Occupy Wall Street und die Hegemoniefrage - eine gramscianische Analyse

in (21.03.2013)

DAS ARGUMENT 300/2012 ©, S. 897-909

Untersuchungen zur Entstehung, Dynamik und (zumindest zeitweiligen) Niederlage von Occupy Wall Street (OWS) gibt es mittlerweile zuhauf. In den meisten Fällen spielt dabei Gramscis Hegemonietheorie keine wichtige Rolle. Es ist in der Tat ein Leichtes, die Begegnung zwischen OWS und einer gramscianischen Analyse so anzulegen, dass der Dialog endet, bevor er überhaupt begonnen hat. Ist es nicht offensichtlich, dass der Anspruch, eine »führerlose« Bewegung zu sein, im Widerspruch steht zu Gramscis Hervorhebung von »Führung« im Sinne der Herausbildung eines neuen Typs »organischer Intellektueller«? Gramscis Projekt, mithilfe der kommunistischen Partei das Industrieproletariat zu vereinigen und Bündnisse mit den Bauern und anderen subalternen Klassen und Schichten herzustellen, hätte man auf dem Zuccotti Park vermutlich umgehend als ein überholtes zentralistisches Repräsentationsmodell zurückgewiesen. Für David Graeber ist die Linke säuberlich in »Vertikalisten« und »Horizontalisten« aufgeteilt, so dass OWS dafür herhalten muss, das Scheitern der marxistischen Linken und die Überlegenheit des Anarchismus zu belegen (2012, 27, 122f). Eine ähnliche Dichotomie, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, ergibt sich, wenn die Occupy Bewegungen in den USA aufgrund ihres Egalitarismus, ihres Misstrauens gegenüber dem Staat und ihres Anspruchs auf Leben in alternativen Gemeinschaften umstandslos des »Anarchismus« überführt und kritisiert werden.1

Ich halte diese Dichotomie für oberflächlich und überholt. Sie übersieht bereits, dass Gramsci den Begriff der Führung (direzione) analytisch von dem der Herrschaft (dominazione) unterschieden hat. Sobald man sich darauf konzentriert, was die sozialen Akteure tatsächlich tun (und nicht nur, was sie sagen), kann man schnell herausfinden, dass der Slogan der »Führerlosigkeit« in Wirklichkeit die Perspektive eröffnete, eine Menge neuer Organisatoren zu gewinnen, »organische Intellektuelle« auszubilden, die im Sinne von Gramscis Begriff der »Führung« in einem nicht- herrschaftlichen Sinn Konsensprozesse organisierten. Im Sinne dieser Dialektik konnte Cornel West die Bewegung als »leaderless and leaderful« bezeichnen (2011, 1). Dass OWS gegenüber politischen Parteien misstrauisch ist, hängt in den USA natürlich in erster Linie mit dem Zwei-Parteien-Monopol zusammen und richtet sich v.a. gegen die Versuche der Demokratischen Partei, die Bewegung zu Wahlkampfzwecken zu kooptieren und damit einer »passiven Revolution« zu unterwerfen, die ihr den oppositionellen Schwung rauben würde. Freilich bleibt aus gramscianischer Perspektive das Problem, warum die Occupy-Bewegungen in den USA bislang nicht ernsthaft versucht haben, eine politische Formation neuen Typs zu gründen, um die zeitweiligen Erfolge und Errungenschaften zu verstetigen und zu stabilisieren.

Im Folgenden interessiert mich zum Einen, wie es OWS gelingen konnte, wirksam in die symbolische Ordnung des Neoliberalismus zu intervenieren, seine Hegemonie zumindest vorübergehend zu durchbrechen und die Kräfteverhältnisse im popularen Alltagsverstand zu verschieben. Zum Anderen soll es darum gehen, die Grenzen zu begreifen, die den Aufbau einer politischen Systemalternative blockieren und der Entwicklung einer tragfähigen Gegenhegemonie im Wege stehen.

 

Vorbereitet und nicht-vorbereitet: Die Überdeterminierung des Anfangs

Soziale Bewegungen werden offensichtlich weder am Reißbrett entworfen, noch brechen sie als reines »Ereignis« in die Kette des Seins ein, wie es manche Formulierungen von Alain Badiou nahelegen. Das Problem scheint darin zu liegen, dass sie sowohl vorbereitet als auch in gewissem Sinne nicht vorbereitet werden. Althusser hat versucht, diese Widersprüchlichkeit mit dem Begriff der Überdeterminierung zu fassen, die eine Mehrfachdeterminierung durch verschiedene Realitätsebenen bezeichnet (1968, 137). Bewegungen entstehen aus Dynamiken, die sich komplex überlagern, wobei gerade diese Überlagerungen nur zu einem bestimmten Grad geplant werden können. Bekanntlich gab es mannigfaltige Vorbereitungen auf verschiedenen Ebenen: das kanadische Netzwerk Adbusters startete einen Aufruf Mitte Juli 2011, bald beteiligten sich auch US Day of Rage, Anonymous und weitere Initiativen, die aus New Yorkers Against Budget Cuts hervorgingen. Offensive Aktionen waren sowohl von Gewerkschaftsseite als auch von der Friedensbewegung für den Herbst geplant. Unterschiedliche objektive Ursachen wirkten als Resonanzboden: die Massenarmut ist weitaus stärker angestiegen als in Deutschland, der Weg von Arbeitslosigkeit zu Obdachlosigkeit ist weitaus kürzer, viele Studenten verlassen ihre Universität mit ungeheuren Schulden und werden damit quasi zu Gefangenen im eigenen Land, weitverbreitete Enttäuschung über die Nicht-Erfüllung von Obamas großen Versprechen, eine Krise neoliberaler Hegemonie, die sich zunehmend nurmehr auf einen passiven Konsens stützen kann usw. Vorausgegangen waren Anfang 2011 heftige Massenproteste in Wisconsin gegen den Tea-Party Gouverneur Scott Walker, der den Gewerkschaften das Rückgrat zu brechen versuchte. OWS fi el also keineswegs vom Himmel, sondern entstand als Teil eines »neuen Bewegungszyklus « (Candeias 2013, 2), der von der »Revolution der Würde« in der arabischen Welt in Gang gesetzt und von unterschiedlichen Bewegungen wie den Indignados in Spanien oder der chilenischen Studentenbewegung aufgenommen wurde. »Wie alte und neue Mobilisationsformen ineinandergreifen, umgruppiert werden und spontan neu zusammenfinden, ist zum Verständnis der Proteste zentral.« (3)

