Über Gewalt und Hegemonie

in: Das Argument 288 (4-5/2010), Gewalt und Hegemonie

»Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt lässt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben.«
Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt

1. Die Frage[1]

Seit die USA den »Weltkrieg gegen den Terror« ausriefen (vgl. Arg. 244/2002), hat in liberalen und konservativen Feuilletons eine Theorie Furore gemacht, die mit den Gedanken des »erst klerikalfaschistischen, dann nationalsozialistischen Theoretikers« (Brumlik 2010, 108) Carl Schmitt der liberalen Demokratie und dem Rechtsstaat die Legitimität abspricht. Dass sie Walter Benjamin auf ihrer Fahne trägt, machte sie auch Linken attraktiv, die mit diesem Namen den marxistischen Freund und Gesprächspartner Bertolt Brechts verbinden. Wie zuvor Foucault Macht als solche, unter Abstraktion von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen, als »produktive Effizienz« rehabilitierte (1977, 106),[2] so schreibt Raul Zelik (in diesem Heft) nun der nackten Gewalt, die Menschen als »nacktes Leben« quält, verstümmelt und tötet, die Produktion von Hegemonie zu, was, wenn es zutrifft, die gramscianische Hegemonietheorie aus den Angeln hebt.

Werfen wir einen ersten Blick auf die Genealogie jener Denkrichtung. Sie folgt Giorgio Agamben, der sich auf Hannah Arendt und Michel Foucault beruft, vor allem aber auf Benjamin. Letzterer hat um 1920 in einer politisch-theologischen Schrift Zur Kritik der Gewalt den Fall erörtert, dass der Staat gegen ihn auftretende Gewalt »als rechtsetzend anerkennen muss, wo auswärtige Mächte ihn dazu zwingen, das Recht zur Kriegsführung, Klassen, das Recht zum Streik ihnen zuzugestehen« (GS II.1, 186). Schmitt, der diesen Essay gelesen haben dürfte, antwortet darauf 1922 in seiner Politischen Theologie mit der Lehre vom rechtsetzenden Charakter der Staatsgewalt im alles Recht außer Kraft setzenden Ausnahmezustand und holt damit Benjamins von Sorel inspirierte unkontrollierbare Gewalt wieder ins Staatsrecht zurück, das ja seine eigene Außerkraftsetzung im Notstand vorzusehen pflegt. Bei Benjamin ist 1920 vom Ausnahmezustand nicht die Rede, kann es auch gar nicht sein, da ihm gerade die »Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, also zuletzt der Staatsgewalt« (202) vorschwebt. In völliger Verdrehung lässt nun jene Denkbewegung ihn in der Idee des Ausnahmezustands mit Schmitt sich treffen. Giorgio Agamben, der darüber zum neuen »Meisterdenker« gekränzt worden ist,[3] beansprucht nicht weniger als eine völlige Neubegründung der Theorie des Politischen, ausgehend von Benjamins Rede vom »bloßen Leben«.[4] Ein erster Blick auf den Originalkontext ist angebracht.

In Zur Kritik der Gewalt erteilt Benjamin Kurt Hillers Ablehnung jeglicher revolutionärer Gewalt, die Menschenleben fordert, eine schneidende Absage. Hiller begründet seine Ablehnung damit, »dass höher noch als Gerechtigkeit und Glück eines Daseins – Dasein an sich« stehe. Dagegen nun Benjamin: »Falsch und niedrig ist der Satz, dass Dasein höher als gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll«. Hingegen enthalte er eine »gewaltige Wahrheit [...], wenn der Satz sagen will, das Nichtsein des Menschen sei etwas Furchtbareres als das (unbedingt: bloße) Nochnichtsein des gerechten Menschen.« (201) Die revolutionäre Potenzialität des Noch nicht, das nicht zufällig an Ernst Bloch gemahnt, bedingt, dass »der Mensch [...] eben um keinen Preis zusammen[fällt] mit dem bloßen Leben des Menschen« (ebd.).

Just dieses bloße Leben, das für Benjamin um keinen Preis mit dem Menschen zusammenfällt und bezüglich dessen er sich fragt, »was [...] es denn wesentlich von dem der Tiere und Pflanzen« unterscheide (202), ein Begriff mithin, in dem er einen Unbegriff sieht, macht Agamben zu seiner Grundkategorie, die Benjamins Denken, von dem her sie sich legitimiert, unterm Anschein der Fortbildung verdrängt. Nicht besser ergeht es übrigens auch Hannah Arendt und Michel Foucault, auf die Agamben mit seiner Idee des aller Rechte entkleideten »nackten Lebens« sich gleichfalls beruft. Klaus-Michael Bogdal hat gezeigt, dass deren Analysen der Ausgeschlossenen – der Paria-Gestalt des chamissoschen Schlemihl bei Arendt, der »Monster« und des »Infamen« bei Foucault – sich gerade für den »›Rest, der bleibt‹« interessieren, womit ganz im Gegensatz zu Agamben »ein historisches und soziologisches Interesse an einem ›gelebten Leben‹ im Schatten der Geschichte der Sieger gemeint« ist (2008, 22).

Nun könnte man angesichts dieser Befunde die Frage zu den Akten legen. Doch das würde sowohl die gelegentlich produktive Rolle von Missverständnissen, wo nicht gar Fälschungen in der Ideologiegeschichte verkennen als auch und vor allem das mögliche Richtige im Falschen sowie nicht zuletzt die Wirkung. Eine Untersuchung ist angesagt.

2. Gewalt und Zustimmung als die beiden Brennpunkte der Hegemonie

Was »Gewalt« meint, scheint klar: die Einwirkung von Menschen auf andere Menschen als »auf quäl- und verletzbare Körper, deren Leben ausgelöscht werden kann« (Arg. 263/2005, 5). Ein Blick auf Benjamins Auslotung der näheren Wortfamilie am Schluss seiner Kritik der Gewalt genügt, den Scheincharakters der Anfangsklarheit zu zeigen: Als »schaltende« fasst er die rechtsetzende Gewalt, als »verwaltende« die rechtserhaltende, als »waltende« die göttliche. Man versteht, dass der französische Autor des Eintrags »Gewalt« im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus die folgende »grundlegende Bemerkung zu Sprache und Terminologie« vorausschickt: »Im Deutschen hat das Wort Gewalt einen größeren Bedeutungsumfang als seine ›Äquivalente‹ in anderen europäischen Sprachen: violence oder violenza und pouvoir, potere, power (mit denen je nach Kontext ebenso Macht ›wiedergegeben‹ werden kann). ›Von außen‹ gesehen, beinhaltet also der deutsche Ausdruck Gewalt eine Ambivalenz: Er bezeichnet die Antithese zu Recht oder Gerechtigkeit und zugleich deren Verwirklichung oder Ausübung durch die Institution (i.A. den Staat). Diese Ambivalenz [...] verweist [...] auf eine für die Politik konstitutive latente Dialektik oder ›Einheit der Gegensätze‹. [...] Um dies deutlich zu machen, muss man einerseits dem Ausdruck ›Gewalt‹ [...] die Unbestimmtheit lassen, die er virtuell besitzt (z.B. in der Idee der ›revolutionären Gewalt‹ oder der ›revolutionären Rolle der Gewalt in der Geschichte‹), andererseits aber auf das fremdsprachige [deutsche] Idiom zurückgreifen, um im Sinne des frz./engl. violence auf die Betonung der ›destruktiven Seite‹ hinzuweisen (die über Sorel [...] in Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt wiederkehrt) oder im Sinne des französischen pouvoir auf die institutionelle [...] Seite (die im Aufbau der ›realsozialistischen‹ Partei-Staaten [...] tendenziell die Oberhand gewinnt).« (Balibar 2001, 1271) Traditionell spaltet Gewalt sich in die ›geistliche‹ des ›Wortes‹ und die ›weltliche‹ des ›Schwertes‹ auf. Das nähert sie der Hegemonie an.

Hegemonie zeigt sich der Gewalt nicht so sehr entgegengesetzt als vielmehr vorgesetzt. Die Wort- und Begriffsgeschichte führt in die Sphäre politisch angeordneter Gewaltausübung. Das altgriechische Wort hêgemoneuô heißt zunächst einfach vorangehen. An der Spitze seiner Krieger, die ihm folgten, marschierte oder ritt der Heerführer, Erster unter Gleichen. Allenfalls als Einzelne konnten jene von ihm mit Gewalt zum Folgen gezwungen werden, denn im Ganzen bildeten sie selbst den Apparat der Zwangsgewalt. Dieser unterschied sich von anderen und zumal späteren Apparaten dadurch, dass er zunächst überzeugt sein musste, eher er sich einsetzen ließ. So im klassischen Athen, dessen Wandlung zur Demokratie sich in eben solchen Auseinandersetzungen schubweise vollzog. Für die aristokratische Archaik geben Homers Schilderungen einen Eindruck von entsprechenden Verhältnissen zwischen den beteiligten Heerführern. Kurz, ›Hegemonie‹ taucht zuerst im Krieg als Führungsmacht auf, die Waffengewalt und Gewalttätigkeit mobilisiert, aber auch einhegt. Als Kategorie etabliert sie sich ab dem Moment, da sie auf Führungsverhältnisse zwischen politischen Gemeinwesen übertragen wird. In diesem noch immer aktuellen bündnispolitischen Sinn wurde der Begriff der Nachwelt überliefert.

Ohne Zweifel ist die Frage nach der Rolle der physischen Gewalt bei der Bildung kultureller und politischer Hegemonie von großer Bedeutung. Desto wichtiger ist der kritische Blick auf die Anlage dieser Frage und auf die bei ihrer Behandlung unterstellten Voraussetzungen. Als politisch befreiende oder gesellschaftliche Entwicklungschancen freisetzende generiert Waffengewalt massenhafte Zustimmung, so schon an der Wiege des Hegemoniebegriffs, im von Athen geführten Befreiungskrieg gegen die persische Despotie. Die Athener verspielten den Konsens, als sie aufhörten, »gleichgestellte Führer« zu sein und »dafür die Knechtung der Verbündeten« betrieben (Thukydides, III.9), als sie nämlich angesichts der Frage, ob sie »gewaltsam oder durch Verdienste um die Griechen die Vorherrschaft [hegemonía]« anstreben sollten, für den Primat der Gewalt und des Krieges optierten (Xenophon, Poroi, 5.5; zit.n. HKWM 6/I, 4).

