Vor einem Ende der Großen Krise?

Fragile Konjunktur – Konkursspirale der Schulden

Der Internationale Währungsfonds prognostiziert für Deutschland einen langsamen Aufstieg aus der großen Krise. Die Experten gehen für das laufende Jahr von einem Wirtschaftswachstum von 1,2% aus, für 2011 erwarten sie ein Plus von 1,7%. Staatliche Investitionen, Kurzarbeit, Steuersenkungen und Programme wie die Abwrackprämie hätten die Konjunktur stabilisiert. »Deutschland wurde außergewöhnlich hart von der globalen Krise getroffen, doch haben politische Gegenmaßnahmen eine noch tiefere Rezession verhindert.« Problematisch sei die anhaltende Schwäche des Finanzsektors in Deutschland und die große Abhängigkeit vom Export. Deshalb werde der Aufschwung in Deutschland »moderat und krisenanfällig« sein. Als Stabilisierungsmaßnahme rät der IMF zu einer Förderung der Binnennachfrage. Der Abbau von Arbeitsplätzen wird sich demnach bis Jahresende beschleunigen.

Auch die Wirtschaftsforschungsinstitute bestätigen in ihrer Gemeinschaftsprognose (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: »Erholung setzt sich fort – Risiken bleiben groß. Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2010«) dieses Bild einer Konjunkturerholung ohne Schwung. Sie gehen davon aus, dass die deutsche Wirtschaft 2010 um 1,5% wachsen wird. In ihrem Herbstgutachten waren sie noch von 1,2% ausgegangen. 2011 werde das Wachstum 1,4% betragen. Zwar sei die wirtschaftliche Erholung vorübergehend ins Stocken geraten – für das erste Quartal 2010 wird sogar ein leichtes Schrumpfen des BIP erwartet. In der Grundtendenz dürfte die Konjunktur aber weiter aufwärts gerichtet sein.

Ist damit die Große Krise, die die globale Ökonomie seit Mitte 2007 beherrscht hat, überwunden? Ausgehend von den Immobilienmärkten platzte im Frühjahr 2007 in wichtigen kapitalistischen Ländern die große Kreditblase und verstärkte rückschlagend die seit längerem der Expansion des Kredits unterliegende chronische Überakkumulation. Zeitweilig drohte der gesamte Krisenprozess in mehreren kapitalistischen Metropolen außer Kontrolle zu geraten. Nach immensen Interventionen der Notenbanken und der Regierungen konnte die Abwärtstendenz abgefangen werden. Überall zeichnet sich nun ein zögerlicher Aufschwung ab. Gehen wir in eine neue Phase der Krise über oder ist die Krise überwunden?

Die Große Krise als Krise des Überflusses

In der Großen Krise, die Mitte 2007 im Bereich der US-Immobilien- und Hypothekenmärkte begann, verloren Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ihre Arbeitsplätze, beträchtliche Teile ihres Einkommens und ihrer Ersparnisse sowie ihrer Häuser. Diese Krise breitete sich binnen Kurzem auf die ganze Welt aus. Die Große Krise – eindeutig der schlimmste Abschwung seit der Großen Depression vor fast acht Jahrzehnten – ist keine etwas stärker ausgefallene Rezession, wie sie am Ende eines regulären Konjunktur- und Wirtschaftszyklus beobachtet werden kann. Sie ist Ausdruck von grundlegenden Mängeln oder Widersprüchen der kapitalistischen Ökonomie. Mit dieser Krise ist die besondere Ausprägung der kapitalistischen Ökonomie, die finanzmarktgetriebene Kapitalakkumulation, gescheitert.

Der vermögensgetriebene Kapitalismus ist selbst das Ergebnis einer seit Mitte der 1970er Jahre schrittweise verschärften Krisenentwicklung, einer chronischen oder strukturellen Überakkumulation. Es gibt eine wachsende Lücke zwischen dem globalen Produktionspotential und der gesellschaftlichen Nachfrage, die nicht durch Neuanlage von produktivem Kapital verdrängt oder aufgehoben werden konnte. In den letzten Jahrzehnten wurde global eine große industrielle Überkapazität von mehr als 15% aufgebaut. Allerdings konnte diese Kluft durch eine wachsende Expansion von öffentlichen und privaten Krediten überlagert werden, was eben zur Ausbildung einer massiven Kredit- und Vermögensblase führte. Die Krise in den Leitindustrien Automobil oder Stahl hat wenig mit der Krise von Geldkapital und Kredit zu tun. Die Finanzkrise überformt die Krise in den industriellen Bereichen, was deren überfällige Reproportionierung nicht aufhebt. Zugleich steht  eine massive Verkleinerung des Finanz- und Vermögenssektors auf der Tagesordnung.