Dennoch bleibt die Frage, welche Interventionen eine spezifische Überdeterminierung hervorriefen, bei der das Ergebnis größer war als die Summe ihrer Komponenten. Der zündende Funken wird übereinstimmend dahingegend beschrieben, dass ein Teil der Bewegung gegen Sozialabbau nicht mehr bereit war, die eingefahrenen Protestformen mit Megaphonreden, Transparenten und ausgegebenen Parolen fortzusetzen. Sie spalteten sich von einer Demonstration ab und organisierten nach spanischem Vorbild eine general assembly, die dann eine Platzbesetzung in der Nähe der Wall Street beschloss. Am 17. September wurde der Zuccotti Park besetzt und für zwei Monate gehalten, bis er am 15. November zusammen mit den anderen besetzten Plätzen geräumt wurde. Das Neue und Überraschende lag zunächst in einer symbolischen Wiederaneignung der Commons: mitten in der Wall Street Gegend, im Heiligtum des Finanzkapitalismus, wurde ein Platz besetzt und zum Gemeineigentum erklärt. Die Besetzung war von Anfang an mit Formen direkter, auf dem Konsensprinzip beruhender Demokratie verbunden. Die Bewegung verstand sich als radikal inklusiv und umfasste Leute mit den  unterschiedlichsten Denk- und Lebensweisen. Hinzukam das Ausharren der Besetzer, ihr Mut und ihre Ausdauer, die Bewunderung erzeugten und zu einem wichtigen Faktor in den hegemonialen Kämpfen wurden.

 

»Erscheinungsraum«, räumliche Praxen und rhizomatisches Netzwerk

Zur Analyse der Ausstrahlung von OWS ist es sinnvoll, zwischen dem sichtbaren Schauplatz, den unterschiedlichen Praxen im Raum und dem darunterliegenden, meist unsichtbaren rhizomatischen Netzwerk zu differenzieren. Die meisten Beobachter konzentrieren sich auf ersteres und vernachlässigen die letzteren. Graeber zufolge war es die konkrete Erfahrung direkter Demokratie und gelebter Gemeinschaft, die das Verständnis von Politik und Leben überhaupt grundsätzlich veränderte (2012, 78, 153). Slavoj Žižek beschwor den »heiligen Geist« der frühchristlichen Gemeinden, im Sinne einer »egalitären Gemeinschaft von Gläubigen, die durch gegenseitige Liebe miteinander verbunden sind« (2011, 69). Judith Butler (2011) zitierte Hannah Arendts Begriff des »Erscheinungsraums« und betonte, dass es die »alliierten Körper« der Besetzer seien, die den öffentlichen Raum konstituierten. Im Anschluss an Antonio Negri haben mehrere Beobachter die Besetzungen als Herausbildung einer »konstituierenden Macht« interpretiert, die einen Exodus aus dem demokratischen Konsens und einen Bruch mit der repräsentativen Demokratie im Allgemeinen darstellen soll (z.B. Lorey 2012, 10ff). David Harvey zufolge hat OWS gezeigt, dass die »kollektive Macht der Körper im öffentlichen Raum immer noch das wirksamste Mittel der Opposition darstellt«, nicht »the babble of sentiments on Twitter or Facebook« (2012, 161f).

Jede dieser Interpretationen enthält Richtiges, aber die einseitige Konzentration auf das Sicht- und Erlebbare im Raum führt leicht zu Illusionen der Unmittelbarkeit. Harvey hat sicher recht, wenn er sich gegen eine technokratische Überbewertung der »neuen Medien« wendet, aber seine Entgegensetzung zwischen präsenten Körpern und Twitter-»Geschwätz« bringt die konkrete Organisations- und Vernetzungsarbeit zum Verschwinden, ohne die weder die »direkte« Kommunikation auf dem Platz noch die »virtuelle« übers Netz funktionieren würde. Statt sich auf den »Erscheinungsraum« zu fixieren, könnte es weiterführen, Lefebvres Begriff der »räumlichen Praxis« aufzugreifen und hegemonietheoretisch aufzuschlüsseln.2 Der besetzte Zuccotti Park kann als raum-zeitliches Dispositiv eines alternativen Hegemonialapparats verstanden werden, in dem verschiedene gegenhegemoniale Praxen und Funktionen zusammengeführt werden: politische Debatten und demokratische Entscheidungsprozesse; Medienarbeit, sowohl bezogen auf die eigenen als auch auf die Mainstream-Medien; Bildungsarbeit sowohl mit bekannten Intellektuellen als auch in kleineren Arbeitsgruppen; eine Bibliothek, die bei der Räumung in einem barbarischen Akt in Müllcontainer geworfen wurde; der immer wieder gefährdete Versuch, Solidarität und Kooperation als Lebensweise zu praktizeren. Es war die Kombination solcher gegenhegemonialer Funktionen und Fähigkeiten, die Kohäsionseffekte mit solch intensiver emotionaler Dichte hervorbrachte. Dies ließ die Besetzung so bedeutsam für die Bewegung und so gefährlich für die Gegenseite werden. Anders wäre kaum zu erklären, warum die Polizei seither um jeden Preis eine erneute Besetzung zu verhindern versucht. Mit der Räumung des Zuccotti Parks verlor die Bewegung das raum-zeitliche Zentrum ihres hegemonialen Apparats.

