Machen die Londoner ihre eigenen Pläne?

London hat eine lange Geschichte von Bürgerinitiativen und lokalen Mobilisierungen, die im politischen Leben der Stadt eine aktive Rolle gespielt und manchmal ihre Entwicklung entscheidend beeinflusst haben. Der St. Pancras Mietstreik von 1960 (Burn 1972), die Kampagne »Rettet Covent Garden« in den 1970ern (Franks 1996) und Tolmers Square (Wates 1976) gehören zu den bekanntesten Kämpfen um Stadtplanung. Diese Niederlagen der von Erschließungsunternehmen getriebenen Umstrukturierungen heruntergewirtschafteter Viertel führten zu einem Abwägen zwischen verschiedenen sozialen Bedürfnissen und dem Druck der Wirtschaft. Die Kampagnen waren allerdings lokal - mit Ausnahme von »Wohnungen statt Straßen« (homes before roads), die sich gegen den Entwurf des Entwicklungsplanes für Greater London richtete, und dem Widerstand gegen die London Docklands Development Corporation unter Thatcher.

Heute finden solche Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund einer bisweilen als »postpolitisch« (Swynegedouw/Cook 2009) bezeichneten Gesellschaft statt: Der neoliberale Diskurs ist so dominant, dass im öffentlichen Leben nur Raum für eine konsensuale Sicht auf die Welt und die Stadt zu sein scheint. Obwohl Ausbeutung und Ungleichheiten zunehmen, ist die formalisierte Politik beinahe frei von Konflikten. Die Parteipolitiken unterscheiden sich in relativ unbedeutenden Punkten. Grundlegender Dissens kann kaum ausgedrückt werden - und wo dies doch geschieht, zeitigt es kaum wahrnehmbaren Einfluss auf den Lauf der Dinge. Sogar der Beinahe-Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems und die sich häufenden Anzeichen für sich erschöpfende Ölvorkommen und eine ökologische Katastrophe scheinen die vorherrschende Orthodoxie erstaunlich wenig zu kümmern.

Die letzte Londoner Stadtregierung, der Greater London Council, war 1986 abgeschafft worden. Zu Beginn des neoliberalen Zeitalters war er in den Fokus der damals noch frischen Orthodoxie und ihrer grundlegenden Wandlungsprojekte geraten. Als New Labour eine Wiederbelebung der Londoner Stadtregierung versprochen und dann umgesetzt hat, blickten viele optimistisch auf die neue Stadtpolitik, die daraus erwachsen könnte - mich eingeschlossen: »Dies bietet die Möglichkeit einer Öffnung des demokratischen Diskurses über London und seine Probleme.« (Edwards 2000)

Zwar konnte im Mai 2000 der radikale Ken Livingston das Bürgermeisteramt gewinnen, allerdings wurde er selbst - zumindest was zentrale Punkte angeht - von Immobilien- und Finanzinteressen überwältigt. Diese hatten Londons Politik seit Jahren geleitet und Livingstons Zugang zu Stadtplanung rührte daran wenig - außer im Bereich Wohnen und Verkehr. Wohnen ist seit dem letzten Jahrhundert ein entscheidender Punkt in Londons Stadtplanung; Livingstons Möglichkeiten waren hier allerdings beschränkt. Er bemühte sich, Zielgrößen für die »Erschwinglichkeit« in einigen Außenbezirken durchzusetzen und die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum von Seiten der Entwickler zu erzwingen. Beim Verkehr war er tapfer und geradeheraus: Er hat die London Congestion Charge (Innenstadtmaut) durchgesetzt und sich mit Händen und Füßen gegen die Privatisierung des Schienennetzes der U-Bahn gewehrt. Letzteres konnte er zwar nicht verhindern, aber unter seinem Vorsitz erfuhr der öffentliche Nahverkehr eine Renaissance bei den Londonern; und er konnte die Kontrolle über den Großteil des oberirdischen Schienennetzes sichern.

Der London Government Act (1999) legte die strategischen Orientierungen des Bürgermeisters dar; besonders wichtig war die »Räumliche Entwicklungsstragie« (Spatial Development Strategy).1 Zwar wurden insgesamt wichtige Themen aufgegriffen, aber weder wurden bahnbrechende Entscheidungen getroffen noch eine öffentliche Debatte über alternative Entwicklungspfade für London in Gang gesetzt. Alle Strategien wurden zunächst als Entwurf erarbeitet und erst nach Beratungen fertiggestellt; und doch sind sie eher Zeugnisse der Hoffnungen und Ziele des Bürgermeisters, nicht Ergebnis einer ernsthaften öffentlichen Entscheidungsfindung.