Näher betrachtet zeigt sich: Die Große Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist – wie die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren – Ausdruck eines tiefgreifenden Strukturwandels der jeweiligen gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals. Die große Depression im vorherigen Jahrhundert stand im Zusammenhang mit der Durchsetzung und Verallgemeinerung der fordistischen Massenproduktion. Die enormen Produktivitätssteigerungen der gesellschaftlichen Arbeit produzierten eine Reihe von tiefgreifenden gesellschaftlichen Widersprüchen (Einkommens- und Vermögensunterschiede, Unterschiede im internationalen Wirtschafts- und Währungssystem).

Diese große Depression wurde – nach massiven Krisen, Verwerfungen und Kriegen – durch eine Kompression in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen sowie dem Einsatz von Produktivitätsgewinnen für die soziale Sicherheit überwunden. Dieser Erfolg kam nach heftigen sozialen und politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zustande, in denen lange Zeit gesellschaftliche Mehrheiten mit Ratschlägen und Konzeptionen operierten, die einem Zeitalter der Knappheit der Ressourcen angemessen waren. Letztlich setzte sich die mit dem Namen von Keynes verbundene Konzeption durch, der schon 1932 argumentierte, dass »die Weltwirtschaftskrise keine Armutskrise (war), sondern eine Krise des Überflusses.« »Die Stimmen, die uns in einer solchen Situation sagen, dass der Ausweg im strengen Haushalten zu finden sei, und dass man, wann immer möglich, darauf verzichten solle, die potentielle Produktion der Welt zu nutzen, sind die Stimmen von Dummköpfen und Verrückten.« (Skidelsky, Die Rückkehr des Meisters, München 2010, S. 127)

Auch die große Krise zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird im herrschenden Diskurs der wirtschaftlichen und politischen Eliten auf eine Knappheit der gesellschaftlichen Ressourcen und Reichtumsproduktion zurückgeführt. Die Effektivität der gesellschaftlichen Produktion ist aber gegenüber der Global­ökonomie in der Zeit der großen Depression noch einmal enorm angewachsen und das gesellschaftliche Produktionspotenzial eröffnet eine neue Qualität im zivilisatorischen Umgang mit dem gesellschaftlichen Überschuss. Die aktuelle Große Krise ist eingebettet in den widersprüchlichen Strukturwandel von einer Dominanz der industriellen Produktion hin zu einer sozial-kulturellen Dienstleistungsökonomie. Wiederum soll in dieser Konstellation auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Produktionspotentials verzichtet werden, um den Überschuss der gesellschaftlichen Arbeit in das überholte Korsett einer Distribution von Eigentumstiteln zu zwingen.

Der Akkumulationsprozess war in den letzten Jahrzehnten durch die »asset-based, wealth-driven economy« geprägt. Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik soll die Tendenz der Erhöhung der Marktpreise von Vermögenswerten und die einseitige Vermögenspolitik stabilisiert werden. Schwache Realinvestitionen der Unternehmen und öffentliche Investitionen sind die desaströsen Ergebnisse einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die seit Jahren die Verbesserung der Angebots- und Wertschöpfungsbedingungen proklamiert und durch Aushöhlung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage doch nur einen circulus vitiosus von immer neuen Runden der Nachfrageschwächung und Verschlechterung der Verwertungsbedingungen zustande gebracht hat. Statt Steigerung der Wertschöpfung und Erhöhung der Beschäftigung wird eine zunehmende Fehlallokation von Kapital zugunsten unproduktiver Verwendungen marktwirtschaftlich hervorgebracht: Der Verwertung der Eigentumstitel wird die produktive Aktivität der Volkswirtschaft geopfert.