Bereits dieser erste Auftritt zeigt, dass Gewalt im Verhältnis zu Hegemonie als konkretes Phänomen zu diskutieren ist. Progressiv-mitreißende unterscheidet sich hier von unterdrückender Gewalt. Das griechische Beispiel, in dem die männlichen Stadtstaatsbürger im waffenfähigen Alter den Militärapparat bildeten, ist zudem geeignet, wenigstens im Ansatz die Rolle von Gewalt und Hegemonie in den Geschlechterverhältnissen zu umreißen. Einen Hinweis gibt das männliche Waffenmonopol, das Übermacht gewährt. Die damit verbundene Zwangs- und Tötungsgewalt besaß zudem eine ökonomische Funktion in Gestalt der Sklavenbeschaffung. Als Vorgänger der Herrschaftsbildung in den Geschlechterverhältnissen lassen sich »Formen der Vorherrschaft in Verhältnissen der Machtteilung zwischen den Geschlechtern« annehmen (Elemente, 193). Im kollektiven Konfliktfall verfügten die Männer gegen aufbegehrende Frauen in letzter Instanz über die Macht, die aus Waffen kommt. Marx und Engels sehen in der patriarchalen Familie, »wo die Frau und die Kinder die Sklaven des Mannes sind«, als Kern »die Verfügung über fremde Arbeitskraft« (MEW 3, 32). Der späte Engels setzt hinzu: »die erste Klassenunterdrückung [fällt zusammen] mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche« (Ursprung der Familie, MEW 21, 68). In der Etablierung dieser Herrschaft sieht er die »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts« (61). Das entsprechende Gewaltverhältnis der Geschlechter tritt »namentlich bei den Griechen der [...] klassischen Zeit offen hervor« (ebd.). Das familienrechtlich bis fast in die Gegenwart weiterwirkende römische patrimonium steht dahinter kaum zurück. Es wurzelt im »eisengepanzerten Familiensystem der lateinischen Stämme« (Morgan 1877, 470; zit. ebd.). Dass diese gewaltgepanzerte und -durchsetzte Unterwerfung im großen Ganzen sich über Jahrtausende gehalten hat und von den Frauen weitgehend verinnerlicht worden ist, so dass sie aus Opfern zu Mittäterinnen ihrer Unterdrückung wurden, stellt die Hegemonietheorie auf eine Probe, die sie ohne Hilfe der Ideologietheorie nicht bestehen kann.[5] In Engels’ Sicht wurde das patriarchale Gewaltverhältnis »allmählich beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Form gekleidet« (a.a.O., 61). Das nach-paulinische Christentum reproduzierte die weibliche Unterstellung unter den Mann,[6] andererseits sind die Getauften »weder Mann noch Frau«, sondern »Eines« in Christus (Gal. 3,28), was freilich nur im sakralen Imaginären und schon gar nicht in der sakralen Praxis gilt. Im Laufe der Jahrhunderte errichtet die katholische Kirche einen der Pfeiler ihrer hegemonialen Macht dadurch, dass sie den Vollzug der Eheschließung an sich zieht und reguliert und überhaupt als Schutzherrin der Frauen deren Unterordnung zugleich erträglicher macht und im Marienkult religiös überhöht. Die bürgerliche Moderne hat in ihrer Bewusstseinsphilosophie das christliche »Weder Mann noch Frau« in ihren scheinbar geschlechtsneutralen Subjektbegriff übersetzt, so das Patriarchat durch systematische Entnennung in die Form scheinhafter Allgemeinheit gebracht und fürs hegemonisierte Geschlecht überzeugend und konsensfähig gemacht. Kurz: »Bei Dominanz (Vorherrschaft) des ›männlichen Geschlechts‹ werden die Geschlechterverhältnisse ›ideologisch‹ artikuliert, als gestufte symbolische Machtteilung, symbolische Kompensation. [...] Wo Herrschaft das Trennende über das Gemeinsame stellt (und dieses zum Gemeinen degradiert), stellt das ideologische Imaginäre kompensatorisch das Gemeinsame über das Trennende.« (Elemente, 197) An den Geschlechterverhältnissen lässt sich ablesen, dass ideologisch artikulierte Herrschaft überaus stabil sein und sich, wenn die Ideologisierung fortwährend den Veränderungen angepasst wird, über lange Zeiträume halten kann. Das Ideologische setzt bei der Subjektkonstitution an und steht, insofern das so ist, dem Subjekt nicht zu Gebote. Das Subjekt kann seine Interessen nicht ohne weiteres außerideologisch abwägen. In dem Maße, in dem die Ideologie das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt, ist sie das Unbewusste des Bewusstseins.

Generell legen bereits diese Beispiele nahe, Gewalt und um Zustimmung werbende politisch-ideologische Projekte hegemonietheoretisch als komplementärgegensätzliche Brennpunkte der Ellipse politischer Machtfundierung zu fassen. Daraus folgt wiederum die Frage nach den Dominanzverhältnissen zwischen beiden Brennpunkten, die zur Unterscheidung unmittelbarer von vermittelter, primärer von sekundärer (stützend-absichernder) Gewalt führt. Ein Primat der Gewalt in diesem Begründungsverhältnis politischer Macht deutet auf hegemoniale Schwäche eines Machtblocks, wobei dessen Stärke oder Schwäche letztlich in der mehr oder weniger für die ganze Gesellschaft wichtigen gesamtwirtschaftlich »produktiven Funktion« der hegemonialen Klasse wurzeln. »Wenn die herrschende Klasse ihre Funktion erschöpft hat, neigt der ideologische Block zum Zerfall, und auf die ›Spontaneität‹ folgt dann der ›Zwang‹, in immer weniger verhüllten und indirekten Formen bis hin zu regelrechten Polizeimaßnahmen und Staatsstreichen.« (Gefängnishefte, H. 1, §44, 102f) Sofern Gewalt und Konsens komplementär sind, rückt ihre Wechselwirkung ins Zentrum, bei der jede Seite die andere durchdringt und verrückt. Immer richtet sich dabei der Blick – mit dem von Gramsci bei der liberalen Politiktheorie entlehnten und umfunktionierten Begriff gesagt – auf die Zivilgesellschaft. Das meint nichts anderes, als dass die Gesellschaftsmitglieder in den Vordergrund treten, sofern sie in irgendeiner Form – sei es auch nur in der vagen Gestalt von Meinung und Stimmung – an politisch-gesellschaftlichen Geltungs- und Gestaltungsfragen Anteil nehmen. Der Zivilgesellschaft entstammen die Vorstellungen von Legitimität im Sinne der Richtigkeit oder Ungerechtigkeit von positivem Recht. Ihre Gerechtigkeitsvorstellungen bilden das Plasma werdenden Rechts. Gerechtigkeitsverlangen geht dem gesatzten Recht voraus. Folgt man dagegen Agamben, »dann ist der Abgrund zwischen Recht und Gerechtigkeit nicht zu überbrücken« (Assheuer 2004), und das Werden des Rechts zieht sich in den schmittschen Punkt der Entscheidung ex nihilo im Ausnahmezustand zusammen.

Am Beispiel der patriarchalen Geschlechterverhältnisse sind wir auf eine für Hegemonieverhältnisse typische Form implizierter Gewalt gestoßen, die vielfach ideologisch artikuliert und in konsensfähige ›Werte‹ eingekleidet ist. Doch nicht in diesem umfassenden Sinne soll von Gewalt im Folgenden die Rede sein, sondern im engen Sinn von violence, wie er die ›Vergewaltigung‹ bestimmt. Es geht um ›nackte‹ physische Zwangsgewalt unter dem Gesichtspunkt, welche Rolle sie bei der Bildung von Hegemonie im Sinne von einverständiger Herrschaftsunterstellung spielt.

3. Das Carl-Schmitt-Paradigma

Das wirkungsmächtigste Gegenparadigma zu Gramscis Hegemonietheorie verdichtet sich in dem Satz, mit dem Schmitt 1934 die von Hitler angeordneten Röhm-Morde gerechtfertigt hat: »Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen [...] will, [...] sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben.« (946)[7] Schmitts Staat ist der »Führerstaat« (948), »der die Kraft und den Willen hat, Freund und Feind zu unterscheiden« (950). Allgemein soll gelten: »Die spezifisch politische Unterscheidung [...] ist die Unterscheidung von Freund und Feind.« (1932, 14)[8] Diese doppelte Entscheidungsgewalt bildet für Schmitt bekanntlich den Kern von Souveränität. Legitime Macht geht hier nicht ›vom Volke aus‹ – als »derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt« –, sondern »stammt aus dem Lebensrecht des Volkes« (1934, 947). Über dieses Recht hat bei Schmitt der Führer zu richten. Als personifizierte Rechtsquelle ist er die Ausnahme von jeder Regel, der jede Regel entspringt.

Auf Schmitts Beantwortung einer von seinem absolutistischen Staatsführer dezisionistisch[9] identifizierten »Gefahr« antwortet um 1940[10] Walter Benjamins VIII. These »Über den Begriff der Geschichte«: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist.« Dieser Einsicht soll der Geschichtsbegriff angemessen werden. »Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen«. Dieser besteht darin, die Möglichkeit des schmittschen Ausnahmezustands aufzuheben – und zwar vom gesellschaftlichen Grund auf. Nun ist es nicht mehr das von der Staatsführung beurteilte »Lebensrecht des Volkes«, sondern das Volk selbst, und zwar nicht mehr der ideologisch überhöhte Ausdruck des Volkes, sondern das in dessen Zeichen enteignete »historische Subjekt« selbst, das sich als einzig legitime Rechtsquelle weiß, weil verwirklicht. Auch die Gefahr ist bei Benjamin der schmittschen entgegengesetzt. Wo sie bei Schmitt jede Bedrohung der Herrschaft meint, besteht sie für Benjamin darin, »sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben« (VI). Dagegen: »Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst [...], die das Werk der Befreiung im Namen Generationen Geschlagener zu Ende führt.« Allerdings fängt schon im folgenden Satz, das entsprechende Bewusstsein sei einzig »für kurze Zeit im ›Spartacus‹ noch einmal zur Geltung gekommen« (XII), diese Bestimmung an, statt eine empirische Existenz auszudrücken, zum Gedankending zu verblassen.

4. Agambens neue Große Erzählung

Den Boden, auf dem die Saat Carl Schmitts, nach links legitimiert durch den vormarxistischen Benjamin, neuerlich aufgeht, bietet der von Jan Rehmann untersuchte »postmoderne Links-Nietzscheanismus« im Umkreis von Deleuze und Foucault. Aktueller Besteller dieses Bodens und Lieferant seiner Früchte – allerdings in genmanipulierter Form – ist der italienische Benjamin-Herausgeber Giorgio Agamben.[11] Von Foucault übernimmt und reprogrammiert er die Mythisierung der Macht[12] und das Konzept der »Biopolitik«[13] von Schmitt die Perspektivierung auf den Ausnahmezustand.[14] Spinozas potentia agendi vel cogitandi, die menschliche Handlungs- und Denkfähigkeit, hat bereits Foucault mit Nietzsches herrschaftsverliebtem Willen zur Macht amalgamiert und auf eine Weise überwältigt, die es nicht mehr erlaubt, »zwischen einer kooperativen Handlungsmacht von unten und einer Herrschaftsmacht von oben [... zu] differenzieren« (Rehmann 2004, 120). Die vielfältigen Formen konkreten Machenkönnens schmelzen zusammen im Mythos der MACHT als solcher. Deren Wirken erscheint nun als so etwas wie der Blutkreislauf von Gesellschaften. DIE MACHT ist allgegenwärtig, und alles nährt sich von ihr.