Eine - begrenzte - Ausnahme ist die Räumliche Entwicklungsstragie, bekannt geworden als The London Plan. Er fällt unter den Town and Country Planning Act - und damit unter die britische Tradition, wonach Entwicklungspläne nur nach einem formalisierten Beratungsprozess eingesetzt werden können, der öffentliche Anhörungen (»Examination in Public«) einschließt. In dieser einen Sphäre des öffentlichen Lebens wurden 1968 einige spezifische Partizipationsrechte ins Gesetz eingeschrieben.

Die Aufstellung des London Plans war Verdienst einer kleinen Fachgruppe im Rathaus, die sich nach jeder Revision an die Erstellung einer neuen Version gemacht hat. Die dritte Fassung des Livingston Plans wurde mit einigen Änderungen angenommen, sie erschien 2008 und umfasste 508 Seiten.

Die Kernpunkte können wie folgt zusammengefasst werden: Der Plan begrüßt den ökonomischen und Bevölkerungswachstum der Stadt, unterstützt die wachsende Rolle von London als global city und bemüht sich, dieses Wachstum innerhalb des Stadtgebietes zu realisieren, ohne in den Grünen Gürtel um London auszugreifen. Zu diesem Zweck sollte die Wohndichte steigen, gleichzeitig der Zugang zu öffentlichem Nahverkehr sichergestellt werden. Die Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs, vor allem der Busse, war ein wichtiger Bestandteil, verbunden mit der Einführung einer Innenstadtmaut. Der Plan zielte darauf, bedarfsgerechten Wohnraum bereitzustellen, indem die Entwickler verpflichtet wurden, mit Unterstützung von öffentlichen Geldern in den 33 Bezirken Kontingente von »bezahlbarem Wohnraum« bereitzustellen.

In fast allen anderen Punkten war der Plan orientiert an - oder begrenzt durch - die Bedürfnisse und Forderungen von Unternehmens- und Eigentümer-Interessen; er unterstützte das Anwachsen des Geschäftsbezirkes im Zentrum und die Einführung von Marktkriterien bei der Beurteilung von »realistischen« Entwicklungsprojekten.

Der Plan ist ein gutes Beispiel für die Fetischisierung des Marktes in neoliberaler Stadtpolitik. Der lange Boom des Wohnungsmarktes seit Mitte der 1990er Jahre hat den Wert von Bauland in Höhen getrieben, die von keiner anderen Nutzung erreicht werden konnten (abgesehen von einigen wenigen Orten in der Innenstadt). Nur wenige Entwicklungsmodelle für Büroraum in den Vorstädten konnten mit dem Wohnraum-Modell konkurrieren, erst recht, nachdem der London Plan die höhere Wohndichte zum Programm erhoben hatte. Arbeitsplätze in den Vororten wurden so durch einen aufgeblasenen Wohnungsmarkt und schwache Planung verdrängt. Dieses Versagen des Marktes ist allerdings ohne konzeptionelle Konsequenzen geblieben. Der London Plan ging auch die Stadterneuerung marktbezogen an: Private Investoren sollten sich mit öffentlichen Körperschaften zusammenschließen, um bereits erschlossenes Gelände neu zu nutzen.

Bis 2007 haben nationale und internationale Wirtschaftskräfte renditesuchendes Geldkapital in die Städte gelenkt und so den Höhenflug von Mieten und Immobilienpreisen angeheizt. Der Bürgermeister hatte wenig direkten Einfluss auf diese Entwicklungen, wie auch auf den Wohnungsetat der Stadt, der aufgrund der Landespolitik geschrumpft ist. Aber indem er Verdichtung zur zentralen Strategie erkor und Zugeständnisse bei Wohnraumflächen und Freiflächenstandards machte, trug er dazu bei, die Erwartungen auf dem Wohnungsmarkt in die Höhe zu treiben und die Preisspirale weiterzudrehen.

Seit Beginn der 2000er Jahre haben grüne und linke Gruppen für einen Wandel dieser Politik mobilisiert. Bei der Öffentlichen Anhörung 2003 fanden sich verschiedene Gruppen und Individuen - der Autor eingeschlossen - am Runden Tisch der Anhörung wieder, wo sie ähnliche, aber unkoordinierte Kritiken vorbrachten. Einige Gruppen bildeten ein Londoner Sozialforum. Es war einige Jahre aktiv und brachte Mieterinitiativen, Bürgerrechtsgruppen, Umweltgruppen usw. zusammen und nahm mit dem Europäischen und Weltsozialforum Verbindung auf. Dies führte zu einer Ausweitung des Netzwerkes über die Stadt und im Jahr 2005 zu einer öffentlichen Konferenz über Londons Alternative Zukünfte im Rathaus. Etwa 100 Menschen, die ihrerseits Gruppen und Kampagnen vertraten, kamen zusammen. Die Kooperation der verschiedenen Bewegungen wurde gestärkt. Daraus entstand eine koordinierte Präsentation bei der zweiten Öffentlichen Anhörung 2006: Mehr Sozialwohnungen, eine bessere Mischung von Nutzungen und eine bessere soziale Infrastruktur wurden gefordert.