Schon Mitte der 1960er Jahre stellte Joan Robinson, in der Tradition der  keynesschen Theorie stehend, fest: Die kapitalistischen Gesellschaften leben immer noch nicht für die kleinen Freuden des Heute, sondern für den Mythos der beschleunigten Kapitalakkumulation. »Die Einrichtungen und Denkweisen, die in einer Epoche entstanden, da der Überschuss herausgepresst wurde, leben weiter, auch wenn sie nutzlos geworden sind, und bis jetzt wurde noch kein Ersatz für sie geliefert.« (Joan Robinson, Die fatale politische Ökonomie, Frankfurt 1968, S. 9) Statt zur Ausgestaltung einer Ökonomie mit hoher Produktivität überzugehen, beherrscht zu Beginn des 21. Jahrhunderts die vermögensgetriebene Ökonomie den Akkumulationsprozess. Die faktisch mögliche Vollbeschäftigung, bei gleichzeitig starker Arbeitszeitverkürzung, wird unter dem Regime des Neoliberalismus verworfen zugunsten einer finanzmarktgetriebenen Akkumulation mit Massenarbeitslosigkeit, prekären Beschäftigungsbedingungen und einer politischen Ökonomie der Unsicherheit. Diese Entwicklung hat ein »höchst eigenartiges kapitalistisches Wirtschaftssystem« hervorgebracht: Die Dualität von sozialer Sicherheit, die einerseits auf kapitalgedeckten Systemen sozialer Sicherheit beruht, und anderseits auf  Umverteilungs- oder Ausgleichungsprozessen von Arbeits- und Kapitaleinkommen, löst sich in eine Hegemonie des Shareholderprinzips von unverdienten Einkommen auf.

Die längere Zeit kontrovers debattierte Frage, mit welcher Konstellation wir nach der Großen Krise rechnen müssen, ist entschieden. In den kapitalistischen Hauptländern wird die konjunkturelle Dynamik in diesem und im nächsten Jahr voraussichtlich gering sein. Es gibt keinen steilen Aufstieg von der wirtschaftlichen Talsohle. Angesichts dieser verhaltenen wirtschaftlichen Expansion wird sich die Lage am Arbeitsmarkt höchstens schleppend verbessern. Auch in Ländern, die wie Japan oder Deutschland von der Krise vor allem durch das Wegbrechen der Exporte betroffen sind, dürfte sich die Produktion nur langsam von den schweren Einbußen erholen. Folgt man der vorherrschenden Meinung in Politik und Gesellschaft, scheint die Große Krise ausgestanden, mindestens wirtschaftlich überwunden. Die Rückkehr zur Normalität in vielen Bereichen der Finanzwirtschaft legt diesen falschen Schein nahe. Meldungen über neue Rekordgewinne – just auch im gebrandmarkten Investment Banking – und die neuen Höhenflüge bei den Manager-Boni überlagern die Schlagzeilen über massive Gefährdungen von weltweiten Immobilienfonds und die anhaltend schlechten Bedingungen in den Sektoren Maschinenbau, Transport und Logistik.

Doch die aktuellen Konjunkturdaten legen eine andere Interpretation nahe: Die Bewältigung der Großen Krise wird uns noch lange beschäftigen. Der Export der deutschen Unternehmen war vor einem Jahr mit fast einem Viertel kräftig eingebrochen. Anfang des Jahres zeigt sich eine deutliche Erholung. Grund: Die Weltwirtschaft erholt sich – von den USA bis China. Gleichwohl wäre es ein Fehlschluss, von einer zügigen Wiederherstellung des vor der Krise bestehenden Ungleichgewichtes in der Globalökonomie auszugehen. Die Kapazitätsauslastung ist immer noch ausgesprochen niedrig. Die Industrieproduktion lag im Februar knapp 20% unter dem Höchstwert vor Beginn der Krise, die Fertigung von Investitionsgütern sogar um rund 25%. Zwar hat sich der Auftragsbestand der Unternehmen verbessert, er ist aber immer noch relativ niedrig. Wegen dieser  anhaltenden Umgruppierung und der ausgeprägten Schwäche des Binnenmarktes bleibt der Außenbeitrag der deutschen Wirtschaft im ersten Quartal bescheiden. Die meisten Experten gehen von einer Stagnation oder einer leichten Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts aus.

Eine weitere Tendenz zeichnet sich ab: Die deutsche Wirtschaft wird in den kommenden Jahren aus dem Ausland weniger Anregungen erhalten als in der Zeit vor der großen Rezession. Eine Reihe wichtiger Länder kämpft mit den Folgen von Immobilienblasen und Bankenkrisen und steht vor der Herausforderung, dass private und öffentliche Haushalte ihre Verschuldung verringern müssen. Die Produktionskapazitäten sind dort vielfach stark unterausgelastet und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Dies wird den Auftrieb von Preisen und Löhnen dämpfen und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der dort ansässigen Produzenten mittelfristig stärken. Vor diesem Hintergrund ist für den Projektionszeitraum 2010 bis 2014 eine deutlich geringere Ausweitung der deutschen Exporte als in den zurückliegenden Jahren zu erwarten. Zudem verschärft sich preisbedingt die Importkonkurrenz.

