„Bei euch sitzt man ja immer nur im Knast“

Interview mit einem Anarchisten aus der DDR

David Gienapp war mehr als sechs Jahre lang politischer Gefangener in der DDR. In den Gefängnissen des „Arbeiter- und Bauernstaates“ musste er unter anderem Hausschuhe für den Westen herstellen.[1] 1975 konnte er schließlich aus der DDR ausreisen. Einige Jahre später trat er der wieder gegründeten FAU bei (damals noch I-FAU). Die DA sprach mit David über sein Leben und seine Erlebnisse in der DDR.

David, du bist in Berlin aufgewachsen, hast die Bombardierung miterlebt, die Nachkriegszeit durchgemacht und hast am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin als 14-jähriger Junge mitbekommen, wie die ArbeiterInnen auf den Straßen demonstrierten. Kannst du dazu etwas mehr erzählen?

Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir im Keller saßen und ich vor Angst geschrien habe. Die Bomben waren schrecklich, aber meine Mutter sagte, die sollen bombardieren, dann kommen die Nazis endlich weg. So kam es ja dann auch, aber man kann sich heute gar nicht vorstellen, wie zerstört alles war. Wir hatten kaum etwas zu essen und viele Kinder starben an Typhus. 1951, da gab es ja schon die DDR, sind wir – also meine Mutter, meine Geschwister und ich – in ein Mietshaus in der Bornholmer Straße gezogen. Parterre wohnte ein alter Mann, dem ich im Haushalt geholfen habe. Der war schon weit über achtzig, konnte kaum noch sehen und hatte ganz viele Bücher. Das hat mich total fasziniert. Er hat mir auch bei den Schularbeiten geholfen.

Opa Schinn,[2] so nannten wir ihn alle, erzählte auch vom Kieler Matrosenaufstand und schimpfte immer über die Kommunisten und die DDR. Und dann erklärte er mir, warum die DDR nichts mit Sozialismus zu tun hat. Er hat auch erzählt, dass er früher Mitglied der FAUD war. Später haben ihn die Nazis ins KZ Sachsenhausen gesteckt, wo er als alter Mann geprügelt wurde. Naja, der Schinn war so etwas wie ein Ziehvater für mich und er hat in mir den Keim zum Anarchisten gelegt. Als dann 1953 der Arbeiteraufstand war, dachten wir: jetzt geht‘s los. Das war ja dann nicht so. Er sagte, ich soll viel lernen und mich nicht verheizen lassen. Ich weiß leider nicht, was aus ihm nach 1955 geworden ist. Sein Nachlass soll in den Westen gekommen sein.

1959 kamst du zum ersten Mal in Konflikt mit dem Staat?

Ja, ich hatte die Transportpolizei mit der SS verglichen. Die sahen auch wirklich so aus mit ihren roten Armbinden. Dann haben sie mich verprügelt und ich kam vier Monate in U-Haft wegen „Staatsverleumdung“. Als ich wieder raus kam, bin ich nach West-Berlin abgehauen und hatte auch einen Westberliner Pass – die Mauer gab es ja noch nicht. Von dort haben sie mich aber wieder zurückgeholt.

Wie haben sie das gemacht?

Ein guter Freund von mir wurde auf mich angesetzt. Der hatte selber Probleme mit dem Regime und wollte sich anbiedern. Also hat er mich nochmal in den Osten gelockt in eine Kneipe. Das war eine Falle. Er selber kam nicht, dafür aber gleich die Transportpolizei, die mich verhaftete – das war im Oktober 1960. Ich wurde fünf Monate mit allen Schikanen verhört: Dunkelarrest, Rotlichtzelle. Sie haben mich psychisch gefoltert. Einer meiner Vernehmer hat einmal gesagt: „Mein Arm reicht bis nach Argentinien, wir kriegen alles raus was wir wollen“. Am Ende konnte ich nicht mehr und habe ein Geständnis unterschrieben. Ich wurde dann zu drei Jahren Haft wegen „Spionage“ verurteilt.