Wie Agamben solche Ideen in seine Geschichtsphilosophie einpasst, nimmt hinter einer Fassade von Kontinuität Züge einer feindlichen Übernahme an. Wo Foucault seine Thesen in historischer Untersuchung entwickelt, löst Agamben sie von dieser Herkunft ab und verwandelt sie in spekulative Setzungen. Um ABSOLUTE MACHT vorzustellen, führt er die Gestalt ABSOLUTER OHNMACHT ein. Er zitiert sie als Extremfall des KZ-Insassen, der sich völlig aufgegeben hat (vgl. 2003, 75). Von diesem Messpunkt aus führt er den Idealtypus des »nackten Lebens« ein. Schmitts dezisionistische Freund/Feind-Unterscheidung, die willkürliche Lizenz der ›souveränen Macht‹ zum Töten bzw. Tötenlassen, übersetzt er in »diejenige von nacktem Leben/politischer Existenz« (2002, 18). »Nacktes Leben« ist das, was man retten kann, wenn man alles, auch jeden Rechtsschutz, verloren hat und auf ein Tötbares reduziert ist. Damit meint Agamben, das Geheimnis aller Herrschaft (»arcanum imperii«) als ein archimedisches Außerhalb gefunden zu haben, von dem aus sich das gesamte Selbstverständnis der parlamentarischen Demokratie und ihrer rechtlichen Einhegung und Begrenzung der Staatsgewalt aus den Angeln heben lässt. Die ultima ratio von Notstand und Kriegsrecht macht er zur prima ratio eines gründenden Prinzips. »Der Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfasst wurde, schuf gerade in seiner Abgetrenntheit das verborgene Fundament, auf dem das ganze politische System ruhte.« (19) Im selben Aufwasch, mit dem er hierdurch aller liberalen Demokratietheorie und Philosophie der Zivilgesellschaft den Garaus macht, bringt er auch die Perspektive ihrer Auf- und Höherhebung durch Überwindung der Klassengesellschaft zum Erlöschen, zumal Marx, der Theoretiker dieser Perspektive, in Agambens Lesart jenen Urzusammenhang »nicht einmal erahnt« (22). Doch es verhält sich umgekehrt. Es ist Agamben, der mit seinem Ursprungsmythos politisch-gesellschaftliche Ahnungslosigkeit sät. »Die Reduktion der von der souveränen Macht Überwältigten auf ein ›bloßes Leben‹ durch einen der ›abendländischen Kultur‹ zutiefst verpflichteten, diese auf jeder Seite seiner Schriften ostentativ ausbreitenden Intellektuellen, ist als Infamie einer politischen Theorie der Gegenwart zu bezeichnen.« (Bogdal 2008, 24)

Indem Agamben die Herrschaftsmacht zugleich entnennt und totalisiert, entleert er die Praxisperspektive progressiver Kritik insgesamt. Alle existierenden Alternativpolitiken sollen als nichtig erkannt werden. Er vertröstet mit dem Hinweis auf ein Ganz Anderes in Gestalt »jener neuen Politik [...], die im wesentlichen noch zu erfinden bleibt«. Alle existierenden emanzipatorischen Politiken erklärt er dagegen kurzerhand zu Derivaten des Ausnahmezustands und dessen Reduktion von Menschen auf »nacktes Leben«. »Doch solange keine völlig neue – das heißt nicht mehr auf die exceptio des nackten Lebens gegründete – Politik da ist, wird jede Theorie und jede Praxis in einer Sackgasse stecken bleiben« (21). Die Wiederholung der These ersetzt den Beweis.

In diesem totalisierenden Diskurs übers Totalitäre, der marxistische Kapitalismuskritik kritisch zu übertreffen meint, herrscht durchweg der mythische Singular von Wesensganzheiten. Mythischer Singular und falsche Totalisierung stecken unter einer Decke. Doch DIE GEWALT gibt es so wenig wie DIE MACHT. Konkret haben wir es mit Antagonismen im Plural zu tun, mit Differenzen, Gegensätzen oder Widersprüchen der Mächte und Gewalten. Ohne konkrete Analyse der konkreten Situation verliert kritische Theorie ihre »lebendige Seele« (Lenin).

Agamben folgend, wäre der Maßstab zur Beurteilung der Gegenwart dem »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) zu entlehnen. Zunächst wäre es die Inkubationszeit des Faschismus, die beginnenden 1920er Jahre in Europa, aus denen der vormarxistische Benjamin und Schmitt ihre Gedanken von der Außerrechtlichkeit der rechtsetzenden Gewalt geschöpft haben, der erste mystisch-revolutionär, der zweite konterrevolutionär und antiparlamentarisch-absolutistisch.[15] Agamben erhebt Benjamins »Bloßlegung der irreduziblen Verknüpfung von Gewalt und Recht« zur »notwendigen Vorbedingung jeder Untersuchung über die Souveränität«, mit dem einzigen »Mangel«, dass »die souveräne Gewalt und der Ausnahmezustand, welche die Politische Theologie begründet«, in Benjamins Kritik der Gewalt »nicht vor[kommen]« (2002, 74f). Er übergeht, dass Benjamins »Theologisch-politisches Fragment« aus derselben Zeit nahe bei Ernst Bloch angesiedelt[16] und diametral jeder politischen Theologie à la Schmitt entgegengesetzt ist. Dieser Zug kann hier nicht weiter verfolgt werden (vgl. dazu Haug 2001). Nur soviel: Bereits für den vormarxistischen Benjamin kommt als Generalnenner aller Ansprüche, die an Politik zu stellen sind, einzig dieser in Frage: »Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee des Glücks.« (GS II.1, 203) Nicht die Verhängung des Todes, nicht die Scheidung in Freund und Feind, sondern der Unterschied von Glück und Unglück ist der Angelpunkt dieses Begriffs des Politischen.

Die zweite Periode, die den Maßstab liefern soll, ist die des vom triumphierenden Nazismus mit dem – durch den Hitler-Stalin-Pakt abgesicherten – Überfall auf Polen eröffneten Zweiten Weltkriegs. Der zeitenthobene Gebrauch, den Agamben von Benjamins Thesen macht, verlangt hier erst recht den Blick auf deren Zeitgebundenheit. In der Kritik der Gewalt schwingen noch Weltkrieg und Revolution nach; die Geschichtsthesen sind das Werk des politischen Flüchtlings angesichts des Nazismus und seiner Rassengesetze zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Auf die Welt Merkels und Obamas oder selbst aufs Italien Berlusconis übertragen, werden Benjamins Thesen absurd.[17] Bei Benjamin ist es der Nazismus, nicht, wie bei Agamben, der liberale Rechtsstaat einer parlamentarischen Demokratie, dem gegenüber »unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands« war. Auch bestimmt der Fortschrittsglaube, jener andere Kontext der damaligen Zeit, gegen die Benjamin anschreibt, nicht mehr eine sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Eher dominieren Krisensorgen und ökologische Katastrophenvisionen den Zeitgeist. »Dort, wo vor nicht allzu langer Zeit einmal die politischen Farben rot, grün und das anarchistische Schwarz zu sehen waren, herrscht das graue Grauen vor, das nun [bei Agamben] zumindest seinen Ausdruck gefunden hat.« (Bogdal 2008, 25) Benjamins These, dass in jeder Epoche versucht werden muss, »die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen« (VI), gilt angesichts dessen akut für den historischen Materialisten Benjamin selbst, dessen Marxismus anscheinend unablässig getilgt wird.[18] Die Stelle, an der das Geschichtsbild des Historismus vom historischen Materialismus zu »durchschlagen« ist, ist nach seiner Einsicht die jeweilige Gegenwart. Man muss sich klarmachen, dass »der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben«, den Benjamin in distanzierende Anführungszeichen[19] setzt und den die »Tradition der Unterdrückten« als die Regel zeigt, in irgendeinem realen Sinn nicht der Zustand ist, in dem zumindest wir Europäer heute leben. Ihren realen Sinn erhielt Benjamins These vom historischen Faschismus mitsamt seiner deutschen Extremform des Nazismus, die zu Weltkrieg und Judenvernichtung ansetzte, nachdem sie die Arbeiterbewegung zerschlagen hatte. Für Agamben sind diese Bezüge rhetorische Zitate. Sie sollen dem Spenglerton[20] seiner »Verhängniserzählung welthistorischen Ausmaßes« (Marchart 2010, 223) etwas benjaminsche Autorität und Glaubwürdigkeit übertragen. Bedenkenlos pflückt er sie vom historischen Ernstfall ab, um seine Kulturkritik zu würzen. Die Vorstellung des messianischen Ausnahmezustands, der den Herrschenden das Heft aus der Hand nehmen würde, wird zum wurzellosen Zitat ohne Tiefe und Ernst. Das ist nicht das Zitat à l’ordre du jour, an dem den sich Befreienden das Versprechen der Erlösung aufblitzt und um das es Benjamin zu tun ist. Um herauszufinden, wo und wie Benjamins Thesen mit der Gegenwart zusammentreten, wäre nach der Gestalt zu fragen, die gegenwärtig der »Triumphzug« annimmt, »der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen« (These VII). Zu bedenken wäre, ob die »nicht ohne Grauen zu bedenkende« »Abkunft« heute nicht nur eine der tradierten »Kulturgüter« ist, sondern zunächst eine der arbeitsintensiven, in »namenloser Fron« (VII) geschaffenen Massenwaren der Gegenwart und vieler der Bodenschätze und Landwirtschaftsprodukte, von denen unser stofflicher Reichtum zehrt. Schließlich die schwierigste aller Fragen, welche »Sonne [...] am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist« (IV)...

5. Zeliks Anwendung des Agamben-Paradigmas auf kolumbianische Gewalt- und Hegemonie-Verhältnisse

»Produktion der Leiche ist, vom Tode her betrachtet, das Leben.«
Benjamin, Trauerspiel, 246

In Kolumbien hat der vom Rauschgifthandel[21] überdeterminierte Bürgerkrieg, der in der extrem ungleichen Landverteilung und in der gewaltsamen Vertreibung von Kleinbauern von ihrem angestammten Grund und Boden[22] wurzelt – einer aktuellen Fortsetzung der von Marx analysierten »sogenannten ursprünglichen Akkumulation« –, die Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und Hegemonie auf eine Weise zugespitzt, die auf einen Primat der Gewalt deutet. Eben diesen Primat verallgemeinert Raul Zelik u.a. mit Denkmitteln Agambens als untergründige Wahrheit aller gegenwärtigen politischen Systeme. Was jenem das nazistische Konzentrationslager,[23] ist ihm das grauenhafte Massaker von Mapiripán. Seine These besagt, nackte Gewalt schaffe Hegemonie. In der Tat ist die klassenübergreifende Zustimmung zu Uribe und das Hegemonieverhältnis, das darin zum Ausdruck kommt, nicht leicht zu verstehen. Zudem ist es angebracht, »Konsens und kulturelle Hegemonie stärker als Ergebnis eines unbewussten kollektiven Zustands, als Resultat von Ängsten, Traumata, Vorahnungen und allgemein von herrschaftlicher Gewalt zu diskutieren« (Zelik). Indes erfolgt die »politische Wirkung der Angst« nicht unmittelbar, sondern Folterwirkungen können sich zur posttraumatischen Unmittelbarkeit unbedingter Reflexe steigern, also das Bewusstsein umgehen. Doch dächte man nach diesem psychiatrischen Muster die Wirkungen auf ganze Bevölkerungen, dazu wie Zelik über »Zeit- und Raumhorizonte« hinweg, ließe man Analyse und Politik traumatisch erstarren. Der Protest gegen Herrschaftsgewalt schlüge hinterrücks um in die Propagierung vorauseilenden Gehorsams. Zeliks These gilt es zu hinterfragen. Die Analyse der kolumbianischen Verhältnisse kann dabei nicht geleistet werden, und schon gar nicht soll der Eindruck erweckt werden, Zelik als intimer Kenner des Landes solle über dieses belehrt werden. Wohl aber sollen die theoretischen Verallgemeinerungen, die über diesen Fall hinausgehende Ansprüche stellen, einer Kritik unterzogen werden.

