Ein Marshallplan für Südeuropa

Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und Kollegen können kurz durchatmen: Giorgos Papandreou hat sein neues Sparpaket durch das griechische Parlament gebracht. Noch ist Athen also nicht pleite, denn Griechenland bekommt jetzt einen zweiten, 120 Mrd. Euro schweren Notkredit.

Die teuer erkaufte Atempause wird aber nur von kurzer Dauer sein. Denn die Sparauflagen verschärfen die Krise. Die Medizin der Troika – Europäische Union, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank (EZB) – hat den Gesundheitszustand des griechischen Patienten bisher nur verschlechtert. Kein Industrieland hat in den letzten 25 Jahren so radikal gespart wie Athen in den letzten zwölf Monaten. Mit dramatischen Folgen: Das Wachstum und die Steuereinnahmen schrumpfen, die Arbeitslosigkeit steigt. Folglich wächst der 340 Mrd. Euro große Schuldenberg – der das 1,5fache der Jahreswirtschaftsleistung beträgt – ungehindert weiter.

Das Brüsseler und Berliner Spardiktat lässt Athen keine Chance, sich aus der Schuldenfalle zu befreien. Wenn die Wirtschaftsleistung schrumpft, kann der griechische Kassenwart nicht mehr einnehmen, als er ausgibt. Allein für Tilgung und Zinsen aller Kredite braucht Griechenland 2013 einen Haushaltsüberschuss vor Zinszahlungen (Primärüberschuss) von gigantischen 16 Prozent. Unterstellt wird dabei ein durchschnittliches nominales Wachstum von drei Prozent.[1] Folglich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Athen das Geld erneut ausgeht. Dann wäre das dritte Rettungspaket fällig. Ob jedoch ein erneuter Rettungseinsatz gegen den wachsenden Unmut der Bevölkerung durchgesetzt werden kann, ist mehr als fraglich.

Freiwilligkeit als Farce

Auch aus diesem Grund diskutiert die Europäische Gemeinschaft erregt über einen Schuldenschnitt. Im Rahmen einer sogenannten weichen Umschuldung könnte Hellas die Tilgung seiner Kredite strecken. Doch selbst bei fünfprozentigem nominalem Wachstum erfordert dies immer noch unrealistische Primärüberschüsse von 5 bis 12 Prozent. Schon deswegen ist die letztlich beschlossene freiwillige Beteiligung privater Gläubiger eine reine Farce. Lediglich im Mix mit einer harten Umschuldung – in Form eines 50-Prozent-Schuldenerlasses – ergeben sich realistische Haushaltsziele. Nur so könnte man den Griechen helfen und gleichzeitig die Banken an den Krisenkosten beteiligen.

Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass auch eine Umschuldung große Risiken mit sich bringt. Dass eine hohe Ansteckungsgefahr für andere Schuldenstaaten besteht, lehrt bereits die Geschichte der Finanzkrisen.[2] Darüber hinaus droht unterkapitalisierten nationalen und internationalen Gläubigerbanken der Kollaps. Die Leidtragenden wären in jedem Fall die öffentlichen Haushalte: Noch Ende 2010 waren deutsche Banken mit 34 Mrd. Euro in Griechenland engagiert, französische Geldhäuser gar mit 57 Mrd. Euro. Inzwischen haben die privaten Banken und Versicherungen fast die Hälfte ihrer griechischen Anleihen abgestoßen. Rund zwei Drittel der hellenischen Staatspapiere sind heute in Besitz öffentlicher Institutionen. Unter diesen Umständen werden die griechischen, deutschen und französischen Steuerzahler den Schuldenschnitt bezahlen. Gerechtigkeit sieht anders aus. Zudem durchbricht ein Schuldenerlass nicht den Teufelskreis aus schrumpfendem Wachstum und hohen Zinsen.

Athen vor dem Austritt ?

Da die herrschende Deflationspolitik die hellenische Wirtschaft regelrecht erdrosselt, ist nicht auszuschließen, dass Griechenland die Eurozone schon bald verlässt. Andere Schuldenstaaten könnten folgen. Durch die Abwertung der neuen Nationalwährung würde die griechische Exportwirtschaft ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit in der Tat verbessern. Diesem Vorteil stehen aber große Risiken gegenüber. Zunächst droht eine massive Kapitalflucht. Die in Euro notierte Staatsschuld würde explodieren, die Kapitalmärkte gewähren neue Kredite nur noch zu Wucherzinsen. Der Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten wäre somit versperrt. Die kriselnden Staaten müssten ein Schuldenmoratorium ausrufen.