Hielten die dich für einen gefährlichen Spion?

Die dachten, ich bin ein Spion für den amerikanischen Geheimdienst. Mein „Freund“ hat dann noch in einer Gegenüberstellung gegen mich ausgesagt und behauptet, ich hätte ihn anwerben wollen. Mich würde mal interessieren, was mein alter „Freund“ heute so macht.

Damit begann eine lange Knastzeit...

Ja, ich habe ja noch einmal Verlängerung um zwei Jahre bekommen, weil mich mal wieder jemand denunziert hatte. Man musste immer aufpassen, was man sagt. In der Hoffnung auf Straferlass haben viele einfach falsche Beschuldigungen gemacht. Am Anfang war ich im Haftarbeitslager Gera-Liebschwitz. Das war eine Kammgarnspinnerei mit völlig veralteten Maschinen, wie aus dem 19. Jahrhundert. Die längste Zeit war ich in Waldheim. Bis 1965 musste ich dort Gefängnisarbeit für die VEB Vereinigte Hausschuhwerke Hartha[3] machen. Das waren Hausschuhe, die alle für den Westen produziert wurden – für BRD, Frankreich, Belgien... Die Hausschuhe haben die Leute in der DDR nie gesehen, die gab‘s da nicht zu kaufen. Wer die Abnehmer im Westen waren, kann ich nicht genau sagen, ich glaube aber Salamander hat die auch bestellt. 500 Stück musste ich am Tag klopfen, das heißt für den nächsten Arbeitsschritt nach außen stülpen und in Form bringen, jeden Tag von 7 bis 16 Uhr.

Die Vorarbeiter waren meistens Sittlichkeitsverbrecher, die natürlich mit einer guten Produktion gegenüber den Bullen besonders glänzen wollten. An Sabotage war da gar nicht zu denken, das hätte bloß nochmal Haftverlängerung bedeutet. Bei Arbeitsverweigerung gab es 21 Tage Arrest. Den hatte ich auch einmal wegen „Belügen eines VP-Angehörigen“. Da saß man dann in einem kleinen Käfig. Alle halbe Jahre wurde ich zur Seelenfilzung gerufen. Da haben sie mich dann gefragt, wie ich zu meiner Straftat stehe. Ich habe jedes Mal geantwortet, dass ich keine Straftat begangen habe.

Wie hast du die Zeit überstanden? Gab es irgendeine Form von Abwechslung im Knast?

Die Arbeit an sich war schon eine gewisse Abwechslung, sonst hätte man die ganze Zeit nur in einem dunklen Loch gesessen. Durch die schlechten Arbeitsbedingungen habe ich mir während der Zeit in Gera-Liebschwitz eine Lungentuberkulose eingeholt, als deren Folge ich bis heute eine chronische Bronchitis habe. In der Gefängnisbibliothek gab es natürlich nur Propagandaliteratur. Wir mussten sogar die ND von dem bisschen Geld, das uns gegeben wurde, abonnieren. Ich habe einige Gefangene kennengelernt, die seit dem Arbeiteraufstand 1953 eingebuchtet waren. Die wurden richtig fertiggemacht. Seitdem ich zwei Jahre Haftverlängerung bekommen hatte, wusste ich, dass man über politische Dinge nicht reden kann. Das war viel zu gefährlich. Die wollten ja Leute anwerben, aber ich habe niemals irgendeine Aussage über andere Gefangene gemacht. Ich habe bloß mal zu den Wärtern gesagt: „Ihr seid keine Sozialisten, ihr habt niemals etwas mit dem libertären Sozialismus zu tun“.

Kurz nach deiner Entlassung aus Waldheim fand am 31. Oktober 1965 die größte nichtgenehmigte Demonstration in der Geschichte der DDR zwischen 1953 und 1989 statt, die sogenannte Leipziger Beatdemo. Anlass war das Verbot zahlreicher Leipziger Beatmusik-Gruppen durch die Regierung. Die Demonstration wurde schnell gewaltsam aufgelöst, viele Leute verhaftet. Ein Jahr später, am „Tag der Republik“, dem 7. Oktober 1966, bist du das nächste Mal in den Knast gewandert – auch im Zusammenhang mit einer Musikveranstaltung...

