Libyen: Kriegserwägungen

Bomben für die Menschenrechte?

in (11.08.2011)

Rony Brauman, französischer Arzt, 1950 in Jerusalem geboren, war lange Zeit Mitglied von Ärzte ohne Grenzen. Zusammen mit dem israelischen Regisseur Eyal Sivan (Jaffa, The Clockwork Oranges) produzierte er den Dokumentarfilm „Der Prozess gegen Adolf Eichmann" (1999). Am 1.4. wurde er von Daniel Mermet in „France inter" über die Militärintervention in Libyen und das Recht oder Unrecht, sich einzumischen, interviewt. Brauman ist vehementer Gegner der Militärintervention. Vor allem kritisiert er auch die Aufständischen, weil sie auf die „vermeintliche ausländische Protektion" vertrauen, die sie auch ihren Sieg kosten kann, wenn sie sich so sicher fühlen, dass „sie nicht auf ihre eigenen Kräfte vertrauen."

 

Daniel Mermet: Beginnen wir mit einem Satz, der bereits eine gewisse Berühmtheit erlangt hat: "Wir müssen die Terroristen bis ins letzte Scheißhaus verfolgen." Das sagte Vladimir Putin 1999 vor dem zweiten Tschetschenien-Krieg, bei dem es 40.000 Tote gab. Viele haben damals versucht, die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf das Schicksal der Tschetschenen zu lenken, aber vergeblich, niemand ist interveniert. Die internationale Gemeinschaft sah weg. 40.000 Tote, und das war nur der zweite Krieg in Tschtschenien. Und hier gleich noch ein solcher Satz: "Wir werden Euch bis ins letzte Scheißhaus verfolgen, und wir werden kein Erbarmen kennen." Diesmal kam also hinzu: "Wir werden kein Erbarmen kennen." Es war Qaddhafi, der dies so aussprach, und die Reaktion folgte auf den Fuß - die internationale Gemeinschaft, die UN und vor allem Frankreich eilten den bedrohten Aufständischen zu Hilfe. Warum intervenieren wir das eine Mal und das andere Mal nicht? Diese Frage stellen wir Rony Brauman, der schon Erfahrung hat darin, darauf zu antworten. Um es vorwegzunehmen, er ist eine seltene Ausnahme, denn er ist nicht der Kriegsbegeisterung verfallen, die zumindest im Augenblick noch die öffentliche Meinung prägt. Rony Brauman, Sie waren gerade erst in der Presse, im Fernsehen, im Radio, und Sie haben die Militärintervention vehement abgelehnt, aber dennoch findet sie statt.

Rony Brauman: Ja, leider hat man nicht auf mich gehört, sondern erwidert, dass doch alles nach Plan verläuft, die Kampfbomber werfen ihre Bomben ab, die Raketen fliegen auch ins Ziel, sie zerstören genau, was sie zerstören sollen, es steht hervorragend, wo ist also das Problem? Ein Problem aber wird sein, was danach passiert.

Mermet: Dazu habe ich noch ein Zitat. Raten Sie mal, wer das gesagt hat, im Dezember 2001, als er gerade aus Afghanistan zurückkehrte: "Warum nicht zustimmen, dass die USA vom Anfang bis zum Ende erstaunlich gut Krieg geführt haben? Warum nicht zugeben, dass sie alle Prophezeiungen widerlegt haben, die meinten, sie würden Fehler begehen und stolpern und steckenbleiben? Mit einem Wort: Wer will, der kann." Sicher haben Sie schon erraten, wer das war, nämlich ein gewisser Bernard-Henri Lévy. Er spendete damals schon der Militärintervention in Afghanistan seinen Beifall. Jetzt schreiben wir April 2011, es sind also fast zehn Jahre vergangen, und in Afghanistan herrscht immer noch Krieg, und die Situation ist vollkommen festgefahren und ausweglos. Das ist nicht das einzige Beispiel dieser Art aus den letzten 20 Jahren. Viele Militärinterventionen begannen unter gutem Vorzeichen und haben sich dann verhängnisvoll entwickelt. Warum kann jemand wie Bernard-Henri Lévy trotzdem tun, als ob nichts gewesen wäre? Natürlich hat er beste Beziehungen, er kann immer seine Meinung äußern, und es ist ja bekannt, dass die Medien der gleichen Regel folgen wie die Goldfische im Aquarium, bei jeder Runde, die sie drehen, erscheinen sie genau wie beim ersten Mal und haben dennoch alle vorhergehenden Runden vergessen, Hauptsache, sie glänzen. Das ist leider, wie die Medien funktionieren, sie haben es mit dem Neuen und nicht mit dem Lernen zu tun.