Strukturwandel in der Globalökonomie

Die geringere Bedeutung der Exporte und damit eine niedrigere Drehzahl des Exportmotors für die Akkumulation und das Wirtschaftswachstum hängen auch mit dem Strukturwandel in der Globalökonomie zusammen. Wir sehen die Anfänge einer globalen Schwerpunktverlagerung weg von den kapitalistischen Hauptländern wie USA, Japan und Europa hin zu den Schwellenländern in Asien. Es zeichnet sich ein Aufstieg Asiens ab. Mittel- und langfristig rücken China und Indien in die Rolle der Schrittmacher auf, während kleinere Nationen durch regionale Handelsliberalisierung ihre Abhängigkeit vom Westen abbauen könnten. Nach einem Wachstum von 5,2% im Krisenjahr 2009 nähert sich der Kontinent – gestützt durch eine moderate Erholung im Welthandel sowie dank der Auswirkungen von Konjunkturprogrammen und niedrigen Zinsen – einem nachhaltigen Wachstum. Zugpferde Asiens sind die beiden Milliardenvölker Chinas und Indiens, denen für das laufende Jahr 9,1% bzw. 8,2% Wachstum prognostiziert wird. Die Wachstumsprognose für Asien ohne Japan liegt für 2010 bei 7,5%. Durch das Auslaufen der Stimuli und Zinserhöhungen soll sich das Expansionstempo 2011 leicht auf 7,3% verringern.

Anders als in den alten Metropolen läuft die prognostizierte Entwicklung für Asien ohne Japan auf eine V-förmige Konjunkturerholung hinaus. Mit dem anziehenden Wachstum beginnen aber auch wieder die Preise zu steigen. 2009 hatte sich die Teuerung stark zurückgebildet, was aber in nicht unerheblichem Umfang rückläufigen Erdöl- und Rohstoffpreisen zu verdanken war.

Dieses neue Ungleichgewicht in der Globalökonomie zwischen den alten Metropolen (Triade) und den aufsteigenden Mächten in Asien (China und Indien) wird für die Rohstoff- und Energiepreisentwicklung folgenreich sein. Aber auch die Handelsströme sowie die Finanz- und Währungstransaktionen bleiben nicht unberührt.

Schließlich betont die Mehrzahl der Experten die hohen Risiken für Rückschläge in der Entwicklung der alten kapitalistischen Metropolen. Es wird eine langsame, schleppende Erholung von der massiven Schrumpfung geben. Und die Gefahr eines weiteren Rückschlags und Umkippens in eine erneute Kontraktion bleibt hoch. Eine weitgehende Bereinigung der Kreditblase ist wegen des massiven Einsatzes des öffentlichen Kredits noch nicht erfolgt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass es auf den Finanzmärkten in den USA und in Westeuro­pa in der nächsten Zeit zu weiteren Vertrauenskrisen kommt. Dies würde die Konjunktur massiv belasten. Diese Gefahr wäre insbesondere dann gegeben, wenn sich die Zweifel verstärkten, dass die Ökonomien der Metropolen wieder auf einen stabilen Wachstumspfad zurückfinden. Dieser Fall würde dann eintreten, wenn der schrittweise Entzug stützender Maßnahmen doch zu einem schweren konjunkturellen Rückschlag führt.

Wie der Fall der angeschlagenen Hegemonialmacht USA zeigt, wurde der Finanzsektor nicht durch einen Krisenprozess zusammengeschrumpft, sondern die bisherige privatkapitalistisch geprägte Kreditblase ist durch den massiven Einsatz des öffentlichen Kredits im alten Volumen nahezu erhalten worden. Neben der Frage nach den Triebkräften der Realökonomie stellt sich also die Frage nach den weiteren Verläufen der Schuldenkrise. Auch US-Notenbankpräsident Bernanke unterstreicht in seiner Einschätzung der US-Konjunktur und der Globalökonomie die massiven Risiken. Zwar geht er grundsätzlich davon aus, dass die Wirtschaft sich in den kommenden Quartalen moderat erholt. Doch das Risiko einer Double Dip-Rezession bleibt hoch.

