„man braucht einen gegen-populismus“

Interview mit Etienne Balibar

prager frühling: Etienne, du beschäftigst dich schon seit Jahren mit antirassistischen Kämpfen. Du bist sogar in den 1980er Jahren aus der Kommunistischen Partei Frankreichs ausgeschlossen worden, als du ihre fremdenfeindlichen Tendenzen kritisiert hast. Wieso ist die Linke so oft darin gescheitert, die Neuzusammensetzung der Arbeiter_innenklasse produktiv zu machen und ein antirassistisches Profil zu entwickeln?

Etienne Balibar: Es scheint mir, dass man die Frage auf zwei verschiedenen Ebenen beantworten kann: Antirassistische Kämpfe sind nie in rein moralischen Gesichtspunkten verwurzelt, sozusagen „ewig gültig“. Sie sind fragile politische Konstruktionen. Die Arbeiter/-innenklasse lebt heute in einer Welt, in der ihre Existenz als kohärente soziale Gruppe gefährdet. Die Erfahrungen, aus denen sich antirassistisches Bewusstsein herausgebildet hat, sind heute in Vergessenheit geraten. Diese strukturellen Gründe entlasten die Linke nicht von ihrer Verantwortung. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, die historischen Veränderungen zu analysieren, Erfahrungen mit Aktivist/-innen unterschiedlicher Klassen und anderer Länder zu teilen und Sprachen und Szenarien der Massenmobilisierung gegen neorassistische Tendenzen zu entwickeln.

pf: Du arbeitest intensiv zur Frage der Staatsbürgerschaft. Was sind denn die Potentiale demokratischer Staatsbürgerschaft?

Balibar: Ich arbeite so intensiv daran, da der Begriff der Staatsbürgerschaft eine neue Bedeutung in progressiven Basisbewegungen und in der demokratischen politischen Theorie gewonnen hat. Ich glaube, dass das vom generellen Umstand herrührt, dass das Thema Staatsbürgerschaft im Herzen jedes Prozesses der Demokratisierung der Demokratie liegt. Und dieser Prozess ist das einzig mögliche Gegengift zur Depolitisierung oder Ent-Demokratisierung des Neoliberalismus. Entweder wird die Demokratie erneuert und radikalisiert oder sie wird neutralisiert und korrumpiert. Staatsbürgerschaft ist nicht die Lösung, sie ist ein anderer Ausdruck für das Problem. Staatsbürgerschaft ist selbst ein Gleichgewicht oder ein Kräfteverhältnis. Sie hat einen Status-Aspekt oder sie verleiht bestimmten Individuen unter gewissen Umständen einen Status, der ihnen Rechte und Pflichten einräumt. Aber sie hat auch einen aufständischen Aspekt, in dem die Rechte und Pflichten erfunden und erkämpft und Exklusionen und Diskriminierungen beseitigt werden. Immer wieder muss dieses aufständische Element reaktiviert werden, damit der Status- oder institutionelle Aspekt sich erneuert. Das Dilemma heute besteht darin, ob solche (absolut undemokratischen) Vorstellungen wie „Global Governance“ die Idee der Staatsbürgerschaft ganz ersetzen oder neue Formen politischer Aktivität auf lokaler, nationaler, supra- und transnationaler Ebene entstehen, die es den „Bürgern“ ermöglichen, diejenigen Mächte zu kontrollieren, von denen sie beherrscht werden.

pf: Und wie siehst du das Verhältnis dieser Kämpfe um Staatsbürgerschaft zu Klassenkämpfen?

Balibar: So wie Marx im Kommunistischen Manifest gezeigt hat, entstanden Klassenkämpfe zunächst als eine Konsequenz der industriellen Revolution in einem Kontext revolutionärer Veränderung des Staates. Die sozialistischen und kommunistischen Ideologien waren der radikale Flügel dieser Transformation; sie opponierten sowohl gegen die konterrevolutionäre Partei als auch gegen den „liberalen“ Kompromiss zwischen der Herrschaft des Eigentums und der Forderung nach Gleichheit. Später wurden Staatsbürgerschaft und Klassenkämpfe antithetisch, wesentlich aufgrund zweier zusammenhängender Gründe: Ein Grund war die „ouvrieristische“ Idee, dass der Klassenkampf auf der rein gesellschaftlichen Ebene stattfindet. Der andere besteht in der Vorstellung, dass der Staat an sich eine rein „bourgeoise“ Struktur ist, die als Mittel um soziale Ziele zu erreichen, genutzt werden kann, aber nicht selbst ein Gegenstand der Transformation werden kann. Die Ironie ist der Umstand, dass je mehr „marxistische“ Organisationen diesen Diskurs entwickelten, um so mehr wurden sie in der Praxis das, was Louis Althusser als „ideologische Staatsapparate“ bezeichnet hat. Im Norden führten die Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts zu einem politischen Kompromiss, der den Lohnarbeiter/-innen bestimmte soziale Rechte gewährte. In jüngerer Zeit ist diese fragile soziale und institutionelle Struktur schnell durch die Globalisierung zerstört worden und das dramatische Kräfteungleichgewicht führte dazu, dass der Staat vom Neoliberalismus genutzt wurde, das abzubauen, was er eigentlich garantieren sollte. Die Ironie der Situation besteht darin, dass die Linke heute weder die Sprache des Klassenkampfes noch die der Staatsbürgerschaft spricht, obwohl in der gegenwärtigen Situation es notwendig wäre anzuerkennen, dass es neue Formen der Ausbeutung und Klassenkämpfe gibt, genauso wie man eine Reflexion auf die Notwendigkeit postliberaler und postnationaler Formen der Staatsbürgerschaft aufnehmen müsste.

pf: In Europa wird der Rechtspopulismus immer stärker. Siehst du Möglichkeiten diesen Tendenzen etwas entgegenzusetzen?

 

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