Die Initiativen beruhten ausschließlich auf ehrenamtlicher Arbeit und hatten keinen Zugriff auf öffentliche Gelder oder Ressourcen. Wenn eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern im Rathaus ein Treffen abhalten will, wird sie behandelt wie ein Unternehmen: Zwar konnten die Grünen die Miete auf ein symbolisches Pfund herunterhandeln, aber das Sozialforum musste Versicherungen in Höhe von 1 Million Pfund abschließen und für die Sicherheitskräfte aufkommen. Das Sozialforum spaltete sich kurz darauf an internen Differenzen und es entstand das Just Space Network2. Es stellte das Vorgehen des Plans in Frage: Keine Vertreter der Arbeiter oder der ethnischen Minderheiten waren beteiligt, keine wirkliche öffentliche Debatte wurde in Gang gesetzt. Die Kritik fokussierte auf die enorme Diskrepanz zwischen benötigtem und bereitgestelltem Wohnraum, die ökologischen und sozialen Argumente für mehr Arbeitsplätze in Wohnnähe, die Gefahren der Privatisierung und Kommodifizierung der öffentlichen Dienste und darauf, dass der Plan nicht ökologisch nachhaltig sei. In die Öffentliche Anhörung 2007 konnte effektiv und inhaltlich gut vorbereitet interveniert werden.

2008 wurde Livingston nicht wiedergewählt; Bürgermeister war nun Boris Johnston, ein Konservativer. Er machte sich für größere Autonomie der Bezirke stark; das betraf auch die Zielgrößen für bezahlbaren Wohnraum. Globale Erwärmung und damit verbundene Umweltthemen hatten - bis aufs Fahrradfahren - keine Priorität mehr. Ein positives Moment des Entwurfs war die Entwicklung von »lebenslangen Nachbarschaften«, in denen öffentlicher Raum und öffentliche Dienstleistungen so gestaltet sein sollten, dass sie den Bedürfnissen von Menschen jeden Alters und unterschiedlicher Mobilität vor Ort entgegenkommen.

Das Just Space Netzwerk bereitete sich auf die Anhörungen vor, diesmal ohne Geld oder Unterstützung aus dem Rathaus. Die Planungsgruppe des Bürgermeisters lud uns ein, unsere Positionen und Forschungsergebnisse zu einem frühen Zeitpunkt einzureichen - was wir taten, ohne dass wir Auswirkungen auf den tatsächlichen Entwurf sehen konnten. Einsprüche gegen den Entwurf bezogen sich auf:

1) Die Maßnahmen zur ökologischen Nachhaltigkeit,

2) die Behandlung gesellschaftlicher Ungleichheiten,

3) die ungleichen Voraussetzungen von stakeholders, die der hohen Bedeutung nicht gerecht wurden, die der Beteiligung der Gemeinden und Nachbarschaften in früheren Plänen eingeräumt worden war,

4) die unangemessenen Vorschläge für Auswege aus der Krise.

Der Begriff »Ungleichheit« wird im Plan in zweierlei Hinsicht verwandt:

1 | Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen und Besitz - die seit den 1970ern zugenommen haben und wie in vielen global cities in London enorm sind (vgl. Hills 2010, Wilkinson 2009). Der Plan hätte diese Ungleichheiten im Ergebnis (inequalities in outcomes) mindern sollen. Dagegen thematisiert der Plan des Bürgermeisters nur Gesundheit. Wir sollten aber alle über guten Wohnraum, gute Gesundheit, gute Luft, Parks, Verkehr usw. verfügen. Das ist nicht dasselbe wie »Chancengleichheit « - diese beruht vor allem darauf, seinen Platz innerhalb der gesellschaftlich Anordnung zu verändern. Hier geht es um die Anordnung, die Struktur selber. Ein großer Teil unserer Arbeit richtet sich auf die Verminderung struktureller Ungleichheit.

2 | Ungleichheit im zweiten Sinne ist die differenzierende oder diskriminierende Erfahrung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Der Bericht des Bürgermeisters über den Zustand von Gleichheit in London spricht diese Punkte an, aber die Maßgabe ist nur, diese Gruppen aufs - nach wie vor schlimme - Londoner Level zu bringen. ROTA (race on the agenda) ist hier als führende Gruppe aktiv.