Für diese fragile Tendenz gibt es einen eindeutigen Hintergrund: Schon in den zurückliegenden Wirtschafts- oder Konjunkturzyklen basierte das Wachstum auf einer beschleunigten Expansion von Geld- und Leihkapital. Sowohl in Deutschland als auch in den anderen Metropolen der Globalökonomie wurde die chronische Überakkumulation überspielt durch eine Expansion des Kredits. Mit Ausbruch der großen Krise Mitte 2007 platzte diese globale Kreditblase, die sich in den vergangenen Dekaden in den USA und Teilen Europas herausgebildet hatte. Sobald aber die Spekulations-, Kredit- und Immobilienblasen in den USA, Großbritannien, Irland, Spanien und Osteuropa platzten, brach die durch Schuldenaufnahme stabilisierte gesellschaftliche Nachfrage zusammen und die massive Überakkumulation wurde sichtbar und verschärfte sich.

Die sich abzeichnende Kapitalvernichtung und somit Bereinigung und Reproportionierung der Produktion wurde wiederum durch die Expansion des öffentlichen Kredits aufgefangen. Sobald die – private oder staatliche – kreditgestützte Nachfrage wegbricht, setzt eine verhängnisvolle, sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen und Brachlegung von erheblichen Produktionskapazitäten führt.

Das aktuelle Dilemma besteht also darin, dass der zusammenbrechende Kreditüberbau durch öffentliche Kredite abgefangen und die unumgängliche Bereinigung zunächst vertagt wurde. Die zurückgedrängte Bereinigung kann durch Verwerfungen im internationalen Bereich oder durch neue Verwerfungen im Immobiliensektor oder den Finanzmärkten in einen offenen Krisenprozess übergehen.

Infolge der Großen Krise haben sich auch die mittelfristigen Aussichten für die deutsche Wirtschaft eindeutig verschlechtert, das Bruttoinlandsprodukt wird in den kommenden Jahren spürbar niedriger sein, als vor der Krise erwartet wurde. Die Institute erwarten, dass das Produktionspotential im Zeitraum 2009 bis 2014 um 1% pro Jahr zunimmt. Das reale Bruttoinlandsprodukt wird nach dem scharfen Einbruch im vergangenen Jahr erst 2013 das Niveau aus dem Jahr 2008 erreichen. Und: Die Risiken für die Konjunktur bleiben groß. Diese resultieren einerseits aus dem weltwirtschaftlichen Umfeld. Andererseits ist die Lage im Bankensektor nach wie vor schwierig, auch wenn die Kreditrestriktionen zuletzt nicht weiter verschärft wurden. Schließlich können auf den Finanzmärkten immer wieder Verwerfungen auftreten.

USA: Die langjährige Lokomotive des Konjunktur­geleitzuges im Schlepptau

Eine fragile Erholung der Wirtschaft prägt die US-Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit ist weiter hoch. Der US-Regierung ist gleichwohl eine Erleichterung anzumerken: »Im vergangenen Jahr wechselte die Flugbahn von unkontrolliertem freien Fall zu einer annähernden Stabilität«, erklärt US-Finanzminister Geithner. 2009 schrumpfte die US-Wirtschaft um 2,4%. Das war die schwerste Rezession seit 1946. Jetzt rechnen die US-Regierung und Experten mit einem Wachstum von gut 2%. Die US-Industrie ist im März so stark gewachsen wie seit fast sechs Jahren nicht mehr. Die amerikanischen Industriekonzerne – z.B. Honeywell oder Boeing – profitieren vom Exportaufschwung – vor allem wegen der boomenden Asiennachfrage und der Wiederauffüllung der sehr ausgedünnten Lagerhaltung.

Der US-Konjunkturzug hat am Ende 2009 ein höheres Tempo aufgenommen, doch auch hier kann ein Abfall in der Wachstumsdynamik nicht ausgeschlossen werden. Mit einer Arbeitslosenquote von 9,7% und anhaltendem Stellenabbau kann insgesamt keine Entwarnung für die weitere Entwicklung gegeben werden. Die US-Regierung erklärt: »Wir erwarten dieses Jahr keine weiteren substanziellen Rückgänge bei der Arbeitslosigkeit.« Vielmehr könne die Arbeitslosenrate in den nächsten Monaten sogar steigen. Deutliche Besserung sei erst 2011 und 2012 zu erwarten. Seit Beginn der Rezession haben mehr als acht Millionen Menschen in den USA ihren Job verloren. Die Arbeitslosenquote verdoppelte sich in dieser Zeit.

