Gauck versus Wulff?

Im September 2011 äußerte ich die Meinung, der damalige Bundespräsident habe sich „in Sachen Euro-Krise weit aus dem Fenster gelehnt. Wahrscheinlich zu weit! Seine scharfe Kritik am massiven Aufkauf von Anleihen einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank könnte sich schon bald als kurzsichtig und realitätsfremd erweisen, wenn sich die Europäische Zentralbank vielleicht zu noch viel drastischeren Maßnahmen im Interesse der Euro-Rettung gezwungen sehen sollte, auch wenn sie damit die ihr zugestandenen Kompetenzen weitaus stärker übertreten müsste. Zwar studierte Wulff einst Rechtswissenschaft mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht, doch was er in Lindau am Bodensee kürzlich ausgerechnet zur Eröffnung des vierten Treffens der Wirtschafts-Nobelpreisträger als seine persönliche Meinung zum Besten gab, zeugte von nichts weniger als von Kompetenz.“ (vergleiche Das Blättchen, 19/2011) Dazu kann ich auch heute noch stehen, denn inzwischen warf die Europäische Zentralbank dem Bankensektor über eine Billion Euro (im Dezember 490 Milliarden und nun im März noch einmal 530 Milliarden für ein Prozent Zinsen) zur äußerst profitablen und sicheren Verwertung durch wesentlich höhere Zinsnahme bei Weitergabe des Geldes in den Rachen. Die Inkompetenz des Mannes resultiert(e) nicht nur aus der Ohnmacht des präsidialen Amtes, sondern gleichermaßen aus seinem Unvermögen, die in der Entwicklung des ökonomischen Systems dieser Gesellschaft liegenden Ursachen der Krise zu überblicken. Daher wurden alle Probleme banalisierend auf Gier, Moralverfall und Mangel an Solidarität reduziert.
Bestätigt sehe ich mich durch den Gang der Dinge nun auch in einem ganz anderen Sinne. Denn nur drei Monate später kam der Bundespräsident tatsächlich aus dem Gleichgewicht. Immerhin so lange brauchten seine Gegner, um Peanuts in seiner vorpräsidialen Vergangenheit zu finden und ihm an den Hals zu hängen. Inzwischen haben sie ihn damit tatsächlich zu Sturze gebracht. Wer waren diejenigen da im Hintergrund, für die er untragbar geworden war, für die er sich als Bundespräsident unakzeptabel gemacht hatte, frage ich mich nun. Denn die jagende Pressemeute dürfte wohl nur deren – bewusstes oder naives? – Mittel gewesen sein.
Während ich mir meine damalige Ansicht nur auf Grund von Zeitungsberichten bildete, habe ich nun einen Blick in die vollständige Rede des Bundespräsidenten in Lindau vom 24. August 2011 geworfen. Daraus geht zwar auch kein größerer ökonomischer Durchblick des Christian Wulff hervor, doch immerhin ein erhebliches Maß an Engagement für den Staat und seine Bürger sowie für die Wiedererlangung des Primats der Politik. Hier Auszüge:
„In diesen Wochen zeigt sich in Europa und in den USA überdeutlich: Die Banken- und Schuldenkrise hat die Politik, hat die Regierungen und Notenbanken, an Grenzen gebracht. […] Viele der Maßnahmen gegen die Krise sind höchst umstritten. Es ist ja nicht so, dass in den Wirtschaftswissenschaften alle eine einheitliche Auffassung vertreten. Auch die hier versammelten Wirtschaftsnobelpreisträger haben sehr unterschiedliche Ansichten. […] Die Regierungen müssen auf dieser unsicheren Grundlage entscheiden. Sie müssen dennoch mutig führen, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit schnell zurückzugewinnen. Und sie müssen dabei im Blick haben, welche Maßnahmen sie ihren Völkern zumuten können. […]
Auf dem Deutschen Bankentag hatte ich den Finanzsektor bereits gewarnt. Wir haben weder die Ursachen der Krise beseitigt, noch können wir heute sagen: Gefahr erkannt – Gefahr gebannt. Wir sehen tatsächlich weiter eine Entwicklung, die an ein Domino-Spiel erinnert: Erst haben einzelne Banken andere Banken gerettet, dann haben Staaten vor allem ihre Banken gerettet, jetzt rettet die Staatengemeinschaft einzelne Staaten. Da ist die Frage nicht unbillig: Wer rettet aber am Ende die Retter? Wann werden aufgelaufene Defizite auf wen verteilt beziehungsweise von wem getragen? […]
Ich verstehe die Empörung vieler junger Menschen an vielen Orten der Welt, wenn sie sich aufregen, dass es aus ihrer Sicht nicht fair zugeht und dass zum Teil ihre Zukunftschancen bereits in der Gegenwart verbraucht werden. Denn es sind ihre Zukunftschancen, die hier auf dem Spiel stehen. Der Internationale Währungsfonds warnt sogar seit einigen Jahren vor einer so genannten ‚verlorenen Generation‘. […]
Ich verstehe, dass viele nicht nachvollziehen wollen, dass Bankmanager zum Teil exorbitant verdienen, dass aber zugleich Banken mit Milliarden gestützt werden. Und Trittbrettfahrer in der Finanzwelt spekulieren weiterhin darauf, von der Politik und damit letztlich von Steuerzahlern aufgefangen zu werden – weil sie zum Beispiel zu groß sind und zu relevant für den gesamten Wirtschaftskreislauf.