Brauman: Gehen wir kurz zurück in eine heute schon fast ferne Zeit, vor dem Ende des Kalten Krieges, und wir werden einen großen Unterschied bemerken. Damals gab es in Paris ein Kolloquium unter der Schirmherrschaft von Chirac, und Mitterand hielt die Abschlussrede, es war die Zeit der ersten "Cohabitation". Die Konferenz verlief in einer friedlichen Atmosphäre, und man kam überein, dass man gemäß dem Prinzip der Souveränität eher zulassen müsse, dass ein Staat seine eigene Bevölkerung massakriert, als dass man, koste es, was es wolle, dagegen einschreitet. Man hielt also dafür, dass es kein Recht gibt, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einzumischen. Gegen Unrecht in einem anderen Land vorgehen hieß entsprechend nicht, einen Krieg zu beginnen, sondern dass man Hilfe sendet und Resolutionen verfasst, um politisch Druck auszuüben. Man muss hinzufügen, dass der Kalte Krieg nicht besonders erfreulich gewesen war, er hat aber zumindest eine ganze Reihe von Konflikten eingedämmt. Auffällig ist, dass sich mit seinem Ende schlagartig alles geändert hat. Seit dem zweiten Golfkrieg bzw. der Unternehmung "Desert Storm" von 1991 versucht man nicht mehr, innerstaatliche Konflikte in einem anderen Land mit Hilfe von Artikeln, Flugblättern, Demonstrationen und Stellungnahmen zu lösen, sondern mit Bataillonen, Panzern und Kampfhubschraubern. Diese Änderung in der Vorgehensweise war so nicht vorherzusehen und möglicherweise auch nicht beabsichtigt. Das entscheidende Vorbild dafür stammt vom Ende des zweiten Golfkriegs, als man im Norden Iraks zum Schutz der Kurden eine Flugverbotszone einrichtete, wovon man ja auch jetzt im Fall Libyens wieder spricht. Der Sicherheitsrat formulierte dabei als Ziel, dass es Hilfsorganisationen ermöglicht werden müsse, in den kurdischen Gebieten ihrer Arbeit nachzugehen, und diese Gebiete entsprachen eben genau der Flugverbotszone. Das Ergebnis wurde als erstes Beispiel einer erfolgreichen Einmischung der UNO in die inneren Angelegenheiten eines Landes präsentiert. Der Krieg war ja legal und abgesichert von einer UN-Resolution: Irak hatte Kuwait überfallen, darauf ermächtigte der Sicherheitsrat die von den USA angeführte Militärallianz, ihn wieder zum Rückzug zu zwingen. Die Auseinandersetzungen griffen auf Irakisch-Kurdistan über, also beschloss man die Einrichtung der Flugverbotszone, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Aus dieser Entwicklung also leitete man das Recht ab, sich zum Schutz der Menschenrechte über das Prinzip staatlicher Souveränität hinwegzusetzen. Ich persönlich habe zu dieser Zeit große Zurückhaltung geäußert. Die Allianz und Irak standen immer noch im Krieg, 15 % des irakischen Territoriums waren besetzt, das irakische Militär und die Regierung lagen am Boden, wir befanden uns also in einem Kontext des Kräftemessens, es ging um Sieg und Niederlage, und nun richtete man im Inneren des Landes eine Flugverbotszone ein, damit die Hilfsorganisationen sich frei bewegen konnten. Mir schien die Rede von der humanitären Hilfe die Situation zu beschönigen. Aber das war offiziell die Geburtstunde der Menschenrechtsintervention. 1992 gab es gleich den nächsten Fall, eine neue Menschenrechtsintervention, und zwar in Somalia, als die USA Mitte Dezember in Mogadischu landeten. Vielleicht erinnern Sie sich daran, denn diese Landung war ja so organisiert, dass sie zur besten Sendezeit stattfand. Ob nun dort oder im Irak, die Folgen dieser humanitären Maßnahmen und vor allem des Embargos im Irak waren politisch und menschlich absolut desaströs. 2003, also 12 Jahre später, folgte im Irak ein zweiter Krieg, mit Folgen, die jene Katastrophe noch um ein Vielfaches überstiegen. Was Somalia angeht, wo es ebenfalls darum ging, Hilfslieferungen zu organisieren, einen Zustand des Rechts wiederherzustellen, die Ernährungslage zu verbessern, wissen die wenigsten, was überhaupt aus dem Land geworden ist. Kurz, 19 Jahre später herrscht auch dort immer noch das Chaos. Auch in Somalia gab es inzwischen eine zweite Intervention unter der Schirmherrschaft der UN und der EU, über die kaum berichtet wurde, weil wir nicht mit eigenen Truppen daran beteiligt waren, sondern es waren Burundi, Uganda und Äthiopien, die dort Krieg führten, und wie die erste Intervention hat auch diese zu einem Desaster geführt, das jeden moralischen Anspruch ad absurdum führt.