Es gibt politische Kräfte, die für ein weiteres Stimulierungsprogramm eintreten, doch dürfte dies angesichts der politischen Kräfteverhältnisse nur schwierig zu realisieren sein. Allerdings: Der Leitzins wird noch »eine längere Zeit« außerordentlich niedrig bleiben. Die Notenbanker behalten die in der Krise geprägte Formel bei, die den Finanzmärkten für eine Reihe von Monaten Ruhe an der Zinsfront signalisiert. Die Banken erhalten von der Fed weiterhin frisches Geld praktisch zum Nulltarif. Die Notenbank beließ das Zins-Band bei 0% bis 0,25%. Experten gehen davon aus, dass die Zentralbanker erst bei einer stabilen Belebung der Wirtschaft an der Zinsschraube drehen werden – frühestens im zweiten Halbjahr.

Problematisch bleibt aus Sicht von Notenbank und Regierung auch der noch immer am Boden liegende Immobiliensektor, von dem die Finanzkrise ausging.  Ohne eine weitere Erholung der Häuserpreise hat die US-Wirtschaft keine Chance, aus der Krise zu kommen. Die US-Regierung hat seit Herbst 2008 mehr als eine Billion US-Dollar investiert, um den Immobilienmarkt vor dem Kollaps zu bewahren. Ende April liefen die Steueranreize für Hauskäufer aus. Bis zu 8.000 US-Dollar »Tax Kredit« erhielt ein Immobilien-Erstkäufer bei Abschluss des Kaufvertrages vom Staat. Ähnlich der deutschen Abwrackprämie dürfte diese Subvention der Nachfrage noch einige Wochen nachwirken.

Eine weitere Notmaßnahme ist ebenfalls ausgelaufen: Die Fed hat 16 Monate lang massiv Hypotheken aufgekauft und die Hypothekenzinsen auf dem niedrigsten Niveau seit rund 50 Jahren gehalten. Dieses milliardenschwere Hilfsprogramm ist seit Ende März beendet: Die Zinsen für Hypotheken mit 30 Jahren Laufzeit dürften dann bis Jahresende in Richtung 6% steigen.

Bei jedem vierten Hypothekenschuldner ist der Wert des Hauses unter den Wert des ausstehenden Darlehens gerutscht: Viele entscheiden sich für einen strategischen »Exit« per Zwangsversteigerung. Die fällige Abstufung ihrer persönlichen Kreditwürdigkeit nehmen die SchuldnerInnen in Kauf. Sie verabschieden sich, anstatt weiter Geld für ein Haus abzubezahlen, dessen Preis sich auf Jahre nicht erholen dürfte.

Die US-Regierung greift angesichts der Gefahr auf den Immobilienmärkten zu weiteren Stützungsmaßnahmen. Außerdem hat sie den beiden staatlichen Finanzinstituten, Fannie Mae und Freddie Mac, die für jeden zweiten Hypothekenkredit bürgen, Zuschüsse bis zum Jahr 2012 und Hilfen in unbegrenzter Höhe zugesagt. Der Staat steht also bis dahin unbegrenzt für Verluste aus Hypotheken ein.

Die Fed muss nach ihren massiven Liquiditätsspritzen und dem Ankauf von Wertpapieren im großen Stil ihre Bilanz allmählich wieder bereinigen, wenn sie nicht auf mittlere Sicht einen Inflationsschub riskieren will. Sie teilte nun mit, dass Ende März die in der Finanzkrise aufgelegten Ankaufprogramme im Volumen von 1,4 Bio. US-Dollar wie geplant auslaufen werden. Dennoch hält sie sich eine Hintertür für weitere Stützungsmaßnahmen offen: »Der Offenmarktausschuss wird die Konjunkturentwicklung und die Finanzmärkte weiter beobachten und, wenn nötig, seine geldpolitischen Instrumente einsetzen, um die wirtschaftliche Erholung sowie die Preisstabilität zu fördern.« Der Großteil der Beobachter geht davon aus, dass die Notenbank dabei nur sehr langsam vorgehen wird. Ein baldiger Entzug der Liquidität auch in geringem Ausmaß sei fast auszuschließen. Dies umso mehr, als die Notenbank noch immer durch Ankäufe von Hypothekaranleihen Liquidität zuführt. Solange aber der Kurs der Notenbank so ungewiss ist, ist der Spekulation über die »Exit Strategie« Tür und Tor geöffnet, mit entsprechenden möglichen Auswirkungen auf die Devisenmärkte.