Ich erinnere, wie mir, als ich in Ihrem Alter war, ein Unternehmer erzählte, er hätte von seinem Vater gelernt: ‚Wenn Du einen kleinen Kredit aufnimmst, dann hat Dich die Bank in der Hand. Wenn der Kredit eine bestimmte Größe erreicht, dann hast Du die Bank in der Hand.‘ Und wenn die Bank eine bestimmte Größe hat, scheint es jetzt so zu sein, dass sie den Staat in der Hand hat. Und das empfinden die Menschen zu Recht als unfair – so wie es der Volksmund sagt: ‚Die Kleinen fasst man, die Großen lässt man laufen‘. Ungleichheiten sind wichtige Antriebskräfte, wenn sie nicht zu groß werden. Sie werden dann aber nicht akzeptiert, wenn Gewinne privatisiert werden, Verluste jedoch kollektiviert, sozialisiert, auf alle abgeladen werden. Hier geht es um prinzipielle Fragen. Menschen reagieren empfindlich, wenn Fairnessprinzipien verletzt werden. Fairness ist ein Urbedürfnis des Menschen. Ich habe heute Morgen vor 20 jungen Wirtschaftswissenschaftlern dafür geworben, nicht alles zu zahlenorientiert zu betrachten. Vielleicht hat man in den Wirtschaftswissenschaften menschliche Ansprüche, Bedürfnisse, Verhaltensweisen ein wenig vernachlässigt. Das Grundbedürfnis nach Fairness darf nicht außer Acht gelassen werden, es ist nicht zu akzeptieren, wenn es zu viel Trittbrettfahrer in einer sozialen Gruppe gibt. Dieser Aspekt scheint mir ein wenig ausgeblendet worden zu sein.
Das Versagen von Eliten bedroht langfristig den Zusammenhalt in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft. Wer sich zur Elite zählt und Verantwortung trägt, darf sich eben auch nicht in eine eigene abgehobene Parallelwelt verabschieden. Sondern jede, jeder hat Verantwortung für das Ganze und für den Zusammenhalt in einem Land. Dass es nicht fair zugeht und Lasten einseitig verteilt werden, dieses Gefühl haben aber immer mehr Bürgerinnen und Bürger. […]
Statt klare Leitplanken zu setzen, lassen sich Regierungen immer mehr von den globalen Finanzmärkten treiben. Wenn der Dax, der Börsenindex fällt, sollen Politiker ihren Urlaub abbrechen. Wenn es gut läuft, war es die Wirtschaft, wenn es nicht so gut läuft, ist es die Politik. Das kann nicht die Aufgabenteilung in der Gegenwart und Zukunft sein. Immer öfter treffen die Politiker eilig weitreichende Entscheidungen kurz vor Börsenöffnung, anstatt den Gang der Dinge längerfristig zu bestimmen. Dies trifft Demokratien in ihrem Kern. […]
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was muss jetzt getan werden? Wie können Staaten ihre Handlungsfähigkeit wieder zurückgewinnen? Wie schaffen wir die Voraussetzungen für stabile, langfristig tragfähige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen? Wie sichern wir damit die Zukunftschancen für die nachkommenden Generationen?