Mermet: 1999 gab es den Krieg im Kosovo, da hat man unumwunden von einem "Krieg für die Menschenrechte" gesprochen. Die Meinung war dabei gerade in Frankreich gespalten, viele bezweifelten die Notwendigkeit dieser Intervention, obwohl Milosevic als richtiger Teufel dargestellt wurde, mit zwei Gesichtern, dem von Hitler und dem von Stalin, unerbittlich sollen seine Serben die unschuldigen Albaner dahingemetzelt und mit dem Genozid bedroht haben, die Bilder von den armen Kosovaren auf der Massenflucht sind uns unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben, man musste also unbedingt intervenieren, hieß es, was man ja schließlich auch getan hat, mit zehntausenden von Bomben gegen Belgrad, und was war das Ergebnis? Zwar gilt Kosovo seit 2008 als eigenständiges Land, aber tatsächlich ist es nicht unabhängig, sondern ein Land, in dem die Mafia regiert.

Brauman: Vielleicht muss man genauer die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede herausarbeiten zwischen den beiden Fällen. Ähnlich ist, dass wir in beiden Fällen von Menschenrechtskriegen sprechen. Kosovo, das war der zweite Menschenrechtskrieg, der erste war der Krieg in Somalia. Schießen, um zu ernähren, so hat man das gesagt. Die zweite bezeichnende Ähnlichkeit war, dass die Begründung für diese Kriege gelogen war. In Somalia hieß es, dass bewaffnete Banden und Kriegsgewinnler Hilfslieferungen verschwinden ließen, so dass zehntausende Kinder vom Hunger bedroht waren. Das stimmte aber so nicht. Ohne jetzt das im Detail begründen zu wollen, es ist ja alles nachzulesen, war das zumindest weit übertrieben. Es gab tatsächlich eine wilde, ungelenkte Verteilung von Hilfsmitteln, aber das hatte nichts zu tun mit gezielter Bereicherung einzelner Warlords. Im Kosovo schoss man nicht, um zu ernähren, sondern man warf Bomben für die Menschenrechte, und es begann auch mit einem enormen Schwindel, das waren die Gerüchte vom Genozid an der Zivilbevölkerung. Der Internationale Strafgerichtshof ist ihnen später in umfangreichen Untersuchungen nachgegangen, und man hat auf dem gesamten Gebiet des Kosovo an die 4000 Leichen gefunden, man musste also die anfänglichen Zahlen korrigieren, die viel zu hoch gegriffen waren, und die Zahl 4000 schließt auch die unmittelbaren Opfer des Krieges ein. Aber vorher hatte man Milosevic als Personifikation aller Übel der Welt dargestellt, nicht nur als Wiedergänger Hitlers und Stalins, und dieses Monster lässt den Vorhang fallen, um still und heimlich seine Massaker zu begehen. Aber es gab natürlich noch andere Gründe, den Krieg zu führen. Was man völlig unterschlagen hat ist, dass Europa zur gleichen Zeit entschlossen schien, zur Not mit Gewalt die europäischen Grenzen neu zu ziehen entlang ethnischer Einheiten, ein Projekt, hervorgegangen aus dem Zweiten Weltkrieg. Entsprechend signalisierte man den jungen Nationen im Osten Unterstützung auf dem Weg zur Selbständigkeit. Dass es von europäischer Seite Gründe gab, den Kosovo-Krieg zu wollen, dafür ist ein Indiz, dass man Milosevic Bedingungen stellte, die vollkommen inakzeptabel waren, was man eben dadurch verbarg, dass man ihn als Unmenschen darstellte. Ich will Milosevic nicht verteidigen. Aber Madeleine Albright kam nach Europa und nahm an der Konferenz von Rambouillet teil, nur um diesen Krieg zu provozieren, aus rein strategischen Gründen. Das konnte man nicht offen aussprechen, vielmehr war es notwendig, der Angelegenheit einen moralischen Rahmen zu verpassen, humanitäre Gründe vorzuschieben, Opfer zu präsentieren, die nach Hilfe verlangten, eine Situation, in der Eingreifen geboten war.