Vor allem aber konnte der Zuccotti Park als Dispositiv gegenhegemonialer Funktionen nur in dem Maße funktionieren, als er Dichtepunkt eines darunterliegenden rhizomatischen Netzwerks war. Eine besondere Stärke der Bewegung bestand darin, dass sie sich von vorneherein eng mit Armeninitiativen, Menschenrechtsinitiativen, linken kirchlichen Gruppen, und nicht zuletzt mit der Gewerkschaftsbewegung vernetzte. OWS organisierte z.B. eine Demonstration zur Telephongesellschaft Verizon, um den Streik der Arbeiter zu unterstützen; ebenso solidarisierte es sich mit dem Streik bei Sothebys Auktionshaus. Im Gegenzug unterstützten mehrere Gewerkschaften OWS von Anfang an, was die Bewegung für einige Zeit gegen Polizeigewalt schützte, da die unteren Ränge der »Blue shirts« in hohem Maße gewerkschaftlich organisiert sind. Das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und einer linken, systemkritischen Bewegung ist weitaus enger als früher, was angesichts der traditionellen Einbindung der US-Gewerkschaften in die Front des Kalten Kriegs alles andere als selbstverständlich ist (vgl. Wolff/Rehmann 2011, 127f).

Die Zusammenarbeit war so angelegt, dass die politische Handlungsfähigkeit beider Seiten gestärkt wurde. OWS erhielt die Möglichkeit, sich soziologisch über das eigene, vornehmlich weiße Milieu und geographisch über Manhattan hinaus auszudehnen und in ärmeren, vornehmlich von Afro-Amerikanern und Latinos bewohnten Außenbezirken Fuß zu fassen, um z.B. Solidaritätsaktionen gegen Zwangsräumungen zu organisieren. Auf der anderen Seite benutzten lokale Initiativen und andere Organisationen die Occupy-Bewegung, um ihren Anliegen und Forderungen mehr Gehör zu verschaffen. Man kann dies z.B. an einer der aktivsten und radikalsten Gewerkschaften in den USA, der Krankenschwestergewerkschaft National Nurses United, sehen, die an den größeren Demonstrationen mit ihren rot-grünen Uniformen auftritt und im Namen einer »Ökonomie für die 99 %« eine »Robin Hood Steuer für Wall Street« fordert. Diese Vernetzungen mit linken Stützpunkten in der Zivilgesellschaft erklären, warum OWS nach dem Verlust des Zuccotti Parks in zahlreichen dezentralen Aktionen überleben konnte. Möglich wurden diese Bündnisse nur, weil OWS konsequent die Strategie eines gewaltlosen zivilen Ungehorsams verfolgte.

 

Wirksame Intervention in die symbolische Ordnung

Einige Marxisten hielten OWS für gescheitert, weil ihre Besetzung keine wirkliche war: Wall Street funktionierte weiter wie bisher, die Spekulanten und Angestellten gelangten jeden Tag ohne Probleme zu ihrer Arbeit (vgl. Marxist-Humanist Initiative 2012). Die Beobachtung ist richtig, die Schlussfolgerung verfehlt. Natürlich hat OWS nicht die Machtzentren des Kapitalismus besetzt. Der Aufruf zum »Generalstreik « am 1. Mai 2012 wurde nicht befolgt, die Versuche, am 2. November und 12. Dezember 2011 den Hafen von Oakland zu blockieren, brachten zwar ca. 20.000 Demonstranten auf die Beine, führten aber nicht zu einer wirklichen Besetzung.

Es wäre fatal, die Messlatte so anzusetzen, dass man die spezifischen Stärken übersieht. Eine davon bestand darin, wirksam in die symbolische Ordnung zu intervenieren. Der Begriff spielte im Strukturalismus und der Psychoanalyse Lacans eine große Rolle und ist wegen seines »ahistorischen« Charakters umstritten. Ich verwende ihn, um einen beweglichen Teilbereich hegemonialer Verhältnisse zu bezeichnen. Der Hegemoniebegriff selbst ist weitaus umfassender und beinhaltet die Kräfteverhältnisse in der ökonomischen Produktionsweise, im Bereich des Politischen und sogar im Militär, dessen Unterdrückungsfunktion Gramsci nicht nur als militärische, sondern als »militärisch-politische« beschreibt (Gef 13, §17, 1560-62). Die symbolische Ordnung betrifft die Sinn-Aspekte dieser Kräfteverhältnisse, ihre diskursiven Formationen, die wiederum das wiedergeben und beeinflussen, was gemeinhin »öffentliche Meinung« genannt wird. Die symbolische Ordnung hat ihre Grenzen und stellt zugleich eine eigene Wirklichkeits- und Wirksamkeitsebene dar.

