Die Politische Mediation ist nur ein Baustein in einem weiter ausgreifenden Herrschaftsprojekt, das Bürgerbeteiligung heißt
Als Auftakt einer Diskussion zum Thema „Politische Mediation“ erschien im November 2012 in der Graswurzelrevolution Nr. 373 Besalinos Artikel „Trick 17 mit Selbstüberlistung / Warum die Beteiligung an der Schlichtung zu S21 ein Fehler war und wieso die Politische Mediation keine Alternative ist“. Daran anknüpfend haben wir im Dezember in der GWR 374 eine Erwiderung von Christoph Besemer und Roland Schüler abgedruckt, sowie die Antwort darauf von Besalino und Michael Wilks Analyse „Stuttgart 21- ein Lehrstück. Mediation als Konfliktbewältigungsstrategie“. Diesmal setzen wir die Diskussion mit einem Text des libertären Kultursoziologen Thomas Wagner fort. Für die GWR 376 planen wir einen Beitrag zum Themenkomplex, der die RWE-Studie „Akzeptanz braucht Bürgerbeteiligung“ zum Widerstand im Hambacher Forst unter die Lupe nehmen wird. (GWR-Red.)
In einem Punkt hat Christoph Besemer recht: Mediation ist nicht per se bewegungsfeindlich. Ganz im Gegenteil: Immer wenn es mit der Hilfe erfahrener Mediatoren gelingt, innerhalb der oft bunt und widersprüchlich zusammengesetzten und daher auch leicht zerbrechlichen Bewegungsbündnisse einvernehmliche Lösungen für Konflikte zu finden, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Bildung einer Gegenmacht, stärkt die politische Handlungsfähigkeit von unten.
Fraglich ist jedoch, inwieweit sich die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden dieser wichtigen Aufgabe noch verpflichtet fühlt. Denn als sie sich, wie Besalino in der vorletzten Ausgabe der Graswurzelrevolution in seinem Text „Trick 17 mit Selbstüberlistung“ (Seite 10/11) berichtete, im April 2012 mit der Heinrich Böll Stiftung zusammentat, um im Stuttgarter Rathaus über Politische Mediation zu debattieren, hat sie damit nicht die sozialen Bewegungen unterstützt, sondern tatkräftig und willfährig an ihrer staatlichen Vereinnahmung mitgewirkt. Denn „Mediation“ in dem oben beschriebenen Sinne und „Politische Mediation“, wie sie sich heute etabliert hat, sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe. Genauer gesagt: Die „Politische Mediation“ bezweckt das genaue Gegenteil von dem, was sich soziale Bewegungen von internen Mediationsverfahren erhoffen dürfen. Nicht um die Stärkung, sondern um die Schwächung systemkritischer Kräfte geht es ihr.
Michael Wilk hat bereits vor fast fünfzehn Jahren begonnen, wichtige Beiträge zu diesem Thema zu publizieren, die leider nicht in ausreichendem Maße zur Kenntnis genommen wurden.1
Umso erfreulicher ist es, dass er seine politischen Erfahrungen und seine Erkenntnisse zur Theorie und Praxis der Politischen Mediation heute erneut in die Debatte einbringt.
Allerdings bezieht sich der theoretische Teil seiner Kritik in seinem Artikel „Stuttgart 21 – ein Lehrstück“ (GWR 374, Seite 10f) auf Texte, die noch aus den achtziger und neunziger Jahren stammen.
Sie dokumentieren eine historische Phase, in der die Implementierung der Politischen Mediation als Teil einer neoliberalen Herrschaftsstrategie hierzulande noch am Anfang stand.
Zieht man neuere Publikationen aus diesem Forschungszweig zu Rate, der zugleich ein expandierendes und staatlich gefördertes Geschäftsfeld für Befriedungsspezialisten ist, werden die von Wilk in wesentlichen Zügen bereits herausgearbeiteten Merkmale der Politischen Mediation vielleicht noch deutlicher.
Verhinderung von Gegenmacht
Der Kritik an der Politischen Mediation wird gerne der Einwand entgegen gehalten, dass es ab irgendeinem Zeitpunkt der Auseinandersetzung zwischen sozialen Bewegungen und ihren jeweiligen Gegnern doch zu Verhandlungen kommen müsse, wenn man sich nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen wolle.