Agambens mythischer Singular beherrscht zwar nicht Zeliks gesamten Text, wohl aber dessen Gesamtduktus. Wo bei ihm DIE BEVÖLKERUNG auftaucht, scheint es, sie stünde in homogener Kompaktheit DER HERRSCHAFT bzw. DER GEWALT gegenüber. Daneben differenziert er wenigstens ansatzweise nach Klassen, Interessen und Mentalitäten. Wo immer jedoch die klassenmäßige Entdifferenzierung den Ton angibt und alle Gegensätze herauszieht, wird alles falsch. Selbst Subjektivität versetzt dieser Diskurs in den mythischen Singular und verschluckt damit das fortdauernde Sich-Arrangieren, das Aushandeln des modus vivendi, die beweglichen Widersprüche im Umgang mit Widersprüchen. Analoges gilt für die Frage nach der Hegemonie. Es gibt nicht bloß den »herrschenden Block« auf der einen und alle anderen auf der anderen Seite. Soziale Herrschaft, wie vom Grundbesitz und vom Kapital ausgeübt, fällt nicht mit Regierungsmacht oder politischer Macht zusammen. Das hat keiner so scharf gesehen wie Schmitts Kronzeuge Hobbes. Den Machtabtretungsvertrag, aus dem er den Staat hervorgehen lässt, führt er auf die Sorge ums Eigentum als der Grundlage sozialer Herrschaft zurück. Sein Staat und seine Gewalt können mithin nicht total sein. Tasten sie das Eigentum insgesamt an – dessen Schutz durch den Staat diesen allerdings Geld kostet, das die Privateigentümer füglich in Form von Steuern zu erbringen haben[24] –, entfällt die ›Vertragsgrundlage‹, auf der sie beruhen. Andererseits kommen Eigentumslose für Hobbes als politische Subjekte nicht in Betracht, da staatlicher Eigentumsschutz der Grund für die besitzenden Klassen ist, ihre Macht an den Staat abzutreten. Der Staat hat in dieser Konzeption keinen Zutritt zum Eigentum, und die Eigentümer verzichten im Gegenzug auf den Zutritt zur politischen Macht. Das ändert sich mit der »Glorious Revolution«, in der die konsolidierte Eigentümergesellschaft den Absolutismus abschüttelt, ihren liberalen Staat zur Welt und mit Locke die bis in die Gegenwart virulente Theorie liberaler Politik zur Geltung bringt. Damit beginnt in England das eigentliche Zeitalter bürgerlicher Hegemoniepolitik, bei dem die ›Klubgesellschaft‹ der sozial Herrschenden das Sagen hat, während auf dem europäischen Kontinent die Kämpfe zwischen dem gesellschaftlich an die Kandare genommenen und dem die Gesellschaft an die Kandare nehmenden Staat noch bis in die Gegenwart hin- und herwogen. Die Epoche des Faschismus, in der Benjamin und Gramsci ihre Theorien ausbilden und der sie zum Opfer fallen, während Schmitt nach der Niederlage des Nazismus zwar seine Professur verliert, aber erst Jahrzehnte später als steinalter Mann hochgeehrt sterben wird, ist die der Wiederkehr des hobbesschen absoluten, gleichwohl ans bürgerliche Eigentum gebundenen Staates. Er formiert sich in der Konfrontation mit dem sozialrevolutionären Staat im Osten, der das bürgerliche Eigentum aufhebt und die Ökonomie zu seiner Aufgabe macht.

Eine wesentliche Einsicht, die Gramsci im faschistischen Gefängnis im Rahmen seiner Hegemonietheorie gewinnt, ist die Notwendigkeit des hegemonialen Opfers. Zur Erlangung von Hegemoniefähigkeit ist demnach einer herrschenden Gruppe ein »›Opfer‹ abverlangt, um andere Klassen, Schichten und Gruppen ›mitnehmen‹ zu können, indem sie ihnen Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Hegemonie im vollen Umfang verdankt sich also nicht bloßer Überredung, und auch ›kulturelle Hegemonie‹ ist nicht bloß kulturell, sondern muss irgendeine faktisch-gegebene oder zumindest objektiv-mögliche Grundlage in der Produktionssphäre haben« (HKWM 6/I, 15; vgl. Gramsci, H. 13, §13). Gramsci unterscheidet das hegemoniale Gruppensubjekt von seiner Klassenbasis und seinen näheren oder ferneren Verbündeten oder zumindest Einbindbaren. Den beiden letztgenannten Gruppen schuldet die herrschende Kerngruppe das hegemoniale Opfer, durch das »den Interessen und Tendenzen der Gruppierungen, über welche die Hegemonie ausgeübt werden soll, Rechnung getragen wird, dass sich ein gewisses Gleichgewicht des Kompromisses herausbildet«; daher scheint es zwar »ungereimt« und ist dennoch unabdingbar, »das konkrete Stellen der Hegemoniefrage als etwas zu interpretieren, das die hegemoniale Gruppe unterordnet«, wobei allerdings ihre ökonomische Basis unangetastet bleibt (H. 12, §18, 1567). Die ›Feinde‹ dagegen verfallen der Repression. Diese Partialität der Repression, die Zelik im Widerspruch zu seiner Generalthese treffend als »Klassenterrorismus« bezeichnet,[25] hält den Block an der Macht zusammen und grundiert seine hegemoniale Ausstrahlung.

Zelik blendet das differenzierte Hegemonialgeflecht weitgehend aus, um angesichts des para/militärischen Schreckensregimes in Kolumbien[26] und der von ihm ausstrahlenden Lähmung von Widerstandsgeist die Hegemonie unmittelbar aus der Gewalt herzuleiten. Als hätte er Schumpeters ökonomischen Begriff der schöpferischen Zerstörung im Sinn, übersteigt er Foucaults These vom produktiven Charakter der MACHT und erklärt die Zerstörung gesellschaftlich widerständiger Handlungsfähigkeit zur schöpferischen Produktion. »Der Terror [...] erweist sich als schöpferisch.« Nur weil, wie Marx sagt, »jede Aktion doch irgend etwas agiert«, ist sie noch lange nicht schöpferisch oder ist ihr »Produkt [...] in seinem natürlichen [...] Sinn« auch Produkt im ökonomischen oder geschichtlichen Sinn (vgl. MEW 42, 198f).[27] Ebenso könnte man den Abwurf einer Atombombe schöpferisch nennen, weil er eine nukleare Wüste schafft oder im Falle der Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki die japanische Bereitschaft zur bedingungslosen Kapitulation beschleunigte. Menschen durch Folter oder Verstümmelung das Rückgrat zu brechen erschafft nichts, sondern vernichtet. Durch die ›Produktion‹ von menschlichen Ruinen, wo nicht kurzerhand Leichen, ›schafft‹ die nackte Gewalt Herrschaftshindernisse aus dem Weg. Als »schöpferischer« Akt beschrieben, wird noch das Bestialische geadelt. Die Kritik selbst bleibt davon nicht unberührt. Sie schlägt um in Antizipation des Untergangs oder Mimesis ans Tote. Vom Standpunkt der auf Liquidierung allen Widerstands gerichteten extremen und demonstrativen Gewaltraserei mag diese als schöpferischer Akt erscheinen, weil sie die tatsächlich oder potenziell Betroffenen physisch ausschaltet und durch den spektakulären Charakter des Zu-Tode-Quälens bei den Übrigen panische Passivierung und Untertauchen in Subalternität bewirkt. Vom Standpunkt des gedachten Ausnahmezustands erscheint alle Hegemonie gleichsam nur auf Pump, das Morden und Foltern als Produktion. In dieser Lesart entspringt Konsens unmittelbar dem repressiv ausgetragenen Dissens, und Souveränität zieht sich in absolute Gewaltkompetenz zusammen. Damit ist die Begriffsbildung vorentschieden. Der Realität bleibt die Aufgabe, das Vor-Urteil zu illustrieren.

Von Anfang an blendet Zelik unter der Hand und anonym Carl Schmitts Perspektive in Gestalt der »›harten‹, untersagenden, souveränen Herrschaftsformen« ein. Er bedenkt nicht, dass bei Schmitt bereits im Ansatz der populare Souveränitätsbegriff ausgeschaltet und Volkssouveränität als »konstituierende Macht« von unten undenkbar ist. Überdies ist die Rede von »harten, untersagenden Herrschaftsformen« ein Euphemismus, denkt man an die bestialischen Folter- und Massakerszenen, die das Herzstück von Zeliks Ausführungen und den Fluchtpunkt seiner Thesen bilden. Wie bei Agamben soll ein Extrembeispiel einer allgemeinen These Evidenz verschaffen. Doch von diesem Ausgangspunkt gerät man in einen ideologischen Spiegelsaal, der einem von allen Seiten den vorausgesetzten Nullpunkt als scheinbares Resultat der Untersuchung zurückwirft. Indem im Spiel der mythischen Abstraktionen alles Recht aus der Gewaltsphäre jenseits allen Rechts abgeleitet wird, verschwindet eine in Wirklichkeit unhintergehbare geschichtliche Rechtsquelle aus dem Gesichtskreis. Denn seit Urzeiten ist es die »antagonistische Reklamation« von Gerechtigkeit, die in die Setzung von Recht mündet und in der dessen unaufhebbarer Kompromisscharakter gründet (Haug, Elemente, 77ff). Diese Übereinkunft stellt, anders als der politische Kompromiss, den der Benjamin der Kritik der Gewalt unterm Einfluss von Sorel einzig im Auge hat, eine ideologische Verdichtung dar, die gleichsam die Sprache selbst, nicht nur das Reden der Verhandelnden verändert und die »widersprüchliche Leistung der ideologischen Unterwerfung in der Form der Selbsttätigkeit ermöglicht« (62).[28] »Verschiebung der Kämpfe auf die ideologische Ebene [...] ist der Preis, den eine Unterwerfung, die über Selbsttätigkeit der Unterworfenen fungieren soll, unweigerlich bezahlen muss« (64). Seit den Anfängen der geschriebenen Geschichte finden sich die Zeugnisse dessen, klassisch in den institutiones, dem bis in die Gegenwart weiterwirkenden römischen Recht. Wo, wie in der deutschen Geschichte, der Kompromiss zumeist von der herrschenden Seite dominiert war, nimmt er die Form an, die Gramsci unter dem Namen der »passiven Revolution« analysiert hat. Dem positivistischen Blick entgeht der substanzielle Rechtsgrund, weil er selber nichts »was vorliegt (positum)« ist (vgl. Brentano 1966, 493; 2010, 341). Er ist gleichwohl nicht weniger substanziell als die von Hegel begriffene »substanzielle Sittlichkeit«, ohne die eine Gesellschaft keinen Bestand hätte. Dass etwa das vom Volksaufstand von 1848 getragene Paulskirchen-Parlament versucht hat, Recht ›von unten‹ bzw. aus gesellschaftlichem Konsens heraus zu setzen, ist in der von Schmitt sich herleitenden Begriffsbildung undenkbar. Der historischen Niederlage folgt damit gleichsam die begriffliche Auslöschung. Jener revolutionäre Akt erfolgte außerhalb des früher und von oben gesetzten positiven Rechts, doch erfolgte er im Horizont einer epochal hegemonialen Rechtsidee, die keine andere Souveränitätsquelle als die Bevölkerung selbst anerkennt und für die, wie immer vermittelt und verwässert, »alle Macht vom Volke« ausgehen muss, um legitim zu sein. Indem nun in der Schmitt-Linie der mit Gegengewalt geführte Kampf um demokratische Grundrechte mit Hitlers Pseudo- Rechtsetzung durch nackte Gewalt auf die gleiche Stufe gestellt wird, avanciert Gewalt zum überall einsetzbaren Phantasma. Mit seiner Totalisierung übernimmt dieses Phantasma das Regiment im links anhebenden Diskurs. Es ist, als passte in der zurechtgemachten Genealogie Schmitt-Benjamin die Vernunft sich vorbeugend dem an, was sie überwältigt.