Die Wirksamkeit der OWS-Intervention kann man am Beispiel der zentralen Parole »We are the 99 %« beobachten, die die New York Times als »nationale Kurzformel« für soziale Ungleichheit beschrieben hat: »In seiner Einfachheit leicht zu verstehen und Twitter-freundlich aufgrund seiner Kürze, hat der Slogan die Zuhörer praktisch aufgefordert, sich auf eine Seite zu stellen.« (1.12.2011) Tatsächlich konnte man auf Demonstrationen erleben, dass gerade dieser Slogan von den unterschiedlichsten Teilnehmern, von Gewerkschafterinnen und Punks, Alten und Jungen, Weißen, Schwarzen und Hispanics mit der größten Lautstärke und Leidenschaft skandiert worden ist. Bei manchen Theoretikern ist die Parole weniger beliebt. Für Jens Kastner fällt sie hinter Gramscis Hegemonietheorie zurück, die doch gezeigt habe, dass Herrschaft komplexer funktioniere, dass finanzieller Reichtum, staatspolitische Macht und soziale Partizipation nicht unmittelbar zusammenfielen (2012, 67f, 72f). Zudem setze sie illusorisch die Einheit voraus, die erst hergestellt werden müsse (75). Dies unterstellt freilich, dass den Demonstranten der performative Charakter der Parole (als etwas nicht einfach »Gegebenes«, sondern »Aufgegebenes«) und das widersprüchliche Verhältnis zwischen Singularitäten und Gemeinsamem nicht bewusst wäre.4 Bedeutsam an einer Parole ist nicht, ob sie den Ansprüchen soziologischer Differenzierung genügt, sondern ob sie relevante Realitätsebenen artikuliert und verdichtet, die gegenhegemoniale Handlungsfähigkeiten freisetzen.

Für die Anziehungskraft des Slogans gibt es mehrere Gründe. Zum Einen bildet er die sozial-ökonomische Polarisierung ab, die sich in den letzten 30 Jahren herausentwickelt hat. Wie das Congressional Budget Office kurz nach der Besetzung des Zuccotti Parks bekannt gab, konnten die reichsten 1% der Bevölkerung in dieser Zeit (also ungefähr seit Beginn des Neoliberalismus) ihren Anteil am Nationaleinkommen mehr als verdoppeln.5 OWS nimmt also eine unbestreitbare ökonomische Tatsache und macht sie zum politischen Slogan. Dass dieser weder die Interessenkonflikte innerhalb der herrschenden Klassen noch die politischen Mehrheitsverhältnisse abbildet, ist offenkundig. Dafür artikuliert er, dass Reallohnstagnation, Prekarisierung, Verschuldung und Verarmung im Neoliberalismus tatsächlich unterschiedliche subalterne Klassen und Schichten bis weit in die »middle class« hinein erfasst haben. Hegemonietheoretisch interessant ist gerade, dass und wie ein solcher »strategischer Essenzialismus« (Spivak) die Leistung vollbringt, eine tiefenstrukturelle Langzeitentwicklung in eine identitätsstiftende Formel zu verwandeln.

Zum Anderen wirkt dieser Slogan so überraschend und provozierend, weil er sich von einer langen Tradition der US-amerikanischen Ein-Punkt-Bewegungen und Identitätspolitiken abhebt, bei denen die Gruppendistinktionen nach Rassen, Geschlechtern und sexueller Orientierung mit radikaler Rhetorik befestigt und legitimiert werden. Sich auf ein Gemeinsames zu berufen, z.B. auf eine Zugehörigkeit als Lohnabhängiger, Arbeiter oder Prekarisierter, ist demzufolge ungeheuer altmodisch und un-cool, ein »Essenzialismus«, der einen kollektiven Standpunkt projiziert, wo es nur fragmentierte, von Signifikantenketten erzeugte und durchzogene Subjekte gibt. Mit dem 99 %-Slogan hat OWS dieses postmoderne Tabu durchbrochen. Gegen die vielfältigen Spaltungen und Fragmentierungen hat die Bewegung wieder den großen sozial-ökonomischen Gegensatz der Gesellschaft, die »Klassenfrage« im weitesten Sinn, auf die Tagesordnung gesetzt, und dies auf eine neuartig offene und inklusive Weise, die mit der arabischen »Revolution der Würde« die konstruktive und kohärenzstiftende Orientierung gemein hat.

Diese Identitätskonstruktion lässt sich wiederum fruchtbar mit Gramsci verbinden. Auch er nahm die plurale Zusammensetzung der Subjekte als methodischen Ausgangspunkt, wenn er den »Alltagsverstand« als widersprüchlich inkohärent und die Persönlichkeit als »bizarr zusammengesetzt« kennzeichnete. Im Unterschied zu postmodernen Theorien behandelt Gramsci die Widersprüchlichkeit des Alltagsverstands jedoch vom Gesichtspunkt einer Philosophie der Praxis, die kritisch an der Kohärenz des Alltagsverstands arbeitet. Dabei kann sie sich auf einen »gesunden Menschenverstand« (buon senso) stützen, der sich durch realistische Realitätsbeobachtung und »Experimentiergeist« auszeichnet. Die Parole »We are the 99%« kann als Versuch gesehen werden, auf der Grundlage dieses buon senso an der Kohärenz des Alltagsverstands zu arbeiten (Gef, H. 10.II, §48; H. 11, §12, 1376f). Um dies konkret zu beobachten, müssen wir ein paar Jahre zurückblicken.