Das ist im Prinzip richtig. Manch einer könnte daher auf den Gedanken kommen, dass es sich bei der Politischen Mediation zwar vielleicht nicht gerade um eine bewegungsförderliche, aber doch zumindest eine „neutrale“, eine irgendwie über oder neben den Interessen der Kontrahenten stehende Veranstaltung handelte.
Diese Annahme, die den Erwerbsinteressen von professionellen Mediatoren entgegenkommt, ist jedoch falsch. Denn ihre Methoden, so menschenfreundlich sie auch ausgestaltet sein mögen, sind zunächst vor allem Mittel zum Ziel, nicht schon das Ziel selbst.
In anarchistischen Kreisen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Versuche, hehre politische Ziele, mit Gewalt herbeizuführen, zum Scheitern verurteilt seien.
Falls das stimmen sollte, bedeutet das jedoch umgekehrt längst noch nicht, dass gewaltfreie Mittel ihrerseits automatisch den Weg in eine herrschaftsfreie Gesellschaft bereiteten.
Denn tatsächlich stützt sich Herrschaft nie ausschließlich auf Zwang, sondern sucht in der Regel die Zustimmung der Beherrschten zu erreichen.
Ihre Strategen sind deshalb immer darauf aus, den sozialen Bewegungen, den fortschrittlichen Kräften in der Gesellschaft entsprechende Methoden zu entwenden. Im Falle der Politischen Mediation will man dabei noch gründlicher vorgehen, als es sich beispielsweise im Bereich der Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern längst eingespielt hat, die insofern als geglückte Vereinnahmungsstrategien betrachten werden müssen, als die Gewerkschaften eine Überwindung des kapitalistischen Herrschaftssystems in der Mehrzahl seit langem nicht mehr anstreben.
Doch während es die Kapitalseite in den ritualisierten Arbeitskämpfen immerhin mit einem (heute durch Mitgliederverlust stark geschwächten) Gegenüber zu tun hat, zielt sie mit der Politischen Mediation darauf, die Herausbildung einer ernst zu nehmenden Organisationsmacht ihrer GegnerInnen in einem möglichst frühen Stadium zu verhindern.
„Wer die Bürger früh einbindet, bekommt später weniger Widerstand“, schrieb Maik Bohne am 28. November 2011 im Handelsblatt. Der Politikwissenschaftler leitet im Rahmen der Stiftung Neue Verantwortung ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das den überaus passenden Titel „Kollaborative Demokratie 21“ trägt. Denn im übertragenen Sinn handelt es sich beim Geschäft der politischen Mediation ja tatsächlich um die partizipatorisch nur verkleidete „aktive Unterstützung einer feindlichen Besatzungsmacht“, wie es im Fremdwörter-Duden zum Begriff der „Kollaboration“ heißt.
Das Projekt will Stärken und Schwächen bestehender Ansätze der Bürgerpartizipation untersuchen und daraus konkrete Handlungsempfehlungen für Gesetzgeber, Lokalpolitik, Unternehmer und die sogenannte Zivilgesellschaft entwickeln, wie Entscheidungs- und Einbindungsprozesse in der Praxis gestaltet werden können. Gut vernetzte PolitikberaterInnen haben aus der Entwicklung und Durchführung von „Vermittlungsverfahren zur Lösung eines öffentlichen Konflikts“2 , sprich: politischer Mediation, ein offensichtlich einträgliches Geschäftsfeld gemacht.
Befriedungsbusiness: die IFOK GmbH
Als führendes Unternehmen auf diesem Gebiet versteht sich das Institut für Organisationskommunikation (IFOK GmbH), mit dem auch Maik Bohne als Experte für Bürgerbeteiligung zusammen arbeitet. Das von dem promovierten Biologen, ehemaligen Leiter der Abteilung für politische Kommunikation der BASF AG und ehemaligen Pressesprecher im Bundesumweltministerium Hans-Peter Meister im Jahr 1995 gegründete Beratungsunternehmen hat sich auf die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Planung und Umsetzung von Bürgerbeteiligungsverfahren spezialisiert.