Der demonstrative Exzess nackter Gewalt seitens der Herrschenden bezeugt indes das Gegenteil ihrer Hegemonie. Dass sie ihren Gewaltapparat zum Extrem greifen lassen, entspringt ihrem Hegemonieverlust. Alles andere als ›total‹, verfährt ihre exzessive Gewalt selektiv nach Klassen. Mehr noch, auch im Blick auf die für bestimmte Herrschafts- und Profitinteressen ›gefährlichen‹ Klassen schlägt sie gegen ausgewählte Individuen[29] zu, um Schrecken in die Herzen der übrigen zu säen – pars pro toto. Wäre die Gewaltherrschaft so total wie behauptet, würde sie den allgemeinen Aufstand auslösen. Doch in Wirklichkeit schlägt sie partiell zu. Sie dient den Interessen bestimmter Klassen und natürlich bestimmter Teile der Gewaltapparate. Das terroristische Bauernlegen etwa schafft für die auf den Weltmarkt hin orientierten agrarkapitalistischen Interessen der »inneren Bourgeoisie« (Poulantzas) die riesigen Plantagen für Ölpalmen, die dem Weltmarkt den Rohstoff für Biodiesel, Margarine u.a.m. liefern sollen. Eine Reihe anderer Interessen lässt der staatliche und halbstaatliche Terrorismus ungeschoren, solange sie ihm nicht direkt in die Quere kommen. Den kritischen Geistern unter diesen Ausgesparten bietet sich die innere Emigration an. Wie Herr Egge in Brechts Keunergeschichten[30] wandern sie transitorisch aus der Geschichte aus. Sie behalten ihre eigene Meinung, aber behalten sie für sich. Durch den in der Kriegszeit unterm Nazismus überall angebrachten Spruch »Vorsicht, Feind hört mit!« schien die Wahrheit durch, dass diejenigen, die ihn angebracht hatten, der Feind des offenen Worts waren. »Pass bloß auf, was Du sagst! Wir hören überall mit.« Die kleinen Geschäftsleute sind eh geübt darin, sich mit eigenen Meinungen gegenüber ihren Kunden zurückzuhalten oder diesen nach dem Mund zu reden. Andere kleinkapitalistische Schichten mögen Verwertungssicherheit gegen Politikverzicht eintauschen. Während die Egges den Mund halten, üben die andern sich in Lippenbekenntnissen. Wie von Hobbes beschrieben, treten nun fides und confessio, Überzeugung und öffentliche Bekundung auseinander, was für Gewaltherrscher auf Dauer nicht ungefährlich ist. Gerade dadurch also, dass der Terror differenziert und nur partiell operiert, kann es vom Standpunkt der fertigen Phänomene so aussehen, als wirkte er total.

Den vom Schrecken direkt Bedrohten bietet sich die Flucht von Haus und Hof als Weg aus der unmittelbaren Gefahr. Auch aus der weiteren Gruppe der vom Schrecken nur Hörenden fliehen viele vorbeugend aus dem Trauma. Die bleiben, richten sich in der Subalternität ein, vergleichbar mit der »Bedientenhaftigkeit«, von der Engels gesagt hat, sie sei »aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Kriegs in das nationale Bewusstsein« der Deutschen gedrungen (MEW 20, 171). Verinnerlichte Subalternität und politische Passivität oder Apathie müssen vom Standpunkt der Persönlichkeitsentwicklung als defiziente Subjektionsmodi begriffen werden. Ihre Introjektion folgt aus keiner Ideologie, aus keinem Hegemonie erstrebenden Projekt, sondern aus Vorsicht; Furcht oder panische Angst treiben die Subjekte in die Entselbstung unterm Schirm der herrschenden Ideologie. Die innerlich Ungebrochenen dagegen beschränken sich aufs Opportune, bis auf Weiteres offene Kritik zu meiden und sich von Widerstandsaktivisten fernzuhalten. Doch auf Dauer ist auf ihr Stillhalten kein Verlass.

Zelik sieht, dass »die Erzählungen des Schreckens [...] wirkungsvoller als die Gewalttaten selbst« sein können. Gesellschaftliche Wirkung verlangt Ausstrahlung. Doch er denkt sich diese als Einbahnstraße, als garantierte Teleologie des Terrors. In Wirklichkeit können solche Erzählungen oder Gerüchte im weiteren gesellschaftlichen Rahmen, der sich vom Gewaltapparat nicht so leicht wie ein Dorf kontrollieren lässt, ebenso aktivierend wie passivierend wirken. Dann schlägt Lähmung um in Erhebung. Zelik nähert sich der Erkenntnis der Instabilität und unaufhebbaren Widersprüchlichkeit der terroristischen Gräuelpropaganda der Tat, wo er diese Ambivalenz durch totale Kontrolle für ausgeschaltet hält. Er stellt fest, dass im Bürgerkrieg »der militärische Sieg zweitrangig [ist]. Entscheidender [...] sind die Kontrolle der Bevölkerung, die Beeinflussung der öffentlichen Meinung und politisch-ideologische Stimmungen.« (A.a.O.) Seiner These nach müsste der militärisch-staatsterroristisch erreichte Sieg diese totale Kontrolle und Beeinflussung erreichen, was Zelik indes gerade ausschließt. Aus seiner Beobachtung über den Sieg im Bürgerkrieg lässt sich eine Konsequenz ziehen, die seine gesamte Argumentation aufzuheben geeignet ist: Die Gewalt allein gewährt nicht die Hegemonie; die Hegemonie trägt, rahmt und vollendet das Werk der Gewalt. Verliert Gewaltmacht diese ihre komplementär-gegensätzliche Stütze, untergräbt sie ihre Grundlage. Anders ließe sich die historisch beispiellose Aufbruchsstimmung Lateinamerikas hin zu einer gerechteren Gesellschaft nicht begreifen.[31]

6. Ist das Lernen aus Niederlagen als Gewaltgeschöpf zu verstehen?

Die mexikanischen Zapatisten gingen vom Scheitern der lateinamerikanischen Aufstandsbewegungen aus. Sie sahen, wie das Militärische das Politische verschlungen hatte. Diese Dimension und zumal die Rolle der FARC bleiben bei Zelik durchweg unbelichtet. Dass Millionen die Entführungen satt haben, erklärt er für ein Produkt der Repressionsgewalt, ohne das Moment der massenhaften Gewaltablehnung zu sehen. Hätten die FARC gesellschaftsweite Hegemonie, wäre der Repression kurze Dauer beschieden. Auch mit Kettensägen lässt ein Volk sich nicht auf Dauer zum Kuschen bringen. Wenn aber eine Mehrheit in der Fortsetzung des bereits viele Jahre währenden Bürgerkriegs nur die Verlängerung der Übel sieht, kann man ihr nicht unterstellen, dass sie dies aus gewaltgenerierter Subalternität tut. Sollte sie es aber (zumindest auch) deshalb tun, weil sie sich von den FARC nichts oder nichts mehr für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände verspricht, müsste das, was einmal als Befreiungsbewegung begonnen hat, als gescheitert gelten. In Einschätzung der Kräfteverhältnisse im bewaffneten Kampf und angesichts der Aktivitäten der Aufstandsbewegung und deren Auswirkungen auf das Leben der Bevölkerung wäre deren Projekt dyshegemonial geworden. Ihr Weg würde in den Augen vieler ihrer potenziellen Adressaten zu nichts führen. Wie an der Geschichte des europäischen Staatssozialismus ablesbar ist, kann eine einst hegemoniefähige Politik durch die längerfristige Erfahrung mit ihr zuerst ihre hegemoniale Ausstrahlung verlieren und dann, weil die große Mehrheit ihrer Folgen überdrüssig ist, dyshegemonial werden.

Faktoren wie Enttäuschung und Entmutigung spielen jedenfalls eine entscheidende Rolle bei der Reaktion auf den Staatsterrorismus. Im Verein mit der Wahrnehmung gegnerischer Übermacht können sie zu einer Resignation führen, die sich als passive Hegemonie beschreiben lässt. Doch dass ehemalige oder potenzielle Anhänger des Aufstands von diesem enttäuscht sind,[32] lässt sich nicht allein und wohl nicht einmal vor allem auf die para/militärische Schreckensherrschaft über die Kleinbauern zurückführen, auch wenn deren Ausstrahlung sie verstärken kann. Entscheidend ist der Unterschied zwischen hegemoniefähiger und dyshegemonialer Politik. Genau diese fundamental wichtige Unterscheidung ist nun aber vom Standpunkt der absoluten und totalen GEWALT ebenso irrelevant, wie die Zivilgesellschaft als ganze es ist. Das Paradoxe daran ist, dass dies für die Vollzieher der Extremgewalt in gewisser Weise ebenso gilt wie für die spekulativ totalisierende Kritik, wenn auch mit umgekehrtem Resultat. Kraft einer passiven Dialektik untergräbt nackte Gewalt die Herrschaft, der sie dient, während die Kritik, indem sie sich der nackten Gewalt anmisst und deren Entdifferenzierung übernimmt, in Affirmation umschlägt.