Bis zur ersten Zinsanhebung werde es – so die Einschätzung der Konjunkturbeobachter – zumindest bis zum Jahresende dauern. Die in Summe verhaltene US-Konjunktur und die Zeit, bevor die »Exit Strategie« umgesetzt werde, haben die Analysten diesen Schritt in das vierte Quartal verschieben lassen. Da sie auch ihre entsprechenden Erwartungen für die Europäische Zentralbank (EZB) nach hinten verschoben hätten, habe dies keine Auswirkungen auf ihre Dollar-Prognose.

Die größte Gefahr für die Weltwirtschaft besteht darin, dass die Zentralbanken sich zu schnell von stimulierenden Maßnahmen verabschieden. Eine Rolle spielt dabei die unter einigen Investoren grassierende irrationale Angst vor Inflation. Die zur Bekämpfung der Rezession von den Zentralbanken bereit gestellte Liquidität führe wegen der gedämpften Nachfrage voraussichtlich nicht zum Anheizen der Konsumpreise. Das Wachstum der asiatischen Volkswirtschaften falle gegenüber anderen Regionen zwar stärker aus, Asien könne aber die geringere Nachfrage in den USA nicht ausgleichen. Eine baldige Rückkehr zu einem robusten Wachstum der Weltwirtschaft sei daher unwahrscheinlich. Es gebe zwar nur eine geringe Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall in die Rezession, doch bestehe ein wesentliches Risiko für eine Verlangsamung der globalen Wachstumsraten.

Trotz der relativen Erholung der Realökonomie bleibt die Konstellation in den USA fragil. Überraschend ist die Erwartung einer langsamen Erholung nicht. Die US-amerikanischen Wirtschaftsakteure haben in den Jahren vor der Großen Krise mit einer gigantischen Verschuldung sowohl der Unternehmen, der öffentlichen Institutionen, aber auch der privaten Haushalte eine riesige Kreditexpansion aufgebaut. Diese muss nun sukzessive, auch durch steigende Sparquoten der privaten Haushalte, abgetragen werden.

An einer Exit-Politik der Notenbank führt auf absehbare Zeit kein Weg vorbei. Außerdem: Auch Steuererhöhungen stehen in den USA auf der politischen Agenda. So wird die Gesundheitsreform zu einem guten Teil durch höhere Steuern auf Kapitalerträge finanziert. Und noch hat die Globalökonomie ihre Strukturen nach der großen Krise nicht aufgebaut.

Japan: Kein Grund zum Optimismus in der Realwirtschaft

Die japanische Volkswirtschaft konnte im vierten Quartal 2009 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts verzeichnen. Zeichnet sich damit ein Konjunkturfrühling ab oder legen die erkennbaren Frühlingsboten falsche Schlussfolgerungen nahe?

Die japanische Wirtschaft ist im Jahresdurchschnitt 2009 um 5% eingebrochen. Zugleich hat sich diese kapitalistische Metropole mit 675 Mrd. Euro eines der großzügigsten Anreizprogramme der Welt geleistet. Doch trotz besserer Wachstumszahlen in den letzten Quartalen dürfe der Staat – so die vorherrschende Meinung – nun nicht nachlassen. Die Eliten rufen nach einer Fortsetzung der Konjunkturausgaben, um den Aufschwung zu sichern. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt im vierten Quartal 2009 um 0,9% gegenüber dem vorherigen Quartal gewachsen ist, verstärkt sich die Hoffnung, dass Japan schneller als befürchtet aus der Krise herauskommt. Denn nach den jüngsten Konjunkturdaten und den bisherigen Lohnverhandlungen mehren sich die Zeichen, dass das bisher von den Exporten angetriebene Wachstum auch auf den Binnenkonsum durchzuschlagen beginnt.

Zur Überraschung vieler Beobachter haben die Konjunkturprogramme deutliche Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Im Januar sank die Arbeitslosenquote überraschend auf 4,9% und damit erstmals seit zehn Monaten unter die 5%-Marke. Möglicherweise führt diese relative Entