Kuba zwischen Wandel und Untergang

in (23.04.2013)

 

Raúl Castros Rede vom 26. Juli 2007 war gewissermaßen der Startschuss für die Modernisierung des kubanischen Wirtschaftsmodells. Damals betonte der heute 81-jährige Staatschef, man könne nicht mehr ausgeben als einnehmen. Seitdem hat die Regierung zahlreiche Reformen initiiert, die »das ökonomische Modell aktualisieren« sollen, so der offizielle Sprachgebrauch. Zwar hat sich dadurch einiges verändert, doch seit dem Parteitag vom April 2011 scheint Sand ins Getriebe der Reformen gekommen zu sein. Der Staatschef hat mehrfach zur Geduld gemahnt, und selbst unter kubanischen Sozialwissenschaftlern ist sein Kurs nicht unumstritten.

»Wie zu erwarten war, hat es nicht an Ermahnungen gefehlt, in guter und schlechter Absicht, damit wir den Schritt beschleunigen, und man will uns Abfolge und Reichweite der zu treffenden Maßnahmen auferlegen, als würde es sich um etwas Unbedeutendes handeln und nicht um das Schicksal der Revolution und des Vaterlandes«, erklärte Raúl Castro am 23. Dezember 2011 vor dem Parlament. »Im Laufe des Jahres 2012 und 2013 sollen die wichtigsten Reformprojekte umgesetzt werden«, erklärt Omar Everleny Pérez Villanueva: »Man kann nicht in acht Monaten eine Geschichte von 53 Jahren mit grundsätzlich anderen ökonomischen Mechanismen ändern. Das geht nur in einem graduellen Prozess. [...] Ich ziehe einen langsamen, aber soliden Weg vor – wir können uns keine Fehler leisten«, so der 51-jährige Direktor des Studienzentrums der kubanischen Ökonomie (CEEC) im Januar 2012. Die Experten des Studienzentrums raten seit Jahren zu mehr Privatinitiative. In diese Richtung weist auch die Reformagenda der Regierung, urteilt Pérez Villanueva. Allerdings bringen nicht alle so viel Geduld auf. Das liegt sicherlich daran, dass sie weiter zurückblicken als bis zum 18. April 2011, als der VI. Parteitag die so genannten Lineamientos beschloss. Die 313 Leitlinien sollen bis 2015 umgesetzt werden und die Wirtschaft effektiver organisieren. Mehr Autonomie für Staatsbetriebe ist genauso vorgesehen wie die Förderung kleiner Genossenschaften und Privatunternehmer, die ausdrücklich erwünscht sind (Lineamientos, 5). Der Privat- und Genossenschaftssektor soll ein Millionenheer von Arbeitssuchenden aufnehmen, doch weiß niemand so recht, wie das bei 1,8 Millionen Staatsbediensteten, von denen Finanzministerin Lina Pedraza in einer Rede vor dem Parlament Mitte Dezember 2010 sprach, zu bewerkstelligen ist. Von Überbrückungsprogrammen und Weiterbildungsmaßnahmen ist nur selten die Rede. Gewiss scheint nur, dass Kuba »den Abgrund hinunterstürzen« werde, wenn die Maßnahmen nicht verwirklicht werden, so der Staatschef Ende 2010. Das Reformprogramm ist allerdings nicht unumstritten und die zeitlichen Verzögerungen sind ein Indiz für Widerstände innerhalb der Administration. Gleich mehrere der angekündigten Maßnahmen hätten längst umgesetzt werden sollen.

 

  1. Die Landwirtschaft – der Schlüssel zum Erfolg!

 