Kritik verliert sich, wenn sie ihre möglichen Subjekte verliert. Dass gesellschaftliche Kräfte aus traumatischen Niederlagen Konsequenzen ziehen, erscheint im Banne der abstrakt-totalisierenden Kritik nicht als ihr Werk und Lernprozess, sondern eben als »Produktion« des Terrors. Als Beleg gelten Zelik die angeblich vom Pinochet-Putsch bewirkte Abkehr der westeuropäischen Kommunistischen Parteien von der Orientierung auf die Diktatur des Proletariats. Berlinguers Strategiewechsel hin zum »historischen Kompromiss«, »um in Italien, wo sich die Möglichkeit einer Veränderung der Machtverhältnisse zugunsten der Linken abzeichnete, einen reaktionären Gegenschlag zu verhindern« (Deppe 2004, 311), als Geschöpf des Pinochetismus zu interpretieren, würde die für die Hegemonietheorie konstitutive Akteursperspektive eliminieren. Denn nach Hegemonie fragen, heißt nach Politik fragen. Damit rücken politische Kräfte in den Gesichtskreis. Auch wenn deren Projekte den objektiven Bedingungen und Kräfteverhältnissen Rechnung tragen müssen, ist es offensichtlich ein objektivistischer Kurzschluss, die politischen Akteure, ihre Situationsanalysen und Linienkämpfe zu übergehen[33] und die Bedingungen und Kräfteverhältnisse gleichsam direkt sprechen zu lassen.

Auch Langzeitwirkungen von Diktaturen kennt Zelik einzig als lähmend traumatische, in denen die tatsächlichen oder möglichen Objekte des Terrors ihren eigenen Willen aufgeben. Nicht anders erklärt er die häufig zu beobachtende Tatsache, dass Kämpfe nach dem Ende einer sie unterdrückenden Gewaltherrschaft nicht einfach in der vormaligen Form weitergekämpft werden. Damit schaltet er in der Theorie widerständige Subjekte und ihre Praxis auf eine Weise aus, wie es die Gewalt in der Wirklichkeit nicht vermöchte. Eine angesichts der Verhältnisse vollzogene strategische Wendung etwa, wie sie Gramsci mit seiner im faschistischen Gefängnis ausgegebenen Orientierung auf eine verfassungsgebende Versammlung vollzogen hat – statt an die Betriebsbesetzungen der unmittelbaren Nachkriegszeit anzuknüpfen oder zu antifaschistischen Rachefeldzügen aufzurufen –, ist kein Geschöpf des faschistischen Terrors, sondern eines des Widerstands, der dazugelernt hat. Zelik beansprucht, auch die Langzeitwirkungen des Nazismus in Deutschland mit seinen Konzepten zu fassen, wenngleich er das nicht durchführt, sondern sich mit der Behauptung zufrieden gibt: »Vieles, was die deutsche Gesellschaft heute auszeichnet, lässt sich nur verstehen, wenn man die Gewalt-, Einschluss- und Ausgrenzungserfahrungen während des Nationalsozialismus berücksichtigt.« In der Tat ist die Verfassung und sind viele Züge der Bundesrepublik aus der Verarbeitung der nazistischen Erfahrung heraus zu verstehen. Man denke nur an die Einheitsgewerkschaft oder an die klassenmäßige Modernisierung, die ›Mittelschichtengesellschaft‹ mit durch Teilhabe befriedetem Lohnarbeitssektor. Oder man denke ans Ensemble der politisch-ethischen Dämme, ›dass so etwas wie Auschwitz sich niemals wiederhole‹. Zelik müsste diese Züge zu Schöpfungen des NS-Terrors erklären. Doch Buchenwald und Auschwitz sind nicht ›schöpferisch‹, sondern es ist die schöpferische Entschlossenheit der Überlebenden, dass ›so etwas nie wieder vorkommen darf‹, in der sie re-aktiv nachwirken. Die praktisch gezogene Lehre aus dem Nazismus als dessen Schöpfung anzusehen, unterstellt ein Über-Subjekt, das die politisch-gesellschaftlichen Subjekte aus dem Bürgerkrieg in den relativen Bürgerfrieden hineinschreckt. Insgeheim weint solches Denken den im Gefolge der Oktoberrevolution aufgeflammten revolutionären Klassenkämpfen nach, auf die der Faschismus als präventive Konterrevolution und »Gegenbolschewismus« (Haug 1980/2007, 90f) reagiert hat.[34] Wenn Zelik im umgekehrten Fall (in Anspielung auf den blutigen Putsch in Chile) Diktaturen als Reaktion auf gewählte Regierungen begreift, müsste er nach dem re-agierenden Subjekt fragen und darlegen, wessen Reaktion das ist, welche gesellschaftlichen Interessen es waren und von welchen Maßnahmen der Linksregierung unter Allende sie sich bedroht fühlten. Sogleich begänne die konkrete Analyse einer konkreten Situation, und der mythische Singular und seine kompakten Wesenseinheiten würden gesprengt. Es ist der Mythos der MACHT im Verein mit dem der GEWALT, der den Weg ins Konkrete blockiert.

7. Eine Totalisierung, die den Blick auf die praxisrelevanten Widersprüche verbaut

Wie ist es zu verstehen, wenn jemand wie Agamben der parlamentarischen Demokratie und ihrem Rechtsstaat den Nazismus als deren geheime Wahrheit unterschiebt? Mehr noch: wenn er die »Moderne« – aber was ist das? – vom Urbeginn her auf Auschwitz zustreben sieht? Es ist, als praktizierte er eine vergröberte und transponierte Dialektik der Aufklärung, aber eine abgekartete Dialektik, keine wirkliche. Agamben »übernimmt Schmitts Überhöhung des Ausnahmefalls« und »muss auch die autoritäre Verfügungsmacht als ursprüngliche Kraft verherrlichen, statt nachvollziehen zu können, wie sie in einem [...] Normalzustand heranwächst« (Reitz 2004, 297). Dass er sich damit »begnügt, Brutalstphänomene aufzulisten«, ohne »jegliches Fragen nach den Ursachen für das Herabstoßen ganzer Ethnien, Klassen und Schichten von Menschen in eine Liquidationsmasse für Unmenschen« (Klenner 2002, 857), hat den Effekt, dass sich seine Theorie »beinahe nahtlos in die gleichermaßen kritisierte ›Gesellschaft des Spektakels‹ einfügt« (Schmidt 2002, 580). Damit variiert er ein »Modell ›linker‹ (Gesellschafts-)Kritik, in dem der Wille zum abweichenden Denken ebenso stark ist wie die Ignoranz gegenüber dem kapitalistischen Alltag« (581).

Wie aber ist es zu verstehen, dass bestimmte Linke sich mit Neoliberalen und Konservativen darin treffen, im Ton dieser »Vision eines totalen Ausnahmezustands [...] einen exotischen Reiz« (Ritter 2004) zu goutieren? Hier überlagern sich die unterschiedlichsten Motive. Manche verwechseln Agambens Ausrufung des Ausnahmezustands als der omnipräsenten Grundlage mit dem »warnenden Appell, die Gefahr der dauerhaften Installation von Ausnahmezuständen auch in der Gegenwart nicht zu unterschätzen« (Gräfe 2002). Eher als davor zu warnen, könnte Agambens Situationsbestimmung zum Umschlag in die Herbeiführung des derart Kritisierten beitragen. Die Benjaminverehrung mancher Linker räumt dem »bedeutendsten Philosophen in der Nachfolge Walter Benjamins« (Jäger 2003) ungesicherten Kredit ein, wie bei den Konservativen deren untergründiges Spiel mit dem Gedanken des Ausnahmezustands. Wenn die theologische Argumentation für die Einen bestechend wirkt, so für andere Agambens »Obsession [...] mit Rechtsbegriffen und juristischen Denkfiguren« (Ritter 2004).[35] Insgesamt kann man sagen, dass Agamben in Themen und Behandlungsweise Scharniermuster bevorzugt, in denen rechte und linke Motive sich ineinander drehen. Ritter findet im Blick auf Guantánamo »vielleicht den Auschwitz-Vergleich, den Agamben sich erlaubt, hier wenig hilfreich, [...] so genau er das Moment der völligen Entrechtung von Personen auch treffen mag« (ebd.). Aber dies verharmlost die industrielle Menschenvernichtung nicht weniger als andere Ausweitungen der Kritik. Thomas Lemke (A) etwa stimmt Agamben zu, dass es sich bei Stammzellen wie bei den Guantánamo-Gefangenen gleichermaßen »um menschliches Leben handelt«, und für Lorenz Jäger (2003) treten die »von Agamben ins Auge gefassten Menschen, die zugleich Nicht-Menschen sind, hier und heute in großen Massen auf« – in Gestalt abgetriebener Föten, wie ja katholische Fundamentalisten Stammzellenforschung und vor allem Abtreibung mit Auschwitz gleichzusetzen pflegen.

Den entscheidenden Rezeptionsschub löste die Reaktion der USA auf die terroristischen Akte vom 11. September 2001 aus. Die Regierung unter Bush schickte sich an – in den von Henning Ritter für die FAZ übersetzten Worten Agambens –, »dem ganzen Planeten den Status eines permanenten Ausnahmezustandes aufzuzwingen [...], der als die zwingende Antwort auf eine Art Weltbürgerkrieg zwischen Staat und Terrorismus dargestellt wird« (2003). Zumal der außerrechtliche Status der Gefangenen im Lager von Guantánamo als unzugänglicher, aber sichtbarer Knoten eines weltweiten Netzes von Geheimgefängnissen, erschien wie in Agambens bereits 1995 in Italien veröffentlichtem Homo sacer vorhergesagt.[36] Dass Agamben überdies als einen der Gründe für den Überfall der USA auf den Irak »die Absicht« nannte, »Europa zu schwächen«, weil es »die Überlegenheit der Vereinigten Staaten bedrohte«, sprach weiten Kreisen des deutschen Bürgertums aus dem Herzen und bediente zugleich wohlfeilen Antiamerikanismus auf der Linken.[37]