Es ist heute nach eigenen Angaben in dieser Sparte der Marktführer mit etwa 100 Beschäftigten.
Öffentlich in Erscheinung trat das Unternehmen bereits 1998, als die hessische Landesregierung ein Mediationsverfahren installierte, um für die geplante Erweiterung des Frankfurter Flughafens die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung zu beschaffen.
Neben dem Hauptsitz in Bensheim bei Frankfurt am Main unterhält IFOK heute weitere Büros in Berlin, München, Düsseldorf, Brüssel und Boston.
Geschäftsgrundlage ist die Annahme, dass sich Infrastrukturprojekte heute nur noch auf der Basis breiter gesellschaftlicher Akzeptanz in einem zeitlich und finanziell vertretbaren Rahmen umsetzen lassen. Denn wenn die Beteiligung der Öffentlichkeit zum bürokratischen Akt degradiert werde, so Meister im Gespräch mit dem Online-Magazin PUBLICUS, suche sich der bürgerliche Unmut andere Wege: Bürgerinitiativen und Protest.3
Durch die gemeinsame Klärung der Fakten und die Konsultierung vom Bürgerwissen wird versucht, das gegenseitige Verständnis von Befürwortern und GegnerInnen geplanter Großprojekte zu befördern.
Im Laufe des Prozesses entwickeln die Beteiligten ein Gefühl der Gemeinschaft. Auf diese Weise macht eine erfolgreiche Mediation „aus Gegnern Partner, und aus Konflikten macht sie Kooperationen.“4
Besonders emsig an entsprechenden Konzepten gearbeitet hat der Politikwissenschaftler, Mediator und IFOK-Mitarbeiter Christopher Gohl.
„Strategische Dialoge“
Er knüpft dabei an Erfahrungen an, die er im Auftrag des Unternehmens als Projektleiter des Regionalen Dialogforums Flughafen Frankfurt gesammelt hat. Daraus entwickelte er eine Strategie der Konfliktbefriedung von oben. Durch die „Verzahnung von strategischer Steuerung und modernen Beteiligungsformen“ will er ein Verhältnis von Bürgern und Politikern erreichen, „in dem die regierten Bürger mehr Verständnis für die Mühen der Regulierung entwickeln, aber auch die Regierenden im Hinblick auf bessere Ergebnisse beraten.“5
Gohl empfiehlt, die bereits bestehenden Formate in ein strategisches Gesamtkonzept einzubetten, um auf diese Weise die Legitimation und die Effizienz „demokratischer Führung und nachhaltiger Regierung“6 zu erhöhen. Den Rahmen dafür gibt das „Modell des organisierten Dialogs“, in dem für Interessengegensätze zwischen gesellschaftlichen Gruppen kein Platz mehr ist und Politik als „die Bearbeitung kollektiv verbindender Probleme“7 konzipiert wird.
Teilhabe der BürgerInnen ist in der politischen Mediation kaum mehr als ein Mittel zum Zweck: eine neue, ausgefeilte Spielart sozialtechnologischer Herrschaft. Sie fingiert die Selbstorganisation der aktivierten BürgerInnen nur, denn eine politisch bindende Entscheidung ist damit nicht verbunden. „Sie kann und sollte nach den Prinzipien der repräsentativen Demokratie nicht durch ein Mediationsverfahren gebunden werden.“8
Christopher Gohl, der sich emsig in den Netzwerken der sogenannten Zivil- oder Bürgergesellschaft tummelt,9 verdient sein Geld seit Juli 2011 als Leiter der Abteilung „Politische Planung, Programm und Analyse“ in der Berliner Zentrale der FDP.