»Ich hoffe, dass die Novelle der Ley 259 im Dezember 2011 vom Parlament verabschiedet wird, um endlich die Grundlagen für die Reanimierung der Landwirtschaft zu legen«, erklärte Armando Nova Anfang Dezember 2011 in einem Interview mit dem Autor. Nova ist Agrarexperte der Universität Havanna und Wissenschaftler am CEEC und hat in zahlreichen Artikeln für strukturelle Reformen im Agrarsektor plädiert. Ohne großen Erfolg, denn auch die bisher wichtigste Reform unter Raúl Castro hat keine Früchte getragen. Das Gesetz zur Vergabe von staatlichen Ackerflächen an private Klein- und Neubauern, die Ley 259, wurde im Juli 2008 auf den Weg gebracht, doch der erhoffte Produktionsschub ist ausgeblieben: »Es gibt einige Beschränkungen, die von vornherein kontraproduktiv waren. [...] Die Nutzung der staatlichen Anbauflächen wurde nur für zehn Jahre bewilligt, während ausländische Investoren Golfplätze bauen, die dann 29 Jahre genutzt werden können«, kritisiert Nova. Auch das Verbot, Wirtschafts- und Wohngebäude auf dem vom Staat geliehenen Land zubauen, und die relativ kleinen Flächen von 13,42 Hektar haben dazu beigetragen, dass es bis heute zu keiner spürbaren Erweiterung des Angebots gekommen ist, obgleich rund 1,5 Millionen Hektar, die an rund 170 000 Bauern vergeben wurden, zusätzlich bestellt werden. Ein deprimierendes Ergebnis, das Nova schon wenige Wochen nach der Bekanntgabe der Eckdaten der Ley 259 prognostiziert hatte.

Dass nachgebessert werden muss, ist auch im Agrarministerium unstrittig. Die kontraproduktiven Bestimmungen sollen gestrichen werden, so Ramón Frometa, Vizeminister für Landwirtschaft (BBC, 27.09.2011). Doch den detaillierten Ankündigungen folgten lange keine Taten. Erst Ende September 2012 stellte der Staatsrat das Gesetz 300 vor, welches die Ley 259 ersetzt (Gaceta Oficial No. 431). Statt der Novelle also ein neues Gesetz, das allerdings nur bei zwei der vier kontraproduktiven Bestimmungen für Verbesserungen sorgt, wie Armando Nova analysiert (IPS, 24.11.2012). So wird die Fläche, die ein Privatbauer bestellen darf, auf 67,10 Hektar angehoben, und fortan ist es auch gestattet Gebäude auf der vom Staat zur Verfügung gestellten Fläche zu.

Doch gibt es laut Nova bei der Laufzeit genauso wenig wie beim Verkauf der Produkte positive Neuigkeiten. Zehn Jahre sind zu wenig, um von den getätigten Investitionen auch zu profitieren, und der freie Verkauf der Produkte, oder zumindest erheblicher Teile davon, ist für ihn eine notwendige Voraussetzung, um die Landwirtschaft wieder produktiver zu machen. Zudem sieht das Gesetz eine verstärkte Anbindung der neuen Privatbauern an staatliche Farmen oder staatlich kontrollierte Genossenschaften vor. Dadurch versuche die Regierung, die Bauern einer stärkeren Kontrolle zu unterstellen, so monierten Regierungskritiker wie der Ökonom Oscar Espinosa Chepe. Der Importbedarf an Lebensmitteln könnte unter diesen Vorzeichen wieder steigen. Laut offiziellen Kalkulationen wird in Havanna mit Ausgaben von 1,7 Milliarden US-Dollar für 2012 kalkuliert, doch da der Hurrikan »Sandy« im Oktober 2012 große Schäden in der Landwirtschaft verursachte, könnte diese Zahl gestiegen sein.

Diese Devisen könnten produktiver ausgegeben werden, meint Armando Nova. Er plädiert dafür, dass die Bauern selbst entscheiden, was sie anbauen und an wen sie ihre Produkte zu welchem Preis verkaufen. Obendrein sollten, wie bereits im Juli 2008 angekündigt, die Märkte endlich für den Einkauf von Düngemitteln, Saatgut und Werkzeug eingerichtet werden. Ferner soll die Landwirtschaft nicht isoliert betrachtet, sondern das gesamte Wirtschaftsmodell modifiziert werden. Klare Prämissen, die sich auch in den Reden von Raúl Castro finden, wie ein Kollege von Nova, Pavel Vidal Alejandro, betont. Er verweist auf die Widersprüche zwischen dem offiziellen Diskurs und den Realitäten. Nicht nur in der Landwirtschaft hätte man eigentlich schon weiter sein wollen. Immerhin wurde im November 2011 der direkte Verkauf von Lebensmitteln an Hotels und Restaurants legalisiert, was Kleinbauern schon seit Mitte der 90er Jahre erfolglos gefordert hatten. Doch grundsätzlich ist der Staat immer noch für den Ankauf der Lebensmittel verantwortlich. Rund 70 Prozent der Ernte müssen die Bauern zu festen Preisen an das nationale Ankaufssystem »Acopio« abgeben, doch manchmal decken die Ankaufspreise die Produktionskosten nicht.

Zu den Experten, die auf die Ineffizienz dieses Systems hinweisen, zählt auch Vidal Alejandro, der prognostiziert, dass alle Reformen scheitern werden, wenn die Reform der Landwirtschaft nicht gelingt. Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein, denn die Landwirtschaft ist trotz rückläufiger Produktion immer noch ein wichtiger Arbeitgeber. Theoretisch könnte sie auch große Teile der Lebensmittel produzieren, die derzeit für knappe Devisen importiert werden – immerhin rund 80 Prozent der Kalorien, die in Kuba konsumiert werden. Stattdessen werden ganze Landstriche von Marabú und Aroma, einem sehr widerstandsfähigen Buschwerk, überwuchert.

Kritische Ökonomen wie Vidal Alejandro haben dabei China oder Vietnam vor Augen, wo die begrenzte Privatisierung in der Landwirtschaft das Sprungbrett für den ökonomischen Aufschwung bildete (González Mederos 2011, 50). In Kuba hat das Sprungbrett allerdings Risse, denn dem einstigen Agrarland sind die Agrartechniker ausgegangen, wie Entwicklungshelfer konstatieren. Arbeiten auf dem Land ist nicht sonderlich attraktiv, und die Abwanderung der Jugend ist nicht nur in Agrarstädten ein Problem. »Zurück aufs Land« lautet daher eine Parole, die man von Armando Nova ebenso zu hören bekommt wie von Raúl Castro. Doch sie wird wohl erst zum Tragen kommen, wenn die Regierung die Rahmenbedingungen tatsächlich geändert haben wird.

  1. Der demographische Faktor

Der Mangel an Arbeitskräften und Agrartechnikern in Gebieten wie Jagua Grande, wo früher in großen Mengen Orangen geerntet wurden, verweist auf ein weiteres Problem, das sich in den letzten zwanzig Jahren zugespitzt hat: Kubas Bevölkerung wird älter. Derzeit liegt der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen bei 16 Prozent, bis 2020 wird er aber auf 22 Prozent steigen, womit erhebliche Mehrausgaben auf die Regierung zukommen. Schon heute ist das Rentensystem defizitär. Auf 40 Prozent der Ausgaben belief sich der staatliche Zuschuss bereits 2006 – Tendenz steigend (Mesa-Lago 2008, 127).

2007 konnte die niedrige Geburtenrate erstmals die Sterbe- und Auswanderungsquote nicht kompensieren, die in den letzten Jahren, so Pérez Villanueva, bei rund 35 000 Menschen liegt. Es sind die Jungen und besser Qualifizierten, die der Insel oft wegen fehlender Arbeitsperspektiven den Rücken kehren. Auf der politischen Ebene wird das Phänomen hingegen oft noch als »Raub von Talenten« durch die Politik der USA angeprangert, die nach wie vor jeden Kubaner, der ›trockenen Fußes‹ in die USA gelangt, aufnimmt.2 Die Gründe für die illegale Ausreise liegen jedoch auf der Hand und werden in wissenschaftlichen Artikeln auch hin und wieder angesprochen (Aja Díaz 2002). Nicht nur die Zahl der Rentner nimmt zu, auch die der in Armut lebenden Rentner und der Pflegefälle. Die Durchschnittsrente von 192 kubanischen Pesos deckt nicht die Bedürfnisse und hat mit der Inflation der letzten beiden Dekaden erheblich an Wert verloren. Zudem sind Rentner immer weniger in traditionelle Familienstrukturen eingebunden, berichtet die Zeitung der Erzdiözese Havanna Palabra Nuevaim Juni 2009: Pflege- und Altenheime sind bis dato nicht die Regel.