Wenn nun an vielen Ecken und Enden Carl Schmitts Gedanken aus dem Inkubationsprozess des Nazismus wieder auftauchen und faschistische Theorien sich anschicken, die Theorien über den Faschismus zu verdrängen, so trägt Agambens Überbietung des foucaultschen Machtbegriffs entscheidend dazu bei. Wenn Foucault MACHT als solche für produktiv erklärt hat – mit dem handfesten Hintergrund, dass man ohne pouvoir, was außer Macht eben auch Können bedeutet, nichts machen kann –, so steigert und verkehrt Agamben diesen Gedanken zum Konzept einer das politisch-rechtliche Universum europäischer Provenienz hervorbringenden und aus dieser ihrer Schöpfung wieder endzeitlich hervordringenden absoluten GEWALTMACHT. Zelik schreibt vollends nackter Gewalt als solcher Schöpfertum zu. Emanzipatorische Bewegungen, aus deren Reihen sich viele, wie er selbst 2004 notiert hat, dafür begeistern, »dass bei Agamben der Flüchtling und das Lager zu zentralen politischen Motiven gemacht werden«, finden sich durch diese eingängige Mythisierung einer wichtigen Waffe ihrer Kritik beraubt, zumal dann, wenn unter jenem ›Schöpferischen‹ in Wirklichkeit Staats- und Privatterrorismus mittels physischer Repression gemeint sind. Antagonismen und Kämpfe fallen schon im Ansatz unter den Tisch, wenn es von dem durch widerständige in rechtlich kodifizierte Schranken verwiesenen Rechtsstaat bei Zelik heißt, »der Staat beschränkt sich selbst«. Wer seine Gewalt selbst zügelt, kann ihr ebenso jederzeit die Zügel schießen lassen. Die ständig neu zu umkämpfende, mit den Kräfteverhältnissen sich ausdehnende oder zusammenziehende Kompromissform wird undenkbar. Konkrete politische Regierungsmacht stellt aber immer einen strukturellen Kompromiss dar, weil sie, wie es von alters her heißt, »Einheit aus Vielheit« konstruieren muss. Auch Zelik malt wie Agamben den Ausnahmezustand als gegenwärtig »zentrales Regierungsparadigma« der westlichen Demokratien an die Wand. Spätestens auf den zweiten Blick sieht man, dass die Berufung aufs Guantánamo-Paradigma, so wichtig es fürs Verständnis der Gegenwart ist, nur scheinevident war. Was als die »geheime Grundlage« verabsolutiert wird, ist einer der antagonistischen Pole im stets und ständig umkämpften Regierungsverhältnis. Diese alte Front ist unter den Bedingungen des transnationalen Hightech-Kapitalismus keineswegs verschwunden, sondern hat nur andere Formen angenommen. Der Reduktionismus des abstrakt-totalisierenden Blicks gleitet über das Kampffeld und seine Widerspruchsverhältnisse achtlos hinweg. Dass etwa ein äußerer Feind momentan den inneren Burgfrieden begünstigt, gehorcht völlig anderen Gesetzen als denen der mythisierten Gewalt. Es bei der Aussage zu belassen, die USA hätten die Folter legitimiert, vernachlässigt, dass entsprechende Gewaltmethoden immer umkämpft waren, dass die USA ihre offene völkerrechtswidrige Anwendung mit weltweiter Einbuße an Hegemonie – »die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern«, erklärte Jürgen Habermas 2003 – und mit der militärischen Niederlage in den angeblichen Befreiungs- und Demokratisierungskriegen bezahlen mussten, sowie dass die entsprechenden Maßnahmen der Bush-Regierung unter Obama großenteils widerrufen worden sind. Würde dazu ins Bild einbezogen, dass bei alledem ›Washington‹ innerhalb der USA weitgehend dyshegemonial ist, ein Objekt, das mehrheitlich gehasst oder ignoriert wird, tauchte eine ganz andere Wirklichkeit auf als die im Gefolge Agambens skizzierte.

Summa summarum ist es nicht diese oder jene Aussage, die im Umkreis des mit Carl Schmitt geimpften und mit dem vormarxistischen Benjamin[38] gerechtfertigten Diskurses des ›Linksnietzscheanismus‹ und »Linksheideggerianismus« (Marchart 2010) den Blick auf die praxisrelevanten Widersprüche der Wirklichkeit verbaut, sondern es ist das Dispositiv dieses Diskurses selbst. Wenn kritisches Bewusstsein sich ihm anvertraut, verstrickt es sich heillos in den unmöglichen Versuch, »mit einem totalitären Konzept Totalitarismuskritik zu betreiben« (Gräfe 2002).[39] Mit den Widersprüchen gehen im totalisierten Bild die Handlungs- und Befreiungsmöglichkeiten der Unterdrückten unter, denn »eine Politik des ›reinen Mittels‹ unter Absehung des Zweckes, wie sie Agamben vorschlägt, ist keine Politik, da ihr jedes strategische Moment ausgetrieben wurde« (ebd.). Was als Widerstandsdiskurs anhob, wird so zum Opferdiskurs ohne praktischen Ausweg, daher mit »passivierenden Implikationen« (ebd.) – es sei denn, diese Mythisierung der Schreckens gewalt der Herrschenden wäre ein Vorbote der komplementären Mythisierung einer als befreiend vorgestellten terroristischen Gewalt von ›links‹. Das aber trüge nicht nur dazu bei, Agambens Satz, Staat und Terrorismus bildeten »am Ende ein einziges System mit zwei Gesichtern« (2003), auf eine Weise wahr zu machen, die ihn selbst einbezieht, sondern die selbstzerstörerische Dialektik, die solche Optionen im 20. Jahrhundert hinterrücks eingeholt hat, würde erneut ausgelöst.

Freilich ist auch die entgegengesetzte Konsequenz aus den Erfahrungen mit dem Gewaltprimat im revolutionären Marxismus des 20. Jahrhunderts prekär: die Perspektive einer »›Zivilisierung der Revolution‹, von der andererseits die realen Möglichkeiten einer ›Zivilisierung der Politik‹ und des Staates abhängen dürften« (Balibar 2001, 696). Immer aber muss revolutionärer Gewalt, soll sie nicht in aussichtsloser Isolierung von denen enden, die sie befreien wollte, Hegemonie vorausgehen. Sie wird – aber nur der Möglichkeit nach – geschichtsmächtig, wenn die Herrschenden in der bisherigen Weise nicht mehr weitermachen können und den Herrschaftsunterworfenen die Verhältnisse dadurch vollends unerträglich geworden sind, dass sie sich von einem konkreten Alternativprojekt wirkliche Besserung versprechen.

Literatur

Agamben, Giorgio, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, a. d. Ital. v. Hubert Thüring, Frankfurt/M 2002

ders., »Der Gewahrsam. Ausnahmezustand als Weltordnung«, a. d. Ital. v. Henning Ritter, in: FAZ, 19.4.2003, 33

ders., Ausnahmezustand. Homo Sacer II.1., Frankfurt/M 2004

ders., Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), Frankfurt/M 2003

Assheuer, Thomas, »Das nackte Leben«, in: Die Zeit, 1.7.2004 (www.zeit.de/2004/28/st-Agamben)

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ders., Die kolumbianischen Paramilitärs, »Regieren ohne Staat?« oder terroristische Formen der inneren Sicherheit, Münster 2009



[1] Für vielfältige Hilfe danke ich Jan Loheit und den Mitgliedern der Heftredaktion; wertvolle Anregungen verdanke ich den Einwänden und Vorschlägen von Frigga Haug, Klaus Meschkat, Jan Rehmann und Tilman Reitz.

[2] Foucaults Bestimmungen sind nicht als solche falsch; das Problem ist die Vogelperspektive, die er auf sie einnimmt, wenn er sie als »die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« bestimmt (1977, 113) bzw. als Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (114). Insgesamt sieht er »die großen Herrschaftssysteme [... als] Hegemonie-Effekte, die auf der Intensität all jener Konfrontationen aufruhen« (115f).

[3] »Agamben, so heißt es landesweit in den Feuilletons, [...] habe die ›verwaiste Stelle des Meisterdenkers‹ eingenommen.« (Information Philosophie, H. 5, 2009, 1)

[4] »Trotz des eindeutigen Bezugs« auf den Begriff des »bloßen Lebens«, den Benjamin auf den letzten Seiten von Zur Kritik der Gewalt entwickelt, hat Agambens Übersetzer la nuda vita mit »nacktem Leben« wiedergegeben – »zur Unterstreichung der eigenständigen Entwicklung « bei Agamben (Thüring 2002, 199).

[5] Wenigstens ansatzweise habe ich die Frage der ideologischen Reproduktion patriarchaler Herrschaft, deren eingehendere Behandlung den Rahmen des vorliegenden Klärungsversuchs sprengen würde, in den Thesen »Zur ideologischen Subjektion der Geschlechterverhältnisse« umrissen (Elemente, 1993, 192-203) sowie in den Bemerkungen zu »Geschlechterverhältnissen in der Philosophie« (ebd., 204-08). Fragen der Subjektion patriarchaler Männlichkeit untersuche ich ausführlich in Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts (1986, 21987).

[6] V.a. unter Berufung auf Paulus: »Frauen, seid den Männern untertan, wie es sich von Gott her gehört.« (Kolosser 3,18)

[7] »Alle Tendenzen der modernen staatsrechtlichen Entwicklung gehen dahin, den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen.« (Schmitt 1934b, 13)

[8] Den Feind bestimmt Schmitt der dezisionistischen Logik folgend tautologisch: »Er ist eben der Andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist« (ebd.).

[9] »Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.« (1934b, 19)

[10] »Mit der Niederschrift [von Über den Begriff der Geschichte ...] wurde frühestens Ende 1939, wahrscheinlich erst Anfang 1940 begonnen«; die Vorarbeiten begannen Mitte der 30er Jahre, »spätestens 1937« mit dem Fuchsaufsatz (GS I.3, 1227).

[11] Kein Wunder, dass in Deutschland die FAZ ihm als erste Tageszeitung ihre Seiten öffnete (beginnend am 20.9.2001, 45).

[12] Rehmann kritisiert Foucaults Mythisierung als einen neo-nietzscheanischen »Essenzialismus [...], mit dem die Macht hinter den gesellschaftlichen Verhältnissen in Stellung gebracht wird«, wodurch die jeweiligen »strukturell verankerten Ohn/Macht-Verhältnisse« dem Blick entzogen werden (2004, 139).

[13] »Biopolitik« ist der Neologismus, unter dem Foucault die mit der kapitalistischen Manufaktur aufgekommene Bevölkerungspolitik analysiert, das volkswirtschaftliche Interesse fürs »Wirtschaftsvolk« unter den Gesichtspunkten von »Leistung und Kostensenkung«, an die dann die rassistischen Konzepte von »Zucht und Züchtung« anschlossen, um in die »Faschisierung des bürgerlichen Subjekts« zu münden, flankiert durch Vernichtungspolitiken (Haug 1986, 30ff und 55ff). – Bei Foucault heißt es: »For capitalist society, it was biopolitics, the biological, the corporal, that mattered more than anything else« (2000, 137; zit.n. Lemke 2004, 1). Agamben macht daraus den schmittschen Ur-Akt der souveränen Entscheidung über Leben und Tod an der Wiege von Staat, Recht und Politik, den er mit Heideggers Bestimmung des Daseins als eines Seins, »dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, verknüpft (vgl. Lemke 2002).

[14] »The state of exception, for Schmitt, was heuristically important – the exception defines the rule, or helps to understand it. For Agamben, it takes on a sociological quality: ›in our age [...] the state of exception comes more and more to the foreground [...] and begins to become the rule‹.« (Mazower 2008, 28)

[15] »Hostility to parliamentarism per se, deep suspicion of the state – these are important features of Agamben’s thought.« (Mazower 2008, 26)

[16] »Die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben, ist das größte Verdienst von Blochs ›Geist der Utopie‹.« (GS II.1, 203)

[17] Aus Benjamins These, »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist« (These VIII), wird bei Agamben: »Heute [...], da [...] der Notstand, wie das Benjamin vorausahnte, zur Regel geworden ist« (22).

[18] Nicht alle machen es so grob wie Félix de Azúa, der das Erscheinen der spanischen Übersetzung der Gesammelten Schriften zum Anlass nimmt, die Geschichtsthesen »trotz des wirren marxistoiden Jargons« und »vermittels einer unerwarteten Rückkehr zum jüdischen Messianismus« als »weitestens vom Marxismus entfernt« zu situieren. Dafür schreibt er Benjamin »laizistische Heiligkeit« zu und erklärt zu dessen »letztendlich größter Tugend die Inkohärenz«.

