergeht, wird die Zukunft zeigen. Klar ist, alle Maßnahmen um Solo-Selbständige sind im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Es bleibt des Weiteren nur zu hoffen, dass auch die Plaudereien von Weise nur leere Worte bleiben. Womöglich müssen hier aber auch Betroffene, Gewerkschaften und Verbände gesellschaftlich Zähne zeigen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion #216 - März / April 2013