»Exzessive Ausgaben eliminieren«, heißt die Devise, die auch in den Lineamientos fixiert ist. In einem ersten Schritt hat die Regierung das Renteneintrittsalter nach europäischem Vorbild nach oben gesetzt (Mesa-Lago 2008, 132), für Frauen und Männer jeweils um 5 Jahre auf 60 bzw. 65 Jahre. Eine überfällige Anpassung für Vidal Alejandro, der bereits 2007 in einer Studie für das CEEC auf die Rentenlücke im Kontext von Inflation, demographischer Entwicklung und Rentenhöhe hingewiesen hat (2007, 3). Er mahnt zu mehr Haushaltsdisziplin, zur nachhaltigen Bekämpfung der Inflation und der Kontrolle des Peso-Umlaufs in Kuba – Maßnahmen, die die Regierung in den letzten Jahren zwar mit einer strikten Austeritätspolitik beherzigt hat, aber die Sozialpolitik Raúl Castros ist nicht auf die neuen Bedürfnisse und den Wandel in der Bevölkerung ausgerichtet.

  1. Revolution und Integration

Die Leitlinie 174 schreibt die schrittweise Eliminierung der Libreta de abastecimiento vor. Dahinter verbirgt sich ein Büchlein, das in jedem kubanischen Haushalt zu finden ist und den Bezug bestimmter Mengen an Grundnahrungsmitteln zu garantierten und subventionierten Preisen regelt. Derzeit kommt man zehn bis zwölf Tage mit diesem Grundstock an Lebensmitteln wie Reis, Zucker, Bohnen, etwas Huhn, Fisch und Gemüse aus, und für viele der ärmeren Familien wäre der Wegfall der Libreta ein Drama. 20 Prozent der Bevölkerung Havannas leben in Armut und sind auf staatliche Hilfe angewiesen (vgl. Le Monde diplomatique, 8.10.2010).

Auf die 1962 eingeführte Libreta haben alle Kubaner Anspruch, auch die, die über Zuwendungen von Familienangehörigen im Ausland, die remesas, verfügen. Weg vom Gießkannenprinzip, hin zur gezielten Förderung lautet daher die Anregung der Experten vom CEEC, die genau wissen, dass auf politischer Ebene das Ende der Libreta längst beschlossen ist. Schon 2005 soll diese Entscheidung gefallen sein, wenn man dem Fidel Castro-Biographen Ignacio Ramonet glauben darf (2008, 656). Trotz der Jahre, die bis zur Durchsetzung dieses Beschlusses auf dem Parteitag im April 2011 verflossen sind, ist es nicht zum Aufbau alternativer Fördersysteme gekommen, wie sie bereits 2007 und 2008 am CEEC diskutiert worden sind. Wann die Libreta tatsächlich ad acta gelegt werden soll, ist offen.

Die ersatzlose Streichung vertrauter Subventionen stößt auf wachsenden Widerstand angesichts der ohnehin wenig rosigen Perspektiven und der Rückkehr der Ungleichheit. Die Gewinner der Revolution, vor allem Frauen und die schwarze Bevölkerung, sind zu den Verlierern des Periodo Especial geworden, wie die Wirtschaftskrise in Folge des Zusammenbruchs des sozialistischen Lagers seit 1991 in Kuba genannt wird. Hinzu kommt die Erosion im Gesundheits- wie Bildungssystem, wo Lehrer, Bücher, Medikamente und manchmal auch Ärzte fehlen. Dadurch nimmt die Integrationsfähigkeit des kubanischen Gesellschaftsmodells ab. Das Mutterland der sozialen Verantwortung, als das sich Kuba lange Zeit zu Recht dargestellt hat, steht vor der Herausforderung, das Sozialsystem effizienter, leistungsfähiger und vor allem billiger zu machen.

