Neurowissenschaftler in der politischen Debatte

„Neuropolitik“ ist eine der zahlreichen Wortschöpfungen rund um das neue Zauberwort Neuro. Wie sieht die neurogenetische Politik von NeurowissenschaftlerInnen aus?

Neurologisches zur Gewaltprävention.

Von Peter Becker


In der Neuropolitik geht es um die Analyse von Entscheidungsprozessen und von Faktoren, die das Verhalten von Wählern bestimmen. Der state of mind von Wählern mit all seinen emotionalen Dimensionen ist das Objekt der wissenschaftlichen Begierde von Hirnforschern wie Marco Iacoboni, der sich im Vorfeld der letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen in der New York Times vom 11.11.2007 zu Wort meldete. Er untersuchte noch unentschiedene Wähler mit den neuesten bildgebenden Verfahren und deutete die spezifischen Aktivitätsmuster im Gehirn im Hinblick auf die Attraktivität der Kandidaten. Seine Interpretationen wurden von anderen Hirnforschern heftig kritisiert, die ihm „flawed reasoning“ vorwarfen.

Mir geht es hier allerdings nicht nur um die neurowissenschaftliche Analyse von Politik, sondern mehr noch um die Präsenz von Neurowissenschaften und ihrer Protagonisten in der Auseinandersetzung um sozial- und bildungspolitische Fragen. Der Weg aus dem Labor in die politische Debatte wird in den letzten zwanzig Jahren zunehmend von Hirnforschern selbst beschritten.

Was sind die Themen, mit denen die Neurowissenschaften in der Berichterstattung präsent sind, und was sind die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die den Neurowissenschaften so viel politisch-mediale Präsenz einräumen? In den etwa 6.000 Dokumenten aus deutschsprachigen Printmedien, die ich in einem Pilotprojekt sichten konnte, kommen Neurowissenschaften keinesfalls nur im Zusammenhang mit medizinischer Grundlagenforschung und neuen Therapien vor. Die medial präsenten Protagonisten dieser Forschungen werden zu einer Reihe von Themen als Experten befragt - von der Prävention von Gewalt bis hin zu Erziehungsfragen.

Wenn wir uns die politische Relevanz von Neurowissenschaften vergegenwärtigen, müssen wir zwanzig Jahre zurückschauen. Am 17. Juli 1990 rief Präsident George H. W. Bush die Dekade des Gehirns aus. Das war der Startschuss für mehr Investitionen in die Neurowissenschaften und für mehr öffentliche Wahrnehmung der Ergebnisse dieser Forschung.


Das Modell Dr. Palmquist

Seit der Jahrtausendwende hat die Präsenz der Hirnforscher in den Medien drastisch zugenommen. Wenn sie über Fragen der inneren Sicherheit (Gerhard Roth, Hans Markowitsch) oder der Erziehung (Wolf Singer, Manfred Spitzer) reflektieren, bringen sie ihre wissenschaftliche Kompetenz in ein bereits durch andere Experten und Expertinnen besetztes Feld ein. Es handelt sich dabei nicht um eine Anmaßung von Kompetenzen. Die Wiener Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny hat gezeigt, dass Expertise in der Entwicklung von politischen Programmen selten klaren disziplinären Grenzziehungen folgt. Hirnforscher beginnen jedoch, in der öffentlichen Wahrnehmung und der Zuschreibung von Expertise die Vertreter anderer Disziplinen zu verdrängen - ein Prozess, den der amerikanische Schriftsteller Richard Dooling in seinem Roman Brain Storm prägnant zum Ausdruck gebracht hat.


„We are looking for genetic, biological, environmental, medical causes of violence. The sociologists have had their day and things have only gotten worse. It‘s time for the biologists, the geneticists, the neuroscientists to take over.“ (Dr. Palmquist in Brain Storm, 234)


Dr. Palmquist, die weibliche und verführerische Heldin des Romans, erklärt in der hier ausschnittweise wiedergegebenen Szene einem Strafverteidiger das Selbstverständnis der Neurowissenschaften. Dieser Anspruch ist keine Fiktion. Die amerikanischen Autorin Debra Niehoff fordert in ihrem 1999 erschienenen Buch zur Biologie der Gewalt (The biology of violence) Politik wie Forschung auf, sich endlich auf das Gehirn als den eigentlich naheliegenden Ort der Genese von Gewalt und abweichendem Verhalten zu konzentrieren. Die Öffentlichkeit begrüßt offenbar das Angebot der ForscherInnen, die Antworten auf drängende Fragen im Gehirn zu suchen.


Lieblingsthema Gewaltprävention

Bei der Gewaltprävention geht es den Forscherinnen und Forschern um die Entwicklung neuer, individueller Interventionen, mit denen sich das grundsätzlich beeinflussbare Gehirn neu programmieren lässt. Der britische Soziologe Nikolas Rose hat diese Art des Vorgehens treffend auf den Punkt gebracht: „And what is learned may be unlearned, or may be replaced by a new and less damaging set of learned ways of thinking and acting, an array of competences and skills of life management that are more desirable to others, and indeed to the dependent person themselves.”(1)

Ein Umdenken in der Kriminalpolitik ist aus dieser Perspektive notwendig. Anstatt Mittel für Strafanstalten und nach dem Gießkannenprinzip operierende Sozialprogramme zu verschwenden, schlägt Niehoff neue Programme vor: „well-designed, carefully targeted intervention programs”.(2) Sie beruhen nicht auf einer Rückkehr zu krudem, deterministischem Denken im Stile der traditionellen Kriminalbiologie. Die neuen Ansätze der Hirnforschung gehen von einem dynamischen Prozess aus, der Genetik, Neurophysiologie und Umwelteinflüsse aufeinander bezieht. Sie setzen auf der individuellen Ebene an und erfordern einen differenzierten Zugriff zur Ermittlung von Risikogruppen.