 

Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Alltagsverstand

Als die Wirtschaftskrise im September 2008 ausbrach, schien die neoliberale Ideologie mit ihrer heiligen Dreifaltigkeit aus Deregulierung, Privatisierung und Freihandel diskreditiert. Sowohl die scheidende Bush-Regierung als auch die antretende Obama-Regierung beschlossen, die zusammengebrochenen Großbanken zu retten, ohne irgendwelche Bedingungen zu stellen. Als im Frühjahr 2009 bekannt wurde, dass die Manager der mit Steuergeldern geretteten AIG sich 165 Millionen Dollar Boni einsteckten, erreichte der Volkszorn seinen ersten Höhepunkt. Dies stellte ein »populistisches Moment« dar, das von der Obama-Regierung verpasst wurde (vgl. Frank 2012, 34, 39, 167f). Mit Larry Summers und Tim Geithner plazierte Obama gerade diejenigen Leute an Schlüsselstellen seiner Regierung, die für die Deregulierung der Finanzmärkte maßgeblich verantwortlich waren. Auch verzichtete er »auf jene öffentlichen Beschäftigungsprogramme, die unter Roosevelt [...] den Arbeitslosen eine Perspektive schufen, die Massenkaufkraft stärkten und dabei das Bild der USA von den Nationalparks über die Staudammsysteme bis zu den Landstraßen in damals entlegenen Regionen bis heute prägen« (Solty 2012, 10). Die Chance, auf der Grundlage eines sozial-ökologischen New Deals einen neuen geschichtlichen Block zu konstruieren, wurde vertan bzw. war nie ernsthaft angestrebt. Die aktivierende Rhetorik von Obamas »yes we can«-Wahlkampagne schlug in Entäuschung um und erzeugte eine lähmende Dyshegemonie (vgl. Haug 2012, 175ff, 197ff). Da es keine unabhängige linke Kraft gab, die den Volkszorn hätte artikulieren können, war es die Tea Party, die nach der Bankenrettung 2008 das Terrain besetzte, die Enttäuschung ausnutzte und eine rechtspopulistische Massenbewegung startete. Die Bewegung ist zu einem Gutteil von oben organisiert (finanziert von Industriellen wie z.B. den Koch Brüdern, ultra-konservativen Organisationen wie Americans for Prosperity und Freedom Works, propagiert von Fox News usw.) und greift gleichzeitig die Ressentiments der Bevölkerung gegen die »da oben« auf. Es gelang ihr, die Unzufriedenheit von »Wall Street« auf »Washington«, von Großbanken auf die Regierung umzulenken. Bis Mitte September 2011 konnte man in den USA den Eindruck haben, die Tea Party sei die einzige ausgreifende Bewegung. Ein paar Wochen später sah alles anders aus. Die am 17. September begonnene Besetzung des Zuccotti Parks breitete sich Mitte Oktober über die USA und darüber hinaus global aus. Einer Meinungsumfrage von Ende Oktober zufolge sympathisierten 43 % der Befragten mit dem Protest von OWS, aber nur 9 % mit der Politik des Kongresses.

Es bietet sich an, diesen Umschwung als tektonische Verschiebung im popularen Alltagsverstand zu verstehen, dessen widersprüchliche Zusammensetzung ihn als Kampfplatz gegensätzlicher Diskurse und Wahrnehmungsweisen ausweist. Hinsichtlich der Finanz- und Wirtschaftskrise kann man vereinfacht zwei hauptsächliche Verarbeitungsweisen unterscheiden. Für die erste liegt das Hauptproblem in der hohen Staatsverschuldung, die nach dem Muster des familiären Haushalts gedacht wird: die Regierung gibt zu viel Geld aus, v.a. für die falschen Leute, z.B. für die vermeintlich meist schwarzen oder hispanischen Armen in den Großstädten, die Löhne im »privilegierten« öffentlichen Dienst sind zu hoch, die Gewerkschaften zu aufmüpfig, die Immigranten nehmen uns die Arbeitsplätze weg usw.; eine zweite Schicht im Alltagsverstand, näher an Gramscis Verständnis des »gesunden Menschenverstands«, erkennt die zunehmende Polarisierung zwischen Arm und Reich, identifiziert sie als nicht tragfähig und unmoralisch und macht dafür vornehmlich eine spezifische Ausprägung des neoliberalen Kapitalismus, z.B. seinen spekulativen Finanzsektor verantwortlich. Der aufkeimende Verdacht, die kapitalistische Produktions- und Lebensweise selbst sei die entscheidende Fehlschaltung, wird aus Furcht vor Marginalisierung und dem Fehlen einer glaubhaften demokratisch-sozialistischen Alternative in der Regel blockiert und in Latenz gehalten. Hegemonietheoretisch bedeutsam ist, dass diese (schematisch vereinfachten) gegensätzlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen nicht säuberlich getrennt auftreten, sondern dieselben Personen und Gruppen durchziehen, sich überschneiden, wechselseitig durchdringen und »Kompromissbildungen« (Freud) eingehen (vgl. PIT 1979, 190f; Rehmann 2011, 160-64).