Ja, zum Glück aber diesmal nur für ein Jahr. Ich war mit ein paar Kumpels am Alex und da spielte so eine DDR-Band, ich glaube Oktoberklub. Da standen diese ganzen Spießer und angepassten FDJ-Typen rum, schrecklich. Wir standen ja mehr auf Rockmusik, hörten immer die verbotenen „Feindsender“ und nahmen sie auf Tonband auf. Wir schimpften dann also, dass das keine Rockmusik ist, haben sie ausgepfiffen und rangelten mit den Bullen. Und wir waren nicht wenige, das war ein richtiger kleiner Aufruhr. Als die mich dann festnahmen, dachte ich nur: „Scheiße, jetzt kommst Du schon wieder in den Knast!“. Zum Glück nicht wegen „staatsfeindlicher Hetze“, dann wären es wieder ein paar Jahre gewesen. Auf der Wache haben sie uns die langen Haare abgeschnitten und ich kam nach Bützow-Dreibergen – die „rote Hölle“ haben das alle genannt – wo ich wieder Strafarbeit machen durfte, unter anderem die Gleisstrecke zwischen Rostock und Berlin bauen. Ich hatte nun echt keine Lust mehr, noch einmal in den Knast zu kommen und habe mich von da an zurückgehalten.

Und wie kam es dann, dass Du die DDR verlassen hast?

1975 gab es wieder Ärger. Ich war ein bisschen betrunken und begleitete einen Kumpel aus West-Berlin zum Grenzübergang. Dort haben sie mich gleich eingesackt und mich schwer vernommen, weil ich angeblich über die Grenze fliehen wollte. Diesmal ging aber alles nochmal gut und ein Grenzer hat mir den Tipp gegeben, doch einen Ausreiseantrag zu stellen. Einen Monat später war ich im Auffanglager Gießen.

Das ging so schnell?

Ich glaube, die hatten endlich gemerkt, dass ich nicht umzuerziehen war und wollten mich loswerden. Sie haben ja auch noch 40.000 DM von der BRD für mich erhalten.[4] Ich wurde dann richtiggehend rausgeschmissen und hatte die DDR innerhalb einer kurzen Frist zu verlassen.

Wie ist die Ausreise von statten gegangen und was waren deine ersten Eindrücke im Westen?

Ich bin in einem Bus zusammen mit anderen Ausreisewilligen zur Grenze bei Herleshausen gebracht worden. Am Ende sagte ein VoPo noch zu mir: „Jetzt können Sie ja endlich in ihre geliebte Bundesrepublik. Es gibt kein Zurück mehr!“ Da hab ich gesagt: „Ja und? Da kann ich mein Leben wenigstens mal ein bisschen genießen. Bei Ihnen sitzt man ja immer nur im Knast!“ Das stimmt ja auch. Waldheim war der kleine und die DDR der große Knast. Im Westen wurde ich sofort verhört, weil ich ja auch von der Stasi hätte eingeschleust sein können. Ich wusste natürlich, dass ich nicht in ein Paradies ausreise. Aber ein großer Vorteil war, dass ich alles lesen und endlich mal reisen konnte, nicht nur immer nach Polen oder in die CSSR. Ich bin dann auch sofort nach Kreuzberg zur Hausbesetzerszene und habe nach Anarchisten gesucht. Das war eine geile Zeit. Einige Weststalinisten haben mich als Verräter beschimpft, weil ich meine Meinung über die DDR nie verborgen habe – und als ich dann etwas später nach Hamburg kam, habe ich mich immer mit den DKPisten angelegt. 1978 bin ich dann der FAU beigetreten.

Wie hast du 1989 die Wende erlebt?