Beteiligungsfarce in Baden-Württemberg
An dieser Stelle erscheint es angezeigt, noch auf eine andere Personalie aufmerksam zu machen. Mit Gisela Erler, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, hat sich die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden bei ihrer Veranstaltung im April eine Politikerin der Grünen mit ins Boot geholt, die in besonderer Weise für eine herrschaftskonforme Ausrichtung der Beteiligungsverfahren steht. Die von ihr initiierte Allianz für Beteiligung ist „ein diffuses Konzept von oben und keine Ermutigung von unten.“10
Das liegt vermutlich daran, dass die Tochter des bekannten Sozialdemokraten Fritz Erler (1913-1967) in Sachen Bürgerbeteiligung auf den Rat ihres Ehemanns Warnfried Dettling (CDU) hört.11
Der ehemalige Erwin-Teufel-Berater12 und ehemalige Leiter der Hauptabteilung Politik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle ist seit vielen Jahren darum bemüht, dem Unionslager eine zurechtgestutzte Form von „Basisdemokatie“ schmackhaft zu machen, die sich als Mittel zum neoliberalen Umbau der Gesellschaft eignet.
So verlangte er in einem Aufsatz, den Sozialstaat künftig so „zu organisieren, dass er Teilhabe, Entfaltung und Beschäftigung nicht nur durch Transferzahlungen und Schutzrechte fördert, sondern genauso durch die Entwicklung und Stärkung von Märkten“.13
EmpfängerInnen von Sozialleistungen bezeichnete er in diesem Zusammenhang als „Sozialstaatskunden“ oder als „Transfermultis“.14
Die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft ist für Dettling das bevorzugte Feld der Selbstorganisation der BürgerInnen. Der Markt sei „der Ort der Selbstverwirklichung, der sozialen Integration in die Gesellschaft und der Anerkennung durch andere.“15
Angela Merkels Redeweise von der marktkonformen Demokratie wird gerne die Forderung nach demokratiekonformen Märkten entgegen gehalten.
Im Verständnis eines neoliberalen Politikberaters wie Warnfried Dettling geht es noch simpler: Die Märkte sind die Demokratie. Seit 2005 arbeitet Gisela Erler für die „Dr. Dettling Politikberatung GmbH“.
Umkämpfte Zivilgesellschaft
Die Arme von Staat und Kapital reichen weit in die Zivilgesellschaft hinein, wenn Unternehmen und Behörden professionelle MediatorInneen damit beauftragen, Konflikte mit Hilfe von Dialogverfahren zu kanalisieren und einzudämmen. Konzernstiftungen, wie die Bertelsmann Stiftung oder die BMW Stiftung, aber auch die Körber-Stiftung, setzen ihre überaus üppigen Geldmittel dafür ein, entsprechende Forschungen zu finanzieren.
Ihnen gelingt es dabei immer wieder, die Gewerkschaften oder sich selbst als progressiv und radikaldemokratisch verstehende Wissenschaftler wie Roland Roth vom Komitee für Grundrechte und Demokratie oder Carsten Herzberg einzubinden. Wenn auf diese Weise die Bildung von bürgergesellschaftlichen Netzwerken unterstützt wird, dann handelt es sich um den Versuch, der Selbstorganisation der BürgerInnen einen Rahmen zu geben, sie zu kanalisieren und ihr eine Richtung zu geben, die den Vorrang privater Profitinteressen vor dem Gemeinwohl im Grundsatz nicht infrage stellt.
In ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ haben Luc Boltanskis und Eva Chiapello beschrieben, „wie es den Kapitalisten gelungen ist, sich die Forderungen nach Autonomie, die von den Bewegungen in den 1960er Jahren erhoben wurden, zu eigen zu machen und sie durch die Entwicklung der post-fordistischen Netzwerkökonomie in neue Formen von Kontrolle umzuwandeln.
Sie zeigen, wie das, was sie in Bezug auf die Strategien der Gegenkultur „Künstlerkritik“ nennen – die Suche nach Authentizität, das Ideal der Selbstverwaltung, das anti-hierarchische Bedürfnis – , benutzt wurde, um eine neue Art der kapitalistischen Regulierung zu fördern und die disziplinären Rahmenbedingungen der fordistischen Periode zu ersetzen.“16
Nachdem es der herrschenden Klasse gelungen ist, diese Aktivierungs- und Kreativitätspotenziale für eine Modernisierung der kapitalistischen Produktionsweise zu nutzen, greifen ihre Vereinnahmungsbemühungen heute vom ökonomischen Bereich auch auf den der Politik über.