Die wirksamste Strategie gegen die populare Ausstrahlung der Tea Party ist die Konstitution einer ausgreifenden und hegemoniefähigen linken Gegenbewegung. Die Anziehungskraft der Parole »We are the 99 %« erklärt sich zu einem Gutteil daraus, dass sie wirksam an den buon-senso-Dimensionen des Alltagsverstands anknüpfte. Dass OWS in so kurzer Zeit die Kräfteverhältnisse in der öffentlichen Meinung verschieben konnte, zeigt zum einen, dass es – entgegen totalisierender Vorstellungen einer vollständigen Manipulation z.B. durch die Kulturindustrie oder durch Baudrillards »hyperreale« Simulacra – auch in den USA starke commonsense- Potenziale für eine linke Alternative gibt6, zum anderen dass in Zeiten der Wirtschaftskrise die Deutungen schnell wechseln können. Das Pendel kann also auch wieder zurückschlagen. Das führt mich zu einigen Schwächen von OWS.

 

Korporatistische Grenzen und Schwachpunkte

Die Räumung des Zuccotti Parks hat gewiss viele enttäuscht und desorientiert, doch OWS lebt in vielen dezentralen Protestaktionen v.a. gegen Studentenschulden und Zwangsräumungen weiter. Die vornehmlich schwarze Bewegung »Occupy the Hood« versucht, die Bewegung in arme Stadtteile zu tragen, im Frühjahr 2012 startete eine breit angelegte »train the 99 %«-Kampagne zur Ausbildung in Organizing und gewaltlosem Widerstand. Zum 1. Mai ist es gelungen, eine große Demonstration von ca. 30 000 Leuten auf die Beine zu stellen – eine beachtliche Zahl, da der 1. Mai in den USA kein Feiertag ist. Im Herbst 2012 unterstützte »Occupy Chicago« den erfolgreichen Streik der Lehrergewerkschaft gegen die Privatisierung der Schulen. Auch in dem Fall, dass OWS keinen neuen Dichtepunkt findet, könnte der abgelaufene Lernprozess verhindern, dass künftiger Widerstand wieder aufs Niveau der üblichen Ein-Punkt-Bewegungen zurückfällt.

Die Kehrseite der erfolgreichen Intervention in die symbolische Ordnung ist, dass diese selbst nur einen begrenzten und besonders beweglichen Aspekt der gesamtgesellschaftlichen Hegemonieverhältnisse darstellt. OWS hat den politischen Diskurs verändert, aber weder die Kräfteverhältnisse in Ökonomie und Staat noch die innere Zusammensetzung der hegemonialen Apparate. Die Politik ist immer noch durchs Zwei-Parteien-System monopolisiert, in der Medien- und Kulturindustrie haben die gleichen Großunternehmen das Sagen, deren Berichterstattung nach der Räumung des Zuccotti Parks stark zurückging und negativ wurde. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Zustimmung bei Umfragen wieder abgenommen hat.

Gramsci bescheinigte der katholischen Kirche, sie hätte die Fähigkeit, ihre Lehrsätze durch beharrliche Wiederholung fest im Alltagsverstand der Gläubigen zu verankern. Er schlussfolgert, »jede kulturelle Bewegung [...], die danach strebt, den Alltagsverstand und die alten Weltauffassungen [...] zu ersetzen«, dürfe nicht müde werden, »die eigenen Argumente zu wiederholen (und dabei literarisch ihre Form abzuwandeln)«, zudem müsse sie, und das sieht er im Gegensatz zur katholischen Kirche, daran arbeiten, »immer breitere Volksschichten intellektuell zu heben« (H. 11, §12, 1390). Auch wenn der Vergleich mit doktrinären religiösen Glaubenssätzen für viele Linke befremdlich klingen mag, sollte man das hegemonietheoretische Argument ernstnehmen: Ohne stabile Stützpunkte, die es ermöglichen, die Kritik am Kapitalismus und Alternativen immer wieder vorzutragen, werden die buon senso- Elemente im Alltagsverstand vom Gewicht der herrschenden Ideologien wieder an den Rand gedrückt. Es bedarf stabiler Institutionen und Diskurspositionen, um die Potenziale für eine mögliche linke Alternative, die durch OWS kurzfristig freigelegt und mobilisiert werden konnten, zu einer politisch-ethischen Überzeugung zu festigen.

Ich sehe v.a. zwei Bereiche, in denen OWS sich weiterentwickeln sollte. Zum einen bin ich, im Gegensatz zu den Idealisierungen des »Erscheinungsraums«, der Auffassung, dass uns die Beschwörung von direkter Demokratie und Konsensprinzip in Vollversammlungen auf die Dauer nicht weiterhilft. Sie bleiben ein relativ folgenloses Schauspiel, wenn sie nicht in Konzepte einer Wirtschaftsdemokratie übersetzt und konkretisiert werden. Indem OWS mit seiner 99 %-Parole den grundlegenden Gegensatz zwischen Demokratie und Kapitalismus dramatisiert, ist es implizit bereits eine Bewegung für Wirtschaftsdemokratie, ohne jedoch den Begriff explizit und systematisch auszuarbeiten. Diese Perspektive ist in allen Traditionen relevant, die in OWS eine Rolle spielen: in der anarcho-syndikalistischen Tradition, die auf die Gründung von Genossenschaften orientierte; in sozialdemokratischen Koop- und Mitbestimmungsmodellen, die im schwedischen Rudolf Meidner Plan von 1982 ihren umfassendsten und deutlichsten Ausdruck fanden; und in den Traditionen der kommunistischen Rätebewegung, nicht zuletzt in der von Gramsci geführten Ordine Nuovo Bewegung. Man kann ohne große Übertreibung behaupten, dass linke Organisationen im weitesten Sinne nur als Bewegungen für umfassende Demokratie eine hegemoniale Anziehungskraft entwickeln konnten, die sie wiederum schwächten und unterminierten, sobald sie die wirtschaftsdemokratischen Strukturen und Instanzen abschafften oder instrumentalisierten. Ein durchdachtes und verständliches Projekt einer Wirtschaftsdemokratie auf der Höhe des gegenwärtigen Hightech-Kapitalismus, das seine Lektionen sowohl aus dem historischen Scheitern des osteuropäischen Staatssozialismus als auch aus dem Versagen der westlichen Sozialdemokratie gelernt hat, könnte zu einem Schlüsselkonzept für die Neuformulierung eines Sozialismus des 21. Jahrhunderts werden. Die Perspektive ist zudem nicht u-topisch, sondern enthält konkrete Ansatzpunkte in der Gegenwart: In den USA arbeiten ca. 11,7 Millionen Beschäftigte in 11 400 Employee Stock Ownership Plan Companies (ESOPs), die sie ganz oder anteilsmäßig besitzen (vgl. »Economic Democracy Manifesto Group« 2012).