Daran führt kein Weg vorbei, wenn man die Rede Raúl Castros vom 18. Dezember 2010 vor dem Parlament heranzieht: »Viele Kubaner verwechseln den Sozialismus mit den Garantien und Subventionen, die Gleichheit mit der Gleichmacherei, nicht wenige identifizieren das Rationierungsheft als sozialen Erfolg, den man nie verlieren dürfe«, erklärte der Staatschef und forderte freie Fahrt für seine Reformagenda. Das soll auch den sozialen Sektor effektiver machen, doppelte Strukturen auflösen und »irrationale Ausgaben im Gesundheitssystem abbauen«, wie die Parteizeitung Granma am 5. Oktober 2010 bekanntgab. Doch nicht immer treffen die Sparmaßnahmen die Richtigen, wie Kirchenvertreter kritisieren. Staatliches Pflege- und Hilfspersonal wurde beispielsweise in Cárdenas abgerufen, die Bedürftigen an ihre Familien verwiesen, die die Arbeit übernehmen können. »Doch längst ist nicht immer eine Familie da und nicht immer kann sie das leisten«, schildert der protestantische Pfarrer Raimundo García Franco seine Erfahrungen. Arbeit in der benachbarten Touristenmetropole Varadero ist dafür genauso ein Grund wie der Wegzug in die Landesmetropole Havanna oder nach Übersee. Es tut sich eine soziale Lücke auf, die durch die Entlassung von 1,8 Millionen Staatsangestellten noch größer werden könnte. Die sind nämlich längst nicht alle jung, kreativ und gewillt, im aufstrebenden Privatsektor ihre Chance zu suchen. Was ist mit denjenigen, die Ende vierzig oder Anfang fünfzig sind, die eine akademische Ausbildung haben und denen die 178 Berufe, die vom Staat für die freiberufliche Tätigkeit im September 2010 freigegeben wurden, keine Option bieten?

  1. Arbeit auf eigene Rechnung – beschränkt, aber erwünscht?

Pérez Villanueva und Vidal Alejandro weisen in einer Analyse für die Kirchenzeitung Espacio Laical darauf hin, dass die Liste zu beschränkt sei, um auch nur annähernd die Zahl der zu Entlassenden aufzunehmen. Dazu seien neue Kategorien und die Gründung von Genossenschaften außerhalb der Landwirtschaft nötig (2010, 57). Zudem regen die beiden Ökonomen an, internationale Sponsoren für die Vergabe der Kleinkredite an die neuen Selbständigen zu gewinnen und die Einrichtung von Großmärkten für die Versorgung der Kleinunternehmen mit Rohstoffen und Ausrüstung auf diesem Wege zu initiieren. Ergänzende Schritte, die aber auch sechzehn Monate nach der Freigabe der 178 Berufe für die »Arbeit auf eigene Rechnung« noch auf sich warten lassen. Es fehlt an Märkten, wo Handwerker Leim, Leder, Holz, Baumaterialien oder Abwasserrohre kaufen können.

Gleichwohl ist die zweite strukturelle Reformmaßnahme der Regierung ein Erfolg. Rund 240 000 Selbständige haben sich bei den Behörden bis Ende August 2012 neu angemeldet, so dass sich deren Zahl auf insgesamt 390 000 beläuft. Deutlich mehr als noch Mitte der 90er Jahre, als zum ersten Mal die Selbständigkeit für eine Reihe von Berufen erlaubt wurde. Damals waren 158 Berufe freigegeben worden, und quasi über Nacht sprossen kleine Restaurants, Cafetarías und Geschäfte aus dem Boden.3 »Der Unterschied ist jedoch, dass man sich 1993 schweren Herzens für die Rückkehr der Selbständigkeit in Kuba entschied. 2010 wurde sie eingeführt, um das Wirtschaftsmodell mit einem neuen Sektor zu bereichern«, so Pérez Villanueva. Die private Initiative sei ausdrücklich erwünscht, heißt es in Havanna. Doch dafür kommen die Reformen erstaunlich langsam vom Fleck, kritisiert der kanadische Kubaexperte Archibald Ritter (2011, 4). Er vermisst einen konkreten Zeitplan und charakterisiert die Lineamientos als eine Art Wunschliste der Regierung, die von einem kohärenten Reformkonzept weit entfernt sei. Mehrere Widersprüche zwischen einzelnen der 313 Leitlinien hat er ausgemacht.