Der Plan wird vor allem im Bereich der geplanten Unterversorgung mit bezahlbarem - und nach sozialen Kriterien vermieteten - Wohnraum auf Widerstand stoßen. Die Mittel für Roma und Traveller (nomadische Arme, d. Red.) werden um die Hälfte gekürzt, die Zielgrößen für Wohnraum auf Bezirksebene gesenkt. Unsere Erfolge liegen nicht in der materiellen Veränderung des Plans: Konsens und Macht, die sich hinter ihm versammeln, sind zu stark. Sie liegen vor allem in der Veränderung des Prozesses selber:

  • Mehr Gruppen wurden in die Beratungen gebracht, vor allem aus ethnischen Minderheiten und kleine Gruppen vor Ort.
  • Wir haben erfolgreich Lobbyarbeit für eine stärkere Vertretung in den Öffentlichen Anhörungen gemacht;
  • wir konnten Gruppen dabei unterstützen, gemeinsame Grundlagen zu finden, die Verbindung von verschiedenen Politikbereichen mit Stadtplanung deutlich zu machen und so die Aktivistengruppen zusammenzuführen;
  • technische und formale Fähigkeiten der Gruppen wurden weiterentwickelt und gegenseitige Unterstützung organisiert;
  • wir konnten einen Konsens über eine bessere Stadtplanung voranbringen,
  • Ressourcen für die Unterstützung der Arbeit mobilisieren,
  • Menschen, die es nicht gewohnt waren, in Ausschüssen zu sprechen, konnten ihre Belange vorbringen. Für die professionellen Politiker war das wohl ein Schock.

Auch innerhalb der Universität war die Arbeit an der Seite der Gruppen wertvoll; Studierende und Angestellte konnten ein kleines Gegengewicht zum hegemonialen Druck bilden, der auch hier zu spüren ist. Die Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in die Stadtplanung ist ein langer und komplexer Prozess des sozialen Lernens, der für die Beteiligten aufregend sein kann. Um eine wirkliche Demokratie (ob direkt oder repräsentativ oder eine Verbindung von beidem) zu schaffen, muss dieser Prozess gestärkt werden. Das kostet Geld - vor allem, wenn Menschen mit niedrigem Einkommen, langen Arbeitszeiten, eingeschränkter Mobilität o.ä. beteiligt werden sollen. Bislang sind die notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung gestellt worden.

Wird »London nach Labour« anders sein? Meines Erachtens wird der Kampf für soziale Gerechtigkeit, besseren Wohnraum für alle und eine gewandelte Umweltpolitik durch die Krise schwieriger werden. Der »Schuldenabbau « vertieft die Krise und greift sozialen Wohnungsbau, Wohngeld und öffentliche Dienstleistungen im Allgemeinen an. Livingstons Vision einer »vorbildlichen globalen Stadt« (Mayor 2008) wird immer schwerer zu realisieren sein. Die sozialen und ökologischen Anforderungen für einen wirksamen Wandel werden aber mit Sicherheit zunehmen. Eine Voraussetzung für einen solchen Wandel ist, dass der Neoliberalismus zum Gegenstand öffentlicher Kritiken wird. Dies ist eine davon.

Gekürzte und leicht bearbeitete Fassung eines Kapitels aus Kath Scanlon und Ben Kochan (Hg.), London after Labour, LSE London, Oktober 2010. Aus dem Englischen von Christina Kaindl

LITERATUR

Burn, Dave, 1972: The St Pancras Rent Strike 1960, London

Edwards, Michael, 2000: Planificazione e comunicazione a Londra. In G Caudo und A. Palazzo (Hg.): Comunicare l'urbanistica. Firenze, 39-51

Franks, Michael, 1996: Covent Garden: the end of an era?, City 1 (1-2), 113-21

Mayor of London, 2008: The London Plan, consolidated with Alterations, London

Hills, John, 2010: An anatomy of economic inequality in the UK:Report of the National Equality Panel, London: Government Equalities Office

Swynegedouw, Erik, und Ian R. Cook 2009: Cities, Social Cohesion and the Environment, Social Survey Paper, Manchester

Wates, Nick, 1976: The Battle for Tolmers Square, London

Wilkinson, Richard, und Kate Pickett, 2009: The Spirit Level:Why More Equal Societies Almost Always Do Better, London

Anmerkungen

1 Die anderen umfassten Wirtschaft, Verkehr, Klimawandel und Energiestrategien, Biodiversität, Lärm und Kultur; 2008 wurden hinzugefügt: Ungleichheiten im Gesundheitswesen, Wohnen, Ausbildung.

2 Vgl. http://justspace2010.wordpress.com und http://ucljustspace.wordpress.com

 

Der Artikel ist erschienen in "Commons, Kommune, Kommunismus", Luxemburg 4/2010, S.72ff.