Zum anderen wird die künftige Entwicklung in starkem Maße davon abhängen, ob es gelingt, dem Protest festere und unabhängige Organisationsformen zu geben. Hier stellt sich unausweichlich die Frage einer linken Partei, die angesichts des undemokratischen Wahlsystems in den USA zugleich sehr schwierig ist und regelmäßig Spaltungen hervortreibt, bevor überhaupt ein relevanter Zusammenhang gestiftet ist. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang, dass Gramsci den Begriff nicht in dem pragmatischen, auf aktuelle Wahlchancen bezogenen Sinn verwendete, wie es heute oft der Fall ist. Im Rahmen seiner Hegemonietheorie bezieht sich der Begriff der Partei auf die Aufgabe, einen »ganzen aktiven gesellschaftlichen Block« zu konstruieren, zu organisieren und zu erziehen (z.B. Gef H. 15, §55). Gramsci konzipiert sie als kollektiven Intellektuellen, der es den subalternen Klassen und Bewegungen ermöglicht, eigene organische Intellektuelle auszubilden. Sie ist zudem dafür verantwortlich, die organischen Intellektuellen einer bestimmten Gruppe mit den traditionellen Intellektuellen zu verbinden (Gef H. 12, §1, 1505). Der Punkt, an dem »Ideologien« zur »Partei« werden, markiert für Gramsci den Moment einer Katharsis, d.h. den Moment, wo eine Bewegung die korporatistischen, gruppenegoistischen Beschränkungen rein ökonomischer Kämpfe überwindet und sich mit anderen subalternen Gruppen zusammenschließt (Gef H. 10.II, §6, 1259; H. 13, §17, 1560f).

Gerade hier ist es erforderlich, Gramscis Hegemonietheorie für die gegenwärtige Periode des Hightech-Kapitalismus neu zu bestimmen. W.F. Haug hat bereits 1981 den Begriff der »strukturellen Hegemonie« geprägt, mit dem er, freilich beschränkt aufs Kulturelle, eine Hegemonie ohne vorherbestimmte Avantgarde bezeichnete. Sie bildet sich als Ergebnis eines »Aktivierungsdispositivs«, in dem soziale Bewegungen so angeordnet sind, dass sie bei Bewahrung ihrer Eigenständigkeit eine größere Handlungsfähigkeit entwickeln als wenn sie allein handelten (1981, 21ff). Die plurale Zusammensetzung der Subjekte wurde dann prominent durch Hardt/ Negris Begriff der Multitude artikuliert, wobei hier gerade die politische Frage, wie die verschiedenen Komponenten der Vielheit in eine produktive Anordnung gebracht werden können, merkwürdig unterbelichtet blieb.7 Zur strategischen Bestimmung einer netzwerkartigen Form politischer Organisation wurde im Umkreis der italienischen Rifondazione Comunista der Begriff der »verbindenden Massenpartei« (partito connettivo di massa) geprägt (z.B. Porcaro 2006; 2011). Hans-Jürgen Urbans Begriff der »Mosaiklinken« (2009) zielt darauf, die einzelnen Komponenten, v.a. Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Parteien in ein strukturiertes (mosaik-ähnliches) Arrangement zu bringen und somit die Linke als »heterogenen Kollektivakteur« zu rekonstituieren.

Ich erwähne diese Erneuerungsversuche nur stichwortartig, um zu illustrieren, dass die von Gramsci beschriebenen intellektuellen, erzieherischen und verbindenen Parteifunktionen aus dem Kontext des Avantgarde-Konzepts der III. Internationale herausgelöst und unter den Bedingungen »heterogener Kollektivakteure« re-aktualisiert werden können. Die linken Formationen, die gegenwärtig relativ erfolgreich sind, z.B. die Izquierda Unida in Spanien, der Front de Gauche in Frankreich und v.a. Syriza in Griechenland sind in sich schon Bündnis- und Koalitionskonstruktionen. Die jahrelang teilweise mit äußerster Militanz geführten Großdemonstrationen in Griechenland wurden immer wieder niedergeknüppelt und scheiterten – bis es dem Linksbündnis Syriza gelungen ist, die verschiedenen Bewegungen zu einer politischen Alternative zusammenzuführen, die im Juni 2012 nahezu 27 % der Stimmen erhielt.