Mermet: Danach gab es die beiden Kriege 2003 im Irak, mit dramatischen Folgen, und 2001 in Afghanistan. Dennoch war es unbedingt notwendig, etwas zu tun, nach dem, was die anderen getan haben, ich spreche vom "11. September". Es erforderte also keine Argumentationskünste mehr, dorthin zu gehen, und eine ganze Meute von Journalisten wartete schon, dass die ersten Bomben fielen, unter allgemeinem Applaus, und heute schreiben wir das Jahr 2011, und nach 10 Jahren ist alles festgefahren und steckengeblieben, und was bleibt, sind Bilder von Folter, Abu Ghraib ist zum Symbol für das ganze Unternehmen geworden. Man wollte Kabul befreien, man wollte die Frauen von ihren Burkas befreien, und natürlich waren sie zunächst glücklich über die Ankunft des Westens.

Brauman: Man muss hier unterscheiden einmal zwischen der Antwort auf die Attentate, die auf die USA verübt wurden, also einer Art Polizeiaktion, um die zu bestrafen und ihnen den Boden zu entziehen, die dafür verantwortlich waren, und zweitens einem politischen Engagement, verbunden mit einem Regimewechsel und einer bleibenden Kontrolle des Territoriums, mit den Konsequenzen, die man jetzt beobachten kann. Man wollte die Menschen beschützen, das Land zivilisieren, die Demokratie durchsetzen, die Frauen befreien und die Mädchen erziehen. Das Ergebnis ist nach Vietnam der längste Krieg, in den die USA jemals verwickelt waren insgesamt in ihrer Geschichte, und die Situation ist ausweglos, niemand weiß mehr, was tun. Bei Libyen ist es genau das gleiche Abgleiten. Auch dort ging es zunächst um ein einfaches Ziel, nämlich die Umklammerung Bengazis aufzubrechen, um Massaker zu verhindern, von denen gesagt wurde, dass man sicher sein könne, dass sie ansonsten stattfinden, weil Qaddhafi alles zuzutrauen sei, wobei man zur Begründung auf Greuel hinwies, die er angeblich schon verübt hatte, obwohl das sehr im Nebel liegt. Aber damit verband man sofort einen größeren Anspruch, nämlich ganz allgemein den Schutz der Zivilbevölkerung, und das beinhaltet automatisch einen Regimewechsel. Kaum hatte man also den Schutz der Zivilbevölkerung in der Resolution festgehalten, war schon aus Washington, London und Paris zu hören, dass man bis nach Tripolis gehen will, um der Herrschaft des Qaddhafi-Clans ein Ende zu setzen. Aus all dem ist also ein totaler Krieg geworden, ohne Grenze, man kann also im Moment nicht mehr einfach sagen, Mission erfüllt, denn zumindest der Regimewechsel steht noch aus.

Mermet: Was hätte man aber machen sollen, einfach nicht intervenieren?

Brauman: Ja, das meine ich, nicht intervenieren.

Mermet: Also auch nichts machen?