Zuerst: Politik muss ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Sie muss sich endlich davon lösen, hektisch auf jeden Kursrutsch an den Börsen zu reagieren. Sie muss sich nicht abhängig fühlen und darf sich nicht am Nasenring durch die Manege führen lassen, von Banken, von Ratingagenturen oder sprunghaften Medien. Politik hat Gemeinwohl zu formulieren, mit Mut und Kraft im Konflikt mit Einzelinteressen. Politik hat Strukturen zu ordnen und gegebenenfalls den Rahmen anzupassen, damit knappe Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden und Wirtschaft und Gesellschaft gedeihen. Politik hat langfristig orientiert zu sein und, wenn nötig, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. In freiheitlichen Demokratien müssen die Entscheidungen im Übrigen immer von den Parlamenten getroffen werden. Denn dort liegt die Legitimation. In der Demokratie geht die Macht vom Volke aus, durch in Wahlen und Abstimmungen gewählte Repräsentanten und Abgeordnete. […]
Mich stimmt nachdenklich, wenn erst im allerletzten Moment Regierungen Bereitschaft zeigen, Besitzstände und Privilegien aufzugeben und notwendige Reformen einzuleiten. Erst recht, wenn die obersten Währungshüter dafür auch noch weit über ihr Mandat hinausgehen und massiv Staatsanleihen – derzeit im Volumen von über 110 Milliarden Euro – aufkaufen. Das kann und das wird auf Dauer nicht gut gehen und kann allenfalls übergangsweise toleriert werden. Auch die Währungshüter müssen schnell zu den vereinbarten Grundsätzen zurückkehren. Ich sage es hier mit Bedacht, ich halte den massiven Aufkauf von Anleihen einzelner Staaten durch die Europäische Zentralbank für politisch und rechtlich bedenklich. […]
Immer dann, wenn die materiellen Grundbedürfnisse erfüllt sind, scheint nicht mehr das materielle ‚Mehr‘ entscheidend für die Zufriedenheit zu sein, sondern vielmehr die Möglichkeit, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sich frei und in stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen entfalten zu können. Wohlstand hieße dann vor allem, die Chance zu haben, ein gedeihliches, sinnerfülltes und kreatives Leben zu führen. Viele, viele Menschen wünschen sich das, und ich begrüße sehr, dass die Wissenschaft menschliches Verhalten, dessen psychologische und soziologische Grundlagen endlich stärker experimentell erforscht. […]
Wir müssen offen und ehrlich Knappheiten benennen, da die Dinge in dieser Welt nicht im Überfluss vorhanden sind. Der immer wiederkehrende Versuch, die Wirkung von Knappheiten außer Kraft zu setzen und sich auf diese Weise über Realitäten hinwegzutäuschen, bringt eben keine dauerhaften Verbesserungen. Dadurch verschafft man sich, wie aktuell, im besten Falle Zeit. Das gilt auch für unseren Umgang mit den Ressourcen der Natur und einem Lebensstil, der von immer mehr Menschen weltweit angestrebt wird. Auch da setzen wir uns über vorhandene Knappheiten hinweg – weil wir nicht ehrlich sind und nicht die wahren Kosten in Rechnung stellen für Energie, für Rohstoffe, die Nutzung von Wasser, Luft und Böden.
Wie schon an den Finanzmärkten sind auch hier Risiko und Haftung oft entkoppelt, und auch hier wird somit ein Grundprinzip soliden Wirtschaftens verletzt. Dabei leben wir vielfach nicht nur auf Kosten kommender Generationen, sondern gerade auch auf Kosten der Schwächsten auf unserer Erde. Laut den Vereinten Nationen leiden die Menschen in den ärmsten Ländern am stärksten unter den Folgen des Klimawandels wie Dürren oder Überschwemmungen, obwohl sie am wenigsten zu dem Problem beigetragen haben. Vor 25 Jahren bereits hat die Brundtland-Kommission gefordert, so zu wirtschaften, ‚dass die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt werden, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können‘.
Wir dürfen die Annehmlichkeiten der Gegenwart nicht mit unserer Zukunft und der Zukunft unserer Kinder bezahlen. Wir brauchen eine Kehrtwende hin zu nachhaltigem Wirtschaften und Haushalten! […]
Von nachhaltigem Wirtschaften sind wir leider weit entfernt. Es gelingt uns noch nicht, die grundlegenden Bedürfnisse der Gegenwart für alle Menschen zu befriedigen. Und es gelingt uns noch weniger, den Handlungsspielraum künftiger Generationen zu erhalten. Dazu aber möchte ich Sie auffordern. Dies zu ändern ist die wirklich grundlegende Aufgabe, vor der wir alle stehen, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Ich setze auf Ihren Sachverstand, ich setze auf Ihren Forscherdrang, auf Ihren Enthusiasmus, auf Ihr Engagement, damit wir kraftvolles, richtiges Handeln erleben, das langfristig trägt.“
Wie ehrlich diese Äußerungen waren, will ich dahingestellt lassen. Doch es waren massive Angriffe gegen die Diktatur der Finanzoligarchie, die eine mögliche Positionierung des Bundespräsidenten, der sich irrtümlich für unanfechtbar hielt, bei einem eventuellen Machtkampf zwischen Politik und Finanzindustrie in der Zukunft zumindest anzukündigen schienen.
Der nun designierte Nachfolger im Amt hatte seinen Standpunkt vor seiner Kür klar gemacht, indem er laut Zeitungsberichten die Occupy-Bewegung als kurzfristige Erscheinung wertete und ihre Kapitalismus-Kritik „unsäglich albern“ nannte. Wenn er das nach seiner jetzigen Nominierung als Kandidat für das Bundespräsidentenamt bei einem Gespräch mit der Grünen-Fraktion des Bundestages auch etwas relativierte und laut Claudia Roth „sehr wohl Verständnis für die Kritik an Finanzjongleuren gezeigt“ hat, ergibt sich für den unvoreingenommenen Beobachter doch auch bei ihm die Frage nach der Ehrlichkeit, an der Wulff angeblich scheiterte. Sollte der von einschlägigen Medien zum „Liebling des Volkes“ Hochgeschriebene mit seinen Rufen nach Freiheit (für wen und wozu eigentlich?) vielleicht nur einen zuverlässigeren Diener des „Großen Geldes“ darstellen?