[19] Der Direktor des Deutschen Literatur-Archivs Marbach, Ulrich Raulff, der die Stelle in seiner Agambenbesprechung (2004) zitiert, lässt die Anführungszeichen weg. Er beseitigt damit einen Stolperstein für die Interpretation auf der Schmitt-Linie, sowie für seine eigene, Benjamin lasse offen, »ob er damit die seit 1933 akut bestehende Suspension des Rechts oder einen metaphysischen Zustand jenseits des Historischen meinte«. Der metaphysische Schein verschwindet, vergisst man nicht, wie Raulff es tut, die »Tradition der Unterdrückten«, die für Benjamin mit der damaligen Situation zu seiner These zusammentritt.

[20] Von seinen »leeren und unbestimmten Begriffen« wie »nacktes Leben« und »reines Sein« sagt Agamben, dass sie »den Schlüssel zum historisch-politischen Schicksal des Abendlandes standhaft zu hüten« scheinen (2002, 190). Seine düstere Vision, die »einem weit verbreiteten Bedürfnis nach einfachen, wenn auch rätselhaften Erklärungen nach[kommt]« (Gerald Hartung, in: Information Philosophie 5/2008), macht Agambens Diskurs »dem philosophischen Essayismus der 1920er Jahre und dessen Weltdeutungen à la Spengler und Klages vergleichbar, sofern es dort ebenfalls um nicht weniger als das ›Schicksal des Abendlandes‹ ging« (Susanne Lettow, ebd.).

[21] Die Drogenindustrie soll verschiedenen Quellen zufolge zwischen 20-30 % des BIP aus machen.

[22] Seit Gründung der Autodefensas Unidadas de Colombia (AUC) 1997 als zentrale Organisation der zuvor verstreut lokal operierenden paramilitärischen Gruppen und unter Schirmherrschaft von Großgrundbesitzern, Großviehzüchtern und Drogenhändlern hat das terroristischgewaltsame Bauernlegen in stillschweigender Kumpanei mit dem Militär systematische Form angenommen. Mehr als 4 Mio Kolumbianer, ca. 10 % der Bevölkerung, vegetieren als Vertriebene im eigenen Land (www.internal-displacement.org/countries/colombia).

[23] »Agamben setzt alles daran, um die bloße Form des Lagers bzw. die biopolitische Logik des einschließenden Ausschlusses vom historischen und nationalen Kontext der Lager, ihrer Funktion wie auch von der Art der in ihnen verübten Verbrechen loszulösen, denn nur so lässt sich die zweifelhafte These stützen, das Lager sei zum ›Paradigma des politisches Raumes selbst‹ geworden.« (Marchart 2010, 226)

[24] Würde dem Souverän dieses Recht streitig gemacht, könnte er nicht »performe the office they have put him into; which is, to defend them both from foreign enemies, and from the injuries of one another; and consequently there is no longer a Common-wealth« (Leviathan, II.29).

[25] »Die Massaker [...] richteten sich gegen die Bewohner von Dörfern und Armenvierteln, die als Basis der Linken galten oder sich in ökonomisch interessanten Regionen befanden. [...] In Kolumbien hat eine von Medien und akademischen Diskursen fast vollständig ignorierte Form des Klassenterrorismus Zehntausende von Opfern gefordert.« Die »Bevölkerung« als ganze reproduziert in ihren Reaktionen auf diesen Klassenterrorismus die Klassenspaltungen sowie die strategischen Allianzen des Blocks an der Macht. Im Rahmen unserer Untersuchung ist der Bezug auf sie nur in engen Grenzen sinnvoll.

[26] In Zeliks Dissertation treten kolumbianische Besonderheiten differenzierter hervor. »Paramilitarismus« begreift er als »eine politisch-militärische Strategie zur autoritären Transformation von Gesellschaft und Staat«, basierend auf der »von Machtgruppen vorangetriebene Entgrenzung herrschaftlicher Gewalt [...].Der Einsatz eines sozial selektiven Terrors dient dabei auch zur Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols. Dennoch ist der Paramilitarismus nicht einfach als ein staatliches Gewaltinstrument zu verstehen. Der Staat ist [...] kein einheitlicher Akteur. Vielmehr hat der Paramilitarismus auch den Staat verwandelt. « (2009, 170) Um dieses komplexe Verhältnis auszudrücken, schreibe ich, solange nicht die gleichnamige Organisation gemeint ist, »Para/Militär«.

[27] Die These vom Schöpfertum der Gewalt erinnert an Marx’ Spott, wonach solcher Denkweise zufolge der Verbrecher als produktiver Arbeiter aufgefasst werden müsste, weil er das Kriminalrecht und den gesamten strafrechtlichen Apparat einschließlich der Lehrbücher und Professoren ›hervorbringt‹ (MEW 26.1, 363f; siehe Karl Marx, »Abschweifung«, in diesem Heft).

[28] Wie in Freuds Modell der Symptombildung wird hier ein »Berührungspunkt zwischen Herrschaft und Beherrschten, peripher zum Klassenantagonismus und doch durch Assoziationsketten mit ihm und den beiden antagonistischen Kräften verbunden, peripherer Kreuzungspunkt also, [...] zum Punkt, an dem beide Seiten in der Grundform, die wir im Rahmen unserer Theorie als die des Ideologischen begreifen, zusammengeschmolzen« (Elemente, 61). Im Ergebnis leistet »das Ideologische [...] das Zusammenhalten des gesellschaftlichen Ganzen als Reproduktion von Klassengegensatz und Klassenherrschaft in der Form von ideologischen Kompromissbildungen in der herrschaftlichen Anordnung »von oben nach unten« (ebd.).

[29] So ließ etwa der Gouverneur von Arauca den Paramilitärs eine Liste von zu ›neutralisierenden‹ Oppositionellen und Kritikern zukommen.

[30] In der Gestalt des »Herrn Egge«, in dessen Name das weiche G gleichsam das Kantige der Ecke rund schleift, hat Brecht eine Form passiven Widerstands gezeichnet, die sich ins Schweigen zurückzieht. Herr Egge ist den Gewalthabern gegenüber äußerlich gefügig, doch schlägt sein Gehorsam nicht um in substanzlose Anpassung. Indem er sich hütet, »ein Wort zu sagen« (GW 12, 376), verweigert er den »Konsens im Gewaltverhältnis« (Jehle 2005, 246).

[31] Abgesehen davon wird Zeliks Beschreibung der von »der (erinnerten) Ausnahme geborenen, von der drohenden (antizipierten) Ausnahme geformten Subjektivität« auch von der gerade in Armenvierteln begegnenden, die elenden Lebensbedingungen überschreitenden Lebensfreude und Freundlichkeit dementiert.

[32] Diese Enttäuschung wird vom Leiden unter der ›gewöhnlichen Kriminalität‹ überlagert. Für die ärmeren Schichten ist sie besonders quälend, da sie nicht wie die Wohlhabenden in abgeschirmten Wohnblocks oder Villen leben. Hinzu kommen die Korruption, die auch große Teile von Justiz und Polizei durchdrungen hat, und die Straflosigkeit (maximal 5 % aller Straftaten führen zu einer Verurteilung).

[33] In Zeliks Dissertation (2009) findet sich die Würdigung von Widerstandsformen, die im vorliegenden Beitrag leider fehlen: »Zum Abschluss dieser Arbeit sollte betont werden, dass Kolumbiens jüngere Geschichte trotz des dargestellten Schreckens nicht nur als Drama verstanden werden darf. Das Land beweist auch, dass sich selbst gegen eine entfesselte Repression Widerstandsformen praktizieren lassen. Anders als in den meisten Bürgerkriegsländern Lateinamerikas sind die sozialen Bewegungen in Kolumbien auch nach 30 Jahren ›schmutzigem Krieg‹ nicht völlig zerstört. Besonders in den Konfliktregionen existieren nach wie vor Kleinbauernorganisationen, Genossenschaftsnetzwerke und Menschenrechtsgruppen [...]. Trotz aller Massaker, Vertreibungen, Folterungen und Morde ist es also offensichtlich nicht gelungen, die Vorstellung einer alternativen Gesellschaft vollständig auszulöschen. Als herrschaftliches Stabilisierungsprojekt ist der paramilitärische Krieg in Kolumbien weitgehend geglückt: Die latente Krise der 1980er Jahre wurde überwunden. Als politisches Transformationsprojekt hingegen ist der Paramilitarismus unvollendet geblieben. Anders als etwa in Guatemala, wo staatlicher Terror ein Klima völliger Einschüchterung etablierte, widersetzen sich in Kolumbien soziale Bewegungen und indigene Gemeinschaften bis heute dem aufgezwungenen Modell.« (2009, 328)

[34] Im Blick auf die Sowjetunion erklärt Schmitt, »dass hier ein Staat entsteht, der mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat des absolutesten Fürsten«; das zeige »in einer enormen Steigerung den Kern der modernen Geschichte Europas« (1929, 67).

[35] Henning Ritter beeindrucken einerseits die vermeintlich »glasklaren Analysen rechtshistorischer Zusammenhänge«; andererseits, dass hier »Begriffe und Definitionen aus der abendländischen Rechtstradition [...] wie Grundworte der Vorsokratiker in der Interpretation etwa durch Heidegger« wirken. Er sieht nicht, wie letzteres der Rechtshistorie in die Quere kommt, weil ohne historisches Interesse.

[36] »Warum die Rechtlosigkeit in die alten Räume des Rechts zurückkehrt, warum immer öfter das ›bloße Leben‹ der ›nackten Macht‹ gegenübersteht, dafür wird in diesen Tagen oft das Werk des italienischen Philosophen Giorgio Agamben bemüht.« (Assheuer 2004)

[37] 37 »Nach dem 11. September gingen gelegentlich Antiimperialismus und Antiamerikanismus, manchmal auch Antisemitismus ein trübes Gemisch ein.« (Haug 2003, 220) »Unter dem Baldachin dieser Amerikakritik versammelt sich heute eine linksrechte Dechiffriergemeinde der Schmitt-Leser« (Assheuer 2004).

[38] Es ist der mystisch-theologische Benjamin von Zur Kritik der Gewalt, der im »wahren Krieg« und im »Gottesgericht der Menge am Verbrecher« – weltlich ausgedrückt: in der Lynchjustiz – Erscheinungsformen der »göttlichen Gewalt« sieht (203). »Verwerflich aber ist alle [...] rechtsetzende [Gewalt ...]. Verwerflich auch die rechtserhaltende [...], die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.« (Ebd.)

[39] Als Stefanie Gräfe ihren Zweifel in diese Formel goss, tat sie dies unterm »Eindruck, dass die Chiffre, die einst so praktisch zur Erklärung von allem, dem Leben, der Politik, dem Menschen und der Welt eingesetzt werden konnte, nämlich der Klassenkampf, hier überaus klug und eloquent ersetzt wurde durch eine neue Chiffre: die Biopolitik«, zumal bei Agamben im Unterschied zu Foucault der »Zusammenhang von Biopolitik und Kapital vollständig im Dunkeln gelassen« wird (2002).