Brauman: Bei der politischen oder vielmehr militärischen Hilfestellung für einzelne Gruppen, die sich im Konflikt befinden, spielt man mit dem Feuer, wie das Beispiel Afghanistan gezeigt hat. Dort sind die radikalen Gruppen wie die Taliban erst mit dieser ausländischen Unterstützung groß geworden. Aber natürlich muss man politisch Grenzen setzen. Der Angriff, den die Truppen Qaddhafis auf Bengazi gestartet haben, wäre so ein Limit. Man kann ein Embargo verhängen, Flüge verbieten, Qaddhafis Vermögen und das seiner Angehörigen im Ausland einfrieren, mit Konsequenzen drohen, falls er etwas tut, was man nicht haben will, wie die Einnahme Bengazis.

Mermet: Aber viele dieser Maßnahmen, die Sie vorschlagen, stehen auch in der Resolution.

Brauman: Sie stehen alle darin, und das ist alles sehr gut formuliert. Aber der Satz, "alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Zivilbevölkerung zu schützen," das ist die Quelle aller Probleme.

Mermet: Aber bleiben wir einmal bei der einfachen Tatsache, dass man überhaupt interveniert ist, im Unterschied zu Tschetschenien, wo es 40.000 Tote gab, denn auch dort hat man um Hilfe gerufen. Auch in Gaza ist man nicht interveniert. Man kann noch eine ganze Reihe solcher Beispiele nennen. Bis heute gibt es genügend Orte, wo nicht interveniert wird. In der arabischen Welt gibt es noch viel mehr Rebellen, die unsere Hilfe erwarten, zum Beispiel in Syrien, im Jemen oder in Bahrain. Wie kann man dieses doppelte Maß erklären?

Brauman: Das ist nicht schwer zu erklären. Zuerst ist zu sagen, dass in Gaza und in Tschetschenien oder im Libanon 2006 der Krieg vor allem aus der Luft geführt wurde. Es sind vor allem Bombardements, die die Zerstörungen dort angerichtet haben und allein in Tschetschenien in beiden Kriegen insgesamt 200.000 Opfer erfordert haben. 3000 Tote waren es in Gaza und ebenso viele im Libanon, man hat alles in Schutt und Asche gelegt in Gaza und im Südlibanon, allein aus der Luft. Trotzdem hat niemand gefordert, dass die Russen oder Israelis am Boden bleiben müssen, und darauf gedrängt, eine Flugverbotszone einzurichten. Hier sieht man deutlich die verschiedenen Maßstäbe. Was Gaza und Libanon angeht, so haben die gleichen, die im Sicherheitsrat jeden Protest gegen das kriminelle Vorgehen Israels im Keim erstickt haben, jetzt ein Einschreiten in Libyen befürwortet. Es gibt auch andere Länder, wo nach den gesetzten Maßstäben Handeln geboten wäre, wie Tadschikistan oder Usbekistan, Weißrussland, Zimbabwe, Nordkorea oder Birma, einige werden von Großmächten unterstützt, andere nicht. Repressionen ereignen sich täglich, oft in viel größerem Ausmaß als in Libyen. Wenn man wirklich die Demokratie überall mit ein paar chirurgischen Schlägen, mit gezielten Militäraktionen durchsetzen könnte - vielleicht gäbe es ein paar Kollateralschäden, aber dann würde alles besser -, wenn man also wegen der Menschenrechte Krieg führen wollte, dann müsste man das überall tun, wo sie verletzt werden. Ich spreche einmal als Arzt, der ich ja bin: Erst muss man ein wenig wehtun, dann wird alles besser. Aber hier ist die Situation nach der Behandlung schlimmer. Als Arzt würde ich also zu einer anderen Form von Therapie übergehen. Aber das wird nicht getan. Es ist vielmehr, wie wenn man ein Herz mit einem Hammer und einem Meißel operieren wollte, und man denkt überhaupt nicht darüber nach, ob nicht vielleicht die Werkzeuge die falschen sind, sondern man haut noch ein wenig fester drauf, in der Hoffnung, dass es dann besser wird.

Mermet: Georges Corm hat in "Le monde diplomatique" einen Artikel veröffentlicht, in dem er davor warnt, dass man wieder Hand anlegt in Libyen, denn das könnte einen Anschein von Neokolonialismus erwecken...