Ein solches Linksbündnis fehlt in den USA. Auch OWS hat bislang nicht den politischen Willen und die Fähigkeit hervorgebracht, eine netzwerkartige linke Formation neuen Typs zu initiieren. Die »konstituierende Macht« findet noch keinen Weg zur konstituierten Macht, die weitere Konstitutionsprozesse fördern und verbinden würde. Die Schwäche des 99 %-Slogans liegt nicht in der beanspruchten Konstruktion eines breiten geschichtlichen Blocks, sondern darin, dass diese Ankündigung nicht mit einer entsprechenden politisch-organisatorischen Kohärenzleistung einhergeht. In der Praxis bleibt die Bewegung auf einer korporatistischen Stufe stecken: obwohl es vielversprechende Vernetzungen gibt, sind sie vor-politisch und zerfallen daher immer wieder in Fragmente.

Aber das kann sich ja noch ändern. Rosa Luxemburg polemisierte gegen die ihrer Meinung nach bürokratische Auffassung, es müsse feste Organisationen als Voraussetzung für einen erfolgreichen Massenstreik geben. Sie verweist stattdessen auf die russische Revolution 1905, wo solche Organisationen gerade umgekehrt aus dem Massenstreik hervorgingen, der zum »Ausgangspunkt einer fieberhaften Organisationsarbeit « wurde (GW 2, 117). Es geht nicht darum, die Occupy Bewegung als den neuen Königsweg der Linken zu fetischisieren, der andere Organsationsformen überflüssig machen würde. Aber als Anstoß zu einer intensiven Vernetzungs- und Organisationsarbeit könnte sie (oder eine ihrer Nachfolgerinnen) zum dynamischen und belebenden Teil einer neuen pluralen linken Formation werden.

 

Literatur

Althusser, Louis, Für Marx, Frankfurt/M 1968

Butler, Judith, »The State of Things: The Politics of the Street and New Forms of Alliance«, 2011 (www)

Candeias, Mario, »Strategische Neuorientierungen und molekulare Organisierung. Occupy, Indignados, Syntagma und die Emergenz des Mosaiks«, 2013 (z.n. dem Manuskript, im Erscheinen)

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1 So leitet z.B. Barbara Epstein den »anarchistischen« Charakter der Bewegung u.a. ab aus »its insistence upon egalitarianism, its suspicion of the state and aversion to mainstream institutions and culture, and its emphasis on the creation of alternative communities« (2013, 66). Damit liefert sie zentrale Impulse jeder linken Protestbewegung an eine politische Strömung aus. Diese Preisgabe erfolgt wiederum auf Grundlage einer undialektischen Entgegensetzung von »Widerstand« und »Gesellschaftsveränderung«, die »unterschiedlichen Logiken« gehorchten: einerseits »calls for drama, performance, spectacle«, andererseits »calls for thinking about how to get from where we are to the society that we want« (81f). Epsteins schablonenartige Dichotomie verfehlt Rosa Luxemburgs Einsicht, dass alles darauf ankommt, die Widersprüche zwischen Fernzielen und Nahzielen, Systemkritik und Reform usw. in einer »revolutionären Realpolitik« zu verbinden (GW 1/1, 373).

2 Vgl. Lefebvres Unterscheidung zwischen »Repräsentationen des Raums«, »repräsentativen Räumen« und »räumlichen Praxen« (1991, 33). Letztere sind grundlegend für die »Produktion des Raums« (36-8), bezeichnen gesellschaftliche Praxen, die auf ein räumliches Feld projiziert werden (8), umfassen die für die jeweilige Gesellschaftsformation charakteristische Raumstruktur und sichern Kontinuität und Kohäsion (33).

3 »Once violence enters the picture, it monopolizes the landscape of the conflict, co-opting other tactics and alienating potential participants« (Schneider, Nathan, in: van Gelder 2011, 43f).

4 Vgl. hierzu Hardt/Negri 2009, 345ff. Dass OWS sich nicht als homogene Einheit konzipierte, zeigen z.B. die heftigen Auseinandersetzungen um den ersten Satz der Gründungsdeklaration »As one people, formerly divided ...«, der schließlich abgeändert wurde (vgl. Ashraf, in: van Gelder 2012, 33ff). Siehe auch die Dialektik von Singularitäten und Gemeinsamem in den Lebensgeschichten in http://wearethe99percent.tumblr.com (Auszüge in Luxemburg 4/2011, 131-39).

5 Im Jahre 1979 hatte das 1 % einen Anteil von 8 %, 2007 schnitt es sich 17 % vom Kuchen ab, während bei allen anderen der Anteil abnahm (vgl. Wolff 2011).

6 Immerhin waren im April 2011 in einer Umfrage 20 % der Befragten der Auffassung, dass die USA mit einem sozialistischen System besser dran wären als mit einem kapitalistischen; in der Altersgruppe zwischen 15 und 25 sprachen sich sogar 33 % für den Sozialismus aus (vgl. Graeber 2012, 80).

7 In Commonwealth formulieren Hardt/Negri die Aufgabe eines »Zum-Fürsten-Werden« (Becoming-Prince) der Multitude, das sie bestimmen als den »Prozess, in dem die Multitude die Kunst erlernt, sich selbst zu regieren und nachhaltige demokratische Formen gesellschaftlicher Organisation zu schaffen« (2009, 9). Da sie aber davon ausgehen, dass die Multitude in zunehmender »Autonomie« bereits eine »biopolitische« Produktion des Gemeinsamen verwirklicht, reduzieren sie das Politische aufs »biopolitische Diagramm« (371), sodass es seinen Charakter als relativ eigenständigen Bereich gesellschaftlicher Kämpfe verliert. Im Rahmen eines angeblich schon realisierten Common-ismus, kann die Frage der politischen Organisation der Multitude nicht mehr adäquat beantwortet werden.