„Passive Revolution“
Während die zuerst von Seiten der linken Bewegungen ausgegebene Parole von der „Demokratisierung der Demokratie“ einst die Übertragung des demokratischen Prinzips auf alle gesellschaftlichen Bereiche, insbesondere die Sphäre der Ökonomie und des Eigentums an den Produktionsmitteln zielte, geht es den Verfechtern einer Bürgergesellschaft fast immer nicht mehr um die Überwindung der Kapitalherrschaft, sondern um ihre noch stärkere Verankerung in der Bevölkerung.
Die heimliche Devise lautet: Vieles soll sich verändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Die BürgerInnen sollen aktiviert werden, ihre Unterwerfung unter das Diktat der Kapitalverwertung selbst mit zu organisieren. Genau das tun sie nämlich, wenn sie im Rahmen von Mediationsverfahren den Unternehmen ihre Expertise zur Verfügung stellen, als TeilnehmerInnen einer von Community Organizern eingerichteten Bürgerplattform die Aufwertung ihres Stadtviertels vorantreiben oder im Rahmen eines Bürgerhaushalts mitentscheiden, welche soziale oder kulturelle Leistungen in einer Stadt gekürzt werden sollen.
Die Forderungen nach mehr Demokratie werden von oben aufgegriffen, in Unternehmensstrategien und in den Staatsapparat eingebaut, um auf diese Weise ein Bollwerk gegen jede wirkliche demokratische Veränderung zu schaffen.
Der italienische Kommunist Antonio Gramsci (1891-1937) hätte das als „passive Revolution“ bezeichnet. In der passiven Revolution werden die ökonomischen und politischen Verhältnisse also verändert, ohne dass sich grundsätzliche Änderungen im Machtverhältnis der Regierten zu den Regierenden ergeben.
War die Dialog- und Konsensorientierung zunächst innerhalb linker Gruppen ein Ausdruck des Versuchs auf eine gewaltfreie Weise kollektive Stärke zu erreichen, werden die dabei entwickelten Techniken der Verständigung heute von der Gegenseite dazu benutzt, die KritikerInnen von Herrschaftsprojekten auf dem Verfahrenswege in die Stabilisierung der Machtverhältnisse einzubinden.
„Es gibt heute ganz klar einen hegemonialen Kampf um die Frage der Partizipation. Es geht darum, welche Bedeutung die Partizipation bekommt, die akzeptiert wird. Manche Auffassungen von Partizipation können subversiv sein, während andere dem Kapital in die Hände arbeiten, weil sie die Leute dazu bringen, an ihrer eigenen Ausbeutung mitzuarbeiten.“17
Verschleierung der Klassengegensätze
Die ideologische Basis für solche Vereinnahmungsversuche stellen sozialwissenschaftliche Theorien dar, mit deren Hilfe die Klassen- und Interessengegensätze geleugnet oder als vernachlässigbare Größen dargestellt werden und der Kapitalismus wenn nicht begrüßt, so doch als vermeintlich unabänderliches Menschheitsschicksal hingenommen wird.
Besonders hervorgetan haben sich dabei Ulrich Beck, der diesbezüglich der SPD-Grünen-Bundesregierung unter Gerhard Schröder zugearbeitet hat, und sein englisches Gegenstück, der ehemals linke Soziologe Anthony Giddens, der sich als Berater des Premiers Tony Blair verdingte. In der ideologisch verzerrten Perspektive dieser Vordenker einer neuen Sozialdemokratie jenseits von rechts und links erscheinen alle Probleme dadurch lösbar, indem die gesellschaftlichen Kontrahenten als „Partner“ miteinander sprechen.