Wie lassen sich diese Risikogruppen treffsicher ermitteln? Ein Beispiel: Die britischen Psychologen und Kriminologen Terrie Moffitt und Avshalom Caspi nutzen die Daten einer Kohortenstudie in Neuseeland, um anhand einer Kombination von Umweltfaktoren und genetischer Prägung die Jugendlichen zu identifizieren, die zu einer Gewaltkarriere disponiert sind. Von wesentlicher Bedeutung für die Zuverlässigkeit der Resultate sind die Kategorien, mit denen diese Faktoren gemessen und erhoben werden.


Kriminalumweltgenetik

Moffitt und Caspi interessieren sich insbesondere für die Interaktion von Genetik und Umwelt auf neuronaler Ebene. Das Kriterium für negative Umwelteinflüsse ist die Kindesmisshandlung, das Kriterium für genetische Modulierung die spezifische Ausprägung des MAO-A (Monoaminooxidase-A)-Gens, das eine wichtige Rolle im serotonergen System spielt. Niedrige MAO-A-Werte machen die misshandelten Jugendlichen weitaus anfälliger für aggressives Verhalten.

Diese Studie ist bereits zu einem Klassiker geworden, was die analytische Integration von Genetik, sozialem Milieu und Neurophysiologie betrifft. Sie bleibt jedoch weit hinter dem selbst gesetzten Ziel zurück, „to push beyond the risk-factor stage to achieve an understanding of causal processes“.(3) Das hängt nicht zuletzt mit der Kriterienauswahl zusammen. Das soziale Umfeld ist komplexer und beschränkt sich nicht auf die An- beziehungsweise Abwesenheit von Misshandlungen. Selbst ambitionierte Studien wie diejenige von Moffitt und Caspi operieren mit einer stark reduzierten Vorstellung des Sozialen, das sich eben nicht auf das direkte Umfeld des neurochemischen Gehirns beschränkt.

Der Genetik kommt in diesem Modell eine wichtige Rolle zu, weil sie die hirnphysiologischen Prozesse steuert, jedoch nicht deterministisch festlegt. Genetische Prägungen definieren Risikofaktoren, die in der Wechselwirkung mit Umweltfaktoren auf ein hirnphysiologisch bestimmtes Verhalten einwirken.

Anregungen für die Untersuchung dieser neurophysiologisch vermittelten Beziehungen zwischen Genetik und Umwelt stammen häufig von Tierversuchen. Mausmodelle - erarbeitet an transgenischen beziehungsweise pharmakologisch beeinflussten Mäusen - bieten erste Anhaltspunkte über mögliche Wechselwirkungen. Diese werden in weiteren Schritten für die Analyse von Menschen und menschlicher Gesellschaft empirisch getestet. Ausgeblendet bleibt bei diesen Studien die Frage, inwieweit die Laborsituation überhaupt auf menschliche Lebenswelten übertragbar ist.


So what?

Soweit ein kurzer Einblick in den nicht gerade erhebenden Stand der Forschung. Offen bleibt die Frage, weshalb die Öffentlichkeit dennoch von einer neurowissenschaftlichen Deutung altbekannter Probleme zur nächsten fiebert. Neurowissenschaften gelten als neue „Leitwissenschaft“ (DFG Präsident Wolfgang Frühwald im Jahr 1997). Vielleicht ist es auch der Attraktivitätsverlust von sozialen Utopien, von dem der Züricher Philosoph Lutz Wingert spricht.

Es geht nicht darum, die Hirnforschung generell in ein schräges Licht zu setzen. Die Präsenz der Hirnforscher im öffentlichen Raum ist durchaus zu begrüßen - aber als Diskussionspartner und nicht als Heilsbringer. Wichtig ist ein mündiger Umgang mit den Versprechungen der Hirnforscher und ein kritischer Blick auf ihre Kategorien. Bunt eingefärbte Bilder von Hirnfunktionen aus dem Scanner und wohl ausgedachte Experimente mit transgenen Mäusen vermitteln keine Wahrheiten über komplex strukturierte Personen und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.



Peter Becker ist Professor am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz, zur Zeit am IFK Wien, und arbeitet über „Neuro-Law ahead: Observations at the Intersection of the Neurosciences, the Media, and Criminal Law“.


Fußnoten:

(1) Nikolas Rose: The neurochemical self and its anomalies, in: Richard Ericson, Aaron Doyle (Hg.), Risk and morality, Toronto 2003, S. 407-437, hier S. 418.

(2) Debra Niehoff: The Biology of Violence. How Understanding the Brain, Behavior, and Environment Can Break the Vicious Circle of Aggression, New York 1999.

(3) Terry Moffitt, Avashalom Caspi: Evidence from behavioral genetics for environmental contributions to antisocial conduct, in: P.-O. H. Wikström, R. J. Sampson (Hg.): The Explanation of Crime. Context, Mechanisms, and Development, Cambridge 2006, S. 108-152, hier: S. 109.