Das war großartig für mich. Als das Zonenregime zusammengebrochen ist, bin ich mit meiner Frau und ein paar FAU-Genossen nach Berlin gefahren. Dort haben wir auf das Ende der DDR angestoßen und gefeiert. Wir sind mit Zeitungen und Infomaterial rüber gegangen und haben mit den Leuten diskutiert. Haben ihnen gesagt, sie sollen sich nicht einsacken lassen von den Gewerkschaften im Westen, weil das keine richtigen Gewerkschaften sind. Wir waren auch im VEB Bergmann-Borsig und haben über Arbeiterselbstverwaltung diskutiert und den Leuten vorgeschlagen, das Werk zu besetzen. Die haben uns vielleicht angeguckt... wussten gar nichts mit uns anzufangen! Naja, später sind sie doch enttäuscht worden vom Westen.

Bekommst du Entschädigungszahlungen?

Ich habe als politischer Häftling des SED-Regimes eine einmalige Entschädigungszahlung bekommen und erhalte 250 Euro Opferrente monatlich. In Waldheim hatte ich von den 383 DDR-Mark, die ich monatlich vierdient habe, nur 40 Mark ausgezahlt bekommen. Was ich erlebt habe, werde ich aber nie in meinem Leben vergessen können. Dieser Staat hat meine Jugend zerstört. Und das hat er systematisch mit der Jugend gemacht. Ich weiß noch wie mir der Schulleiter einmal gedroht hat, mich nach Torgau in den Jugendwerkhof zu schicken, weil ich gesagt hatte, dass es in der DDR keine Arbeiterselbstverwaltung gibt. Man darf nicht vergessen, was die DDR war: eine staatskapitalistische Diktatur.

David, vielen Dank für das Gespräch.

Anmerkungen
[1] Vor knapp zwei Monaten berichteten mehrere große Zeitungen über Entschädigungsforderungen ehemaliger DDR-Haftzwangsarbeiter gegen Westfirmen wie Ikea, Quelle und Neckermann. Diese hatten Produkte günstig von Gefangenen in DDR-Gefängnissen fertigen lassen. Siehe z.B. „Entschädigung von Ikea gefordert“ in der taz vom 4.5.2012: www.taz.de/!92748/
[2] Recherchen in alten Berliner Adressbüchern aus den 1920er bis 40er Jahren haben ergeben, dass „Opa Schinn“ wahrscheinlich mit vollem Namen Hermann Schinn hieß und von Beruf Handlungsgehilfe war.
[3] ab 1955: VEB Vereinigte Hausschuhwerke Hartha; ab 1990: intra Schuhfabriken GmbH Hartha; ab 2007: intra Besitzunternehmen GmbH & Co KG.
[4] Im Rahmen des Freikaufs von politischen Gefangenen durch die BRD ab 1962.

Kleine Chronik von David Gienapp
• geboren 1938 in Berlin
• ab 1951: Bekanntschaft mit altem FAUD-Genossen in dessen Wohnung
• 1959: vier Monate U-Haft wegen „Staatsverleumdung“
• 1960: Flucht nach West-Berlin
• Oktober 1960: am Bhf. Friedrichstraße festgenommen; fünf Monate Verhör in Pankow wegen angeblicher Spitzeltätigkeit; Verurteilung zu drei Jahren Haft (Rummelsburg, Gera-Liebschwitz)
• in Gera zwei Jahre Haftverlängerung wegen „staatsfeindlicher Hetze“ im Gefängnis; dann Verlegung nach Waldheim
• 1961 bis 1965: Haft in Waldheim
• Oktober 1966: Erneute Inhaftierung (Bützow-Dreibergen) für ein Jahr wegen „Staatsverleumdung“ bzw. Protest gegen DDR-Musik
• 1975: Vernehmung wegen angeblicher „versuchter Republikflucht“; bald darauf Ausreise aus der DDR
• 1978: Eintritt in die I-FAU
 
Dieses Interviews erschien zuerst in der Direkte Aktion 212 – Juli/August 2012