„Es gibt diese Art von Konsens in der Mitte, der keine alternativen Optionen kennt. Man will uns weismachen, dass wir angesichts der Globalisierung nichts mehr tun könnten. Und deshalb haben sich die meisten sozialdemokratischen Parteien oder die Arbeiterparteien in Richtung Mitte bewegt. Sie bieten wirklich nichts grundsätzlich anderes als die Mitte-Rechts-Parteien. Es gibt heute einen allgemeinen Konsens darüber, dass es keine Alternative gäbe“, sagt die Politologin Chantal Mouffe.18
Während neoliberale Think Tanks, Stiftungen und Initiativen das zivilgesellschaftliche Feld mit einem immer dichter werdenden Netz von Stützpunkten überziehen, beteiligungsorientierte Kunstprojekte wie das BMW Guggenheim Lab von Konzernen eigens für Marketingzwecke entwickelt werden, die profitversprechende Aufwertung und Gentrifizierung von Großstadtbezirken mittels der Förderung einer partizipativen Kulturszene geschieht und die etablierte Politik angefangen beim Zukunftsdialog der Kanzlerin quasi überparteilich mit allen möglichen Formen direktdemokratischer Legitimation, befriedender Mediation und des Bürgerdialogs experimentiert, hat die kritische Auseinandersetzung mit diesen Vereinnahmungstendenzen noch kaum begonnen. Dabei weist die im Entstehen begriffene Mitmach-Republik nicht in Richtung einer Überwindung von Herrschaft. Stattdessen geht es um die Erprobung und Installierung von immer effektiveren Formen ihrer Legitimation.
Thomas Wagner
Dr. phil. Thomas Wagner ist Kultursoziologe und hat als Autor, Herausgeber und Mitherausgeber Bücher über die Sloterdijk-Debatte, Thilo Sarrazin, engagierte Literatur, herrschaftsfreie Gesellschaften und die Irokesen publiziert. Er ist außerdem Autor des Buchs „Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Papyrossa, Köln 2011. Derzeit arbeitet er u.a. an einer Streitschrift gegen die Instrumentalisierung von Bürgerbeteiligung durch die herrschenden Eliten.
Anmerkungen:
1 Vgl. Wilk, Michael: Macht, Herrschaft, Emanzipation. Aspekte anarchistischer Staatskritik. Grafenau 1999 und als Herausgeber: Soziale Bewegungen im globalisierten Kapitalismus. Bedingungen für emanzipative Politik zwischen Konfrontation und Anpassung. (mit Rolf Engelke und Thomas Klein) Frankfurt 2005.
2 Meister, Hans-Peter/Gohl, Christopher: Mediation und Dialog bei Großprojekten. Frankfurt a.M. 2012, ebd., S. 25f
3 www.publicus-boorberg.de/sixcms/detail.php?template=pubartikel&id=boorberg01.c.135993.de
4 Meister, Hans-Peter/Gohl, Christopher: Mediation und Dialog bei Großprojekten. Frankfurt a.M. 2012, S. 12
5 Gohl, Christopher: Organisierte Dialoge als Strategie. Gütersloh 2010, S. 14f
6 Gohl, Christopher: Organisierte Dialoge als Strategie. Gütersloh 2010, S. 12
7 ebd, S. 17
8 Gohl, Christopher/Meister, Hans: Mediation und Dialog bei Großprojekten. Frankfurt a.M. 2012 , S. 12.
9 Gohl ist Mitgründer des Forschungs- und Entwicklungsverbundes Procedere und nutzt die verschiedenen Plattformen der „Bürgergesellschaft“, etwa das Netzwerk Bürgerbeteiligung, um für seinen Politikansatz zu werben.
10 Grottian, Peter: König Winfried, der Zauderer, in: Kontext: Wochenzeitung, 27.09. 2012, www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/09/koenig-winfried-der-zauderer/
11 hier mit ihr zu sehen: www.gisela-erler.de/lebenslauf.htm
12 vgl. www.badische-zeitung.de/suedwest-1/eine-frau-fuers-zuhoeren—59578592.html
13 Dettling, Warnfried: „Sicherheit und Anerkennung – Der Sozialstaat an den Grenzen der Umverteilung“, in: Pfeiffer (Hg.): Eine neosoziale Zukunft. Wiesbaden 2010, S. 63
14 ebd., S. 65
15 ebd., S. 71
16 Mouffe, Chantal: „Demokratie auf dem Prüfstand“ (Gespräch mit M. Miessen), in: Miessen, Markus: Albtraum Partizipation Berlin 2012, S. 111
17 ebd. S. 112f
18 ebd., S. 97f
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 375, 42. Jahrgang, Januar 2013, www.graswurzel.net