Ein solcher sofortiger Zahlungsstopp wäre aber noch nicht notwendigerweise der Anfang vom Ende. Denkbar ist, dass Athen andere Kreditgeber – beispielsweise China oder Russland – findet. Kurzfristig würden auf ein Austrittsland vermutlich schwere ökonomische und innenpolitische Verwerfungen zukommen. Aber auch für den Rest des Euroraumes wäre der Austritt mit schrumpfenden Exportmärkten verbunden. Teile des europäischen Bankensystems müssten wieder auf die Intensivstation. Der europäische Integrationsprozess würde um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Die Irrwege der Euro-Krisenpolitik spiegeln auch den traurigen Zustand der europäischen und speziell der deutschen Eliten wider. Die herrschende Politik und die Wirtschaftselite des Landes sind mit dem Krisenmanagement hoffnungslos überfordert. Sie sind kurz davor, den Euro-Tanker zu versenken, obwohl sie ein ureigenes wirtschaftliches Interesse am Fortbestand der gemeinsamen Währung haben.

Dennoch setzt die deutsche Wirtschaft weiter auf reine Kostensenkungsstrategien und eine einseitige Exportorientierung. Dadurch wachsen die ohnehin gewaltigen ökonomischen Ungleichgewichte im Euroland weiter. Hinzu kommt die bornierte nationalstaatliche Ausrichtung der herrschenden Euro-Krisenpolitik. Beim Aufbau der Rettungsschirme (EFSF und ESM) wurden die Schulden der EU-Staaten nicht zu gemeinsamen Schulden – etwa durch Eurobonds – erklärt. So können die Finanzmärkte auch weiterhin gegen jeden einzelnen Staat spekulieren. Darüber hinaus vergiften die bürgerlichen Parteien und Medien durch ihren populistischen Nationalismus das politische Klima auf dem alten Kontinent. Auf diese Weise wird die einzig sinnvolle, nämlich europäische Lösung der Krise verhindert.

Der Euro wird jedoch nur überleben, wenn Europa die wirklichen Ursachen der Krise überwindet. Diese liegen in der Fehlkonstruktion des Maastrichter Vertrages, in entfesselten Finanzmärkten und zunehmenden innereuropäischen Ungleichgewichten. Die EU muss daher an Haupt und Gliedern reformiert werden: Erforderlich sind eine neue Wachstumsstrategie, eine Niedrigzinspolitik für die Schuldnerstaaten, eine Reform der Finanzmärkte, die Koordinierung von Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik sowie die Einführung einer europäischen Wirtschaftsregierung.

Kurzfristig braucht der alte Kontinent eine gemeinsame Wachstumsstrategie und ein europäisches Schuldenmanagement. Griechenland und seine südeuropäischen Nachbarn benötigen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. So hat Athen große Potentiale bei maritimen Industrien und Dienstleistungen, Tourismus und Pharmaindustrie. Deswegen sollte jetzt ein Marshallplan für Südeuropa entwickelt werden. Ein solches Investitions- und Entwicklungsprogramm würde den südeuropäischen Wachstumsmotor wieder ankurbeln und die sehr hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen. Gleichzeitig sollte ein New Deal zur Verbesserung der europäischen Infrastruktur und Umwelt (Transportwesen, Telekommunikation, Umweltschutz) weitere Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung Europas setzen.

Darüber hinaus müssen die Überschussländer, um ihre verheerende Exportstrategie zu Lasten der wirtschaftlich schwachen Staaten abzubauen, endlich ihre Binnennachfrage ankurbeln. Eine Schlüsselrolle fällt hier der Bundesrepublik als dem mit Abstand größten Überschussland zu. Nur so können die chronischen Handelsdefizite der Krisenländer abgebaut werden. Dafür muss auch die deflatorische Austeritätspolitik in den Schuldenländern sofort gestoppt werden.

Wachstum alleine reicht nicht

Wachstum allein reicht aber nicht aus, wenn nicht gleichzeitig die Zinsen gesenkt werden. Die Entschuldungspolitik der USA und Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, wie wichtig niedrige Zinsen sind. Durch eine staatliche Kontrolle der Zinsen für Staatsanleihen und Ersparnisse gelang es beiden Staaten, bei gleichzeitiger Einschränkung des internationalen Kapitalverkehrs die Staatsschulden sehr rasch zu reduzieren. Auch heute kommt es daher darauf an, mit den Mitteln der Schuldengarantie durch die EU-Staaten die Zinsen für die Schuldnerstaaten drastisch zu reduzieren.