Welche Rolle der Markt künftig spielen soll, wird nicht nur Ritter nicht klar. Der vermeintliche Masterplan der Regierung scheint noch nicht ganz ausgereift. Carmelo Mesa-Lago, ehemals Professor an der Universität Pittsburgh und eine Koryphäe der Kubaforschung, bescheinigt dem jüngeren der beiden Castro-Brüder hingegen eine gewisse Reformfreudigkeit, doch gebe es nur zwei, die strukturellen Charakter haben – die Vergabe von Staatsland an Kleinbauern und die Entlassung von Staatsangestellten mit der parallel erfolgten Freigabe der 178 Berufe. Zwar dürften die staatlichen Unternehmen mehr Autonomie schnuppern, doch schon bei der längst anvisierten Legalisierung von Produktionsgenossenschaften außerhalb der Landwirtschaft tun sich die leitenden Ministerien schwer.

Dabei könnten die Genossenschaften das Angebot auf den Märkten sichtbar erweitern. Kooperativen im Handwerksbereich oder im Transportsektor sind genauso denkbar wie in der Landwirtschaft. Das wissen auch die Kubaner. So gibt es in Havanna laut Aussagen unabhängiger Journalisten längst Taxi-, Friseur- oder Schusterkollektive, die gut funktionieren. Nur der gesetzliche Rahmen fehlt, obwohl die Regierung schon vor drei Jahren Modellprojekte initiiert hat, um zu prüfen, ob Genossenschaften eine Alternative sein könnten. Ökonomisch war das Experiment zwar erfolgreich, aber es scheint komplizierter als erwartet, die Regelungen für die Genossenschaften in ein tragfähiges Gesetz zu gießen. In einem Interview mit der BBC am 13. August 2012 äußerte sich der Vizeminister für Arbeit und soziale Sicherheit, José Barreiro, sehr verhalten und nannte keinen Zeitplan für die von den Experten des CEEC als zentrale Maßnahme deklarierte Reform.

  1. Zögern, Aufschieben, Abwarten – ein kubanisches Phänomen?

Die Reformen ziehen sich hin und manchmal sind sie mit bürokratischen Fußangeln und Restriktionen gespickt, so der Ökonom und Dissident Oscar Espinosa Chepe. Das könnte, so der ehemalige deutsche Botschafter in Havanna, Bernd Wulffen, am Tauziehen zwischen reformfreudigen Raúlistas und reformbremsenden Fidelistas liegen (NZZ, 31.12.2011). Eine beliebte Erklärung, doch nicht die einzige. Plausibler ist die These, dass Raúl Castro alle Fraktionen innerhalb der politischen Führung unter einen Hut bringen will. Reformen im Konsens und unter voller politischer Kontrolle, könnte die Devise lauten (Hoffmann 2011, 2). Dazu passt, dass Raúl Castro auf Ausgewogenheit bedacht ist und die alte Garde einzubinden versucht. Gleichzeitig plädiert er für die Förderung der Jugend und den Generationswechsel in der Partei. Ein Spagat, der seine Politik prägt, seit er sich im Juli 2007 zu »strukturellen Veränderungen« bekannt hat. Die Furcht vor den Folgen der ökonomischen Öffnung ist groß, und der Satz »Wir können uns keine Fehler leisten« ist oft zu hören – selbst unter Sozialwissenschaftlern, die gegen mehr Dynamik bei den Reformen nichts einzuwenden haben.

Man darf nicht vergessen, dass erstmals in Kubas jüngerer Geschichte konkrete Reformvorhaben benannt sind und dass dazu die Einführung von Marktmechanismen und die Zulassung nicht-staatlicher Wirtschaftsakteure gehören. Gemeint sind damit Genossenschaften außerhalb der Landwirtschaft sowie Kleinunternehmen wie z.B. Restaurants, die auch Kubaner einstellen können. Das war früher undenkbar. Dazu könnte es auch im Handwerks- und Dienstleistungssektor kommen, und die omnipräsente Angst vor einer neuen Bourgeoisie, die Fidel Castro in der Vergangenheit immer wieder ins Feld führte, ließe sich mit einem effektiven Steuersystem im Zaum halten.