Brauman: Anscheinend haben die großen Militärmächte, die beteiligt sind, also die USA, Großbritannien und Frankreich gedacht, es ist wie bei einer alten Dame, die gefallen ist, man hilft ihr schnell auf, setzt sie in ein Taxi und geht weiter. Aber diese Vorstellung verleugnet sträflich die Konsequenzen dessen, was man in vorigen vergleichbaren Situationen angerichtet hat. Bei jeder Rakete feuert man mit einem Schlag 50.000 $ in die Luft. Nun werden dutzende, hunderte Raketen abgeschossen, und man setzt hochmoderne Flugzeuge ein, und das alles bedeutet zumindest auch ein finanzielles Risiko, und natürlich will man für diese Ausgaben auch etwas zurück haben, man macht eine Gegenrechnung. Man ist den Abgeordneten verantwortlich. Die "Durchsetzung der Menschenrechte auf dem ganzen Planeten" ist dabei ein sehr vages Motiv. Zu Zeiten der großen Imperien gab es die "Zivilisatorische Mission" des Weißen Mannes, und auch damals erwartete man einen Erfolg von der Unternehmung.

Mermet: Jede Rakete ist eine Investition.

Brauman: Selbstverständlich. Diese Erwartung findet sich vielleicht nirgends schriftlich festgehalten, aber in jedem Fall geht sie nicht auf in einem rein moralischen Anspruch.

Mermet: Es gibt eine historische Parallele, an die wir nicht ohne Scham denken können, und das ist der Bürgerkrieg in Spanien. Damals hat Frankreich nichts unternommen, es ist nicht interveniert, und es hat die Republik nicht unterstützt. Schon im Libanonkrieg hat Bernard-Henri Lévy die israelische Armee mit den internationalen Brigaden verglichen. Das war gelinde gesagt ein gewagter Vergleich. Aber glauben Sie nicht, dass dieses Versäumnis bis heute fortlebt, damals nicht eingegriffen zu haben, mit all den Konsequenzen, die es hatte, politisch, geschichtlich und kulturell? Dieser Krieg ist ja immer noch in unserem Gedächtnis. Glauben Sie nicht, dass diese Erinnerung immer noch eine Rolle spielt, wenn wir, wie jetzt, in den Krieg ziehen, um jemand zu Hilfe zu eilen?

Brauman: Natürlich ist das ein wichtiges Datum, ich selbst bin durch das Thema des Spanischen Bürgerkriegs zur Politik gekommen, ich war bei den Anarchisten, bei denen es übrigens verboten war, von einem Krieg zu sprechen, man sprach vielmehr von einer Revolution. Ich bin also sehr empfindlich, was dieses Thema angeht. Dieser Krieg hat aber eine große Mobilmachung bewirkt. Wer immer helfen wollte, ist dort hingegangen, um den Sozialisten oder Kommunisten zu helfen, und das war gut so. Es wäre schön, wenn man sehen würde, wie Bernard Kouchner und andere ihre Kinder anstifteten, derart in den Krieg zu ziehen, es gäbe genug Kriege, alle zwei Jahr könnte man einen neuen Krieg auf diese Weise organisieren, im Sudan in Darfour oder im Iran, um dort den Freunden zu Hilfe zu eilen, und warum nicht in Bengazi. Worauf ich hinaus will: In Spanien, das war ein Engagement von Menschen für Menschen, nicht des Staates. Ich ziehe meinen Hut vor jemand, die für seine Ideale lebt und sich für sie sogar auf dem Schlachtfeld zu opfern bereit ist, der seinen Freunden hilft, wenn sie in Gefahr sind. Also warum nicht ins Taxi und auf nach Tobruk oder Bengazi? Nichts wie los!

Mermet: Das ist ein gutes Ende für unser Interview, weil man Sie sonst für einen radikalen Pazifisten gehalten hätte.

Brauman: Ich bin kein Pazifist.

Mermet: Also muss man manchmal eben Krieg führen, man muss zu seinen Werten stehen, denen beistehen, die unterdrückt werden, und sie verteidigen.

Brauman: Richtig, der gerechte Krieg ist immer ein Verteidigungskrieg. Die jüngere Geschichte zeigt, dass ab einem bestimmten Punkt die Ideale in der Gewalt untergehen und von ihr erstickt werden. Wenn mein Land besetzt wird, dann werde ich mich für es schlagen, das versteht sich von selbst, deswegen nenne ich mich auch keinen Pazifisten, und es gibt Umstände, unter denen ein bewaffneter Aufstand gerechtfertigt ist. Aber es ist ganz etwas anderes, wenn man in einem anderen weit entfernten Land Krieg zu führen beschließt und vorher genau die Ziele auswählt, die man dort zerstören will, und dann beginnt mit dem Bombardement. Das ist etwas ganz anderes als der Krieg, von dem wir gerade geredet haben.