Brüssel muss endlich die Schulden aller Mitgliedstaaten garantieren und Eurobonds ausgeben, da sie die Finanzierungskosten der Schuldnerstaaten erheblich senken können. Eurobonds sollten zudem sowohl für bestehende Staatsschulden als auch für die Neuverschuldung ausgegeben werden. Die Notfallkredite sollten zudem zu günstigeren Konditionen vergeben werden.
Den skizzierten Sofortmaßnahmen müssen allerdings grundlegende Reformen der europäischen Institutionen und Regulierung folgen. Da die entfesselten Finanzmärkte die Eurokrise verschärft haben, ist deren grundlegende Reform unabdingbar. Die Staaten müssen endlich aus der Geiselhaft der Finanzmärkte befreit werden.

Banken, die zu groß sind, um in Konkurs gehen zu dürfen (too big to fail), sind zu zerlegen. Ein europäischer Finanzmarkt-TÜV muss zukünftig über die Zulassung von Finanzmarktprodukten entscheiden. Klar ist: Der Handel mit Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS) muss verboten werden und private Ratingagenturen müssen durch eine öffentliche europäische Ratingagentur entmachtet werden. Der radikalste Schritt zur Euro-Rettung wäre eine weitgehende Entkoppelung der Staatsfinanzen von den Kapitalmärkten in Form einer direkten Staatsfinanzierung durch die Zentralbank. Dies ist in den USA, Japan und Großbritannien längst gängige Praxis. Lediglich auf dem alten Kontinent verbietet die EZB-Satzung die direkte Staatsfinanzierung. Über die Sinnhaftigkeit dieses geldpolitischen Alleinstellungsmerkmals der Eurozone muss endlich diskutiert werden.

Damit aber nicht genug: Um der Abwärtsspirale bei Löhnen, Sozialausgaben und Steuern im System der Wettbewerbsstaaten zu begegnen, brauchen wir auch eine enge Abstimmung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik. Nur so können die Ungleichgewichte in den Handels- und Kapitalströmen der Eurozone abgebaut werden.

Ökonomisch schädliche Formen der Koordinierung sind jedoch der Stabilitäts- und der Euro-Plus-Pakt. Letzterer basiert auf dem Irrtum, dass die Ungleichgewichte zurückgehen, sobald sich alle Staaten der deutschen Zwangsdiät unterziehen. Es können aber nicht alle Staaten gleichzeitig Überschüsse erzielen. Der Pakt verschärft daher nur die schuldentreibende Deflationspolitik in Europa.

Der wichtigste Reformschritt wäre eine europäische Wirtschaftsregierung. Die gegenwärtige Krise beweist: Die Währungsunion braucht eine politische Union. Nur eine demokratisch legitimierte europäische Wirtschaftsregierung könnte künftige Krisen konjunkturpolitisch effektiv bekämpfen und eine gemeinsame, europäische Schuldenpolitik auflegen. Mit Hilfe eines Finanzausgleichs könnten innereuropäische Entwicklungsunterschiede verringert werden.

Nur ein solch großer Sprung nach vorn kann die Europäische Union und den Euro dauerhaft stabilisieren. Diese Reform ist auch im Interesse aller europäischen Staaten. Um den großen Sprung zu tun, müssen die Euroländer allerdings erkennen, dass eine gemeinsame Währung weit mehr braucht als eine Europäische Zentralbank – es bedarf qualitativ neuer Integrationsschübe in Richtung einer politischen Union.

In früheren Krisen konnte sich Europa stets am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Dies war nach der Politik des „leeren Stuhls“ de Gaulles möglich, als mit dem Haager Gipfel von 1969 der Integrationsprozess neuen Schub bekam. Dies war auch 1987 der Fall, als mit der Einheitlichen Europäischen Akte und dem Binnenmarktprojekt eine lange Phase des Integrationsstaus überwunden wurde. Der Maastrichter Vertrag von 1992 war hingegen ein Rückschritt. Die Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion, die auch durch den Lissabonvertrag nicht geheilt wurden, stürzten Europa in jene tiefe Krise, die wir gegenwärtig durchleben. Die EU braucht daher erneut die Kraft für eine Radikalreform an Haupt und Gliedern. Sonst endet die griechische in einer europäischen Tragödie. 


[1] Berechnungen von Heinz-Dieter Smeets, Ist Griechenland noch zu retten? In: „Wirtschaftsdienst“, Nr. 5/2010, S. 309-313.

[2] Vgl. Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, München 2010, S. 336 ff.

 

(aus: »Blätter« 8/2011, Seite 5-8)