Für Kubas hochzentralisierte Wirtschaft ist der Auftakt der Reformen ohne Wenn und Aber ein kleine Revolution, zumal die ökonomischen Probleme auch als strukturelle und nicht wie in der Vergangenheit als ausschließlich von außen verursachte – durch das Handelsembargo der USA4, die internationale Wirtschaftskrise oder den Verlust des sozialistischen Lagers – dargestellt werden. Raúl Castro hat einen neuen Ton angeschlagen. Bestes Beispiel dafür ist der Kampf gegen die um sich greifende Korruption, wie Prozesse gegen leitende Funktionäre im Zuckerministerium, beim Luftfahrtunternehmen und dem nationalen Telekommunikationsunternehmen zeigen (taz, 25.11.2011). Längst werden diese Missstände auch von Intellektuellen wie Esteban Morales angeprangert, der als marxistischer Wissenschaftler die soziale Entwicklung im Blick hat (2010, 2).

Inzwischen wird offen ausgesprochen, dass es keinen Sinn hat »zu perfektionieren, was über Jahrzehnte nicht funktioniert hat«, argumentieren Sozialwissenschaftler wie Everleny Pérez. Wie das neue ökonomische Modell jedoch zukünftig aussehen soll, ist noch nicht absehbar. Die Koordinaten, die in den Lineamientos fixiert sind, weisen Widersprüche auf und sind oft sehr allgemein abgefasst. Unstrittig ist, dass es eine Kombination von staatlicher Planung und Markt sein soll. Wie groß der Anteil des Marktes sein wird, ist offen und wird letztlich von dem Konsens abhängen, auf den sich die Mitglieder der politischen Führung einigen können.

Dabei gehen die Reformen nicht immer so weit, wie es auf den ersten Blick aussieht. Das zeigt sich etwa an der im Oktober 2012 verkündeten »neuen Reisefreiheit«, die Januar 2013 in Kraft tritt. Ausreiswillige müssen keine Ausreiseerlaubnis und keine Einladung aus dem Ausland mehr vorlegen, sondern nur ihren Reisepass und ein Visum des Landes, in das die Reise gehen soll. Die meisten Kubaner jedoch besitzen keinen Reisepass, und wer einen erhält (und wer nicht), ist im Artikel 23 des neuen Gesetzes 302 geregelt. Das öffentliche Interesse kann ebenso ein Kriterium sein wie die öffentliche Sicherheit. Straftäter, aber auch besonders gut Qualifizierte haben kaum Chancen auf das Reisedokument. Das Gleiche könnte für Kritiker gelten. Es wird sich zeigen, wie die Behörden das Gesetz in der Praxis auslegen: Es lässt dem Staat die volle Kontrolle.

 

1 Sämtliche Gesetzestexte sind online einsehbar unter http://www.gacetaoficial.cu

2 Der »Cuban Adjustment Act« wurde am 2. November 1966 erlassen und garantiert allen legal einreisenden Kubanern automatisches Aufenthaltsrecht. Diejenigen, die von der Küstenwache auf See aufgegriffen werden, müssen hingegen nach Kuba zurück. Dieses Gesetz hat dazu geführt, dass die illegale Ausreise aus Kuba zu einem schwunghaften Handel mutierte. Schnellboote holen Kubaner in abgelegenen Buchten ab und bringen sie in die USA – für mehrere Tausend Dollar.

3 Damals wie heute trugen sie zur wirtschaftlichen Erholung und zu nicht unerheblichen Steuereinnahmen bei. Dennoch hat die Regierung später den Privatsektor wieder zurückgefahren, weswegen sich viele Kubaner heute als Neuunternehmer bei Investitionen zurückhalten.

4 Das gerade 50 Jahre alt gewordene Handelsembargo der USA gegen Kuba ist zwar ein negativer ökonomischer Faktor, aber nur punktuell für den Verfall der kubanischen Binnenökonomie verantwortlich (taz, 07.02.2011), die, wie das Beispiel der Landwirtschaft zeigt, auch unabhängig vom Handelsembargo nicht mehr funktioniert.

 

Literatur

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