Mermet: Was steht für Frankreich hinter diesem Krieg, ist es das Öl?

Brauman: Ich weiß es wirklich nicht. Was die politischen Ziele angeht, so erscheinen sie mir vollkommen illusorisch. Man wird sich genauso festfahren wie bei den anderen Kriegen auch. Aber mich beunruhigen vor allem auch die Umstände, unter denen der Krieg beschlossen wurde. Das sollte eigentlich eine ernste Sache sein, die genaues Nachdenken verlangt. Aber dieser Krieg hatte zwei Drahtzieher, unseren Präsidenten und unseren nationalen Oberguru Bernard-Henri Lévy. Wenn ich es recht verstanden habe, ging alles von diesem Satz Bernard-Henri-Lévys aus: "Die französische Fahne, die die Aufständischen in Bengazi aufgehängt haben, wird mit dem Blut der Libyer bespritzt und geschändet, wenn wir zulassen, dass Qaddhafi die Stadt einnimmt." Diese windige Phrase löste eine ganze Kettenreaktion aus. À propos Kettenreaktion, zur gleichen Zeit passierte das Unglück in Fukushima, da war der Prozess auch nicht aufzuhalten, aber vorher hatte man uns natürlich versprochen, dass Japan und Frankreich die Technik vollständig im Griff haben. Was mich beängstigt, das ist die Leichtigkeit, mit welcher eine solch schwerwiegende Entscheidung getroffen werden konnte, ohne alle Vorbereitung, ohne Nachdenken über die Konsequenzen, ohne zu wissen, wer die Aufständischen sind, wer der Übergangsrat, das wurde alles vollkommen außer Acht gelassen. Erst führen wir Krieg, dann sehen wir, was dabei herauskommt, war die Devise. Die Improvisation, die mangelnde Vorbereitung und die Unklarheit, das sind die Kennzeichen dieses Krieges. Es ging irgendwie um den Präsidenten und sein angeschlagenes Image, er wollte einmal wieder glänzen und ergriff diese Gelegenheit, die ihm die libyschen Aufständischen mit ihren Hilferufen boten. Beim Irak war es ähnlich, dass die Kurden, und nicht nur diese, sondern auch die Schiiten darauf gewartet haben, dass die USA kommen, sie haben sie förmlich gerufen, in der Hoffnung, dass man ihnen den Kopf des Tyrannen auf dem Silbertablett serviert und dann wieder verschwindet und die Affären des Landes den Irakern überlässt. Ich glaube, dass die Aufständischen in Bengazi diese Geisteshaltung teilen. Aber diese Erwartungen an Frankreich sind vollkommen illusorisch. Es könnte sein, dass genau das Gegenteil von dem eintritt, was sie erwartet und erträumt haben: Die ausländische Unterstützung wird sie vielleicht ihren Sieg kosten und zu ihrem Untergang führen.

Mermet: Die ausländische Unterstützung beraubt sie ihrer Revolution.

Brauman: Das meine ich. Damit verbindet sich eine andere Frage, eine sehr wichtige, die eine eigene Betrachtung verdiente, nämlich die danach, wer der Urheber und die treibende Kraft bei dieser Revolution ist. Wenn es die Pflicht des Volkes ist, sich selbst zu befreien und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, um ein Wort von Marx über das Proletariat zu paraphrasieren, dann ist die vermeintliche ausländische Protektion für die Aufständischen vielleicht gefährlicher als das Wissen, vollkommen ungeschützt und auf sich selbst gestellt zu sein, einfach deshalb, weil sie sich im Schutz des Auslandes so sicher fühlen, dass sie nicht auf ihre eigenen Kräfte vertrauen.

Gesendet auf "France Inter", "La bas si j'y suis", 1.4.2011. Für die Überlassung des Interviews danken wir Daniel Mermet und Rony Brauman. Aus dem Französischen von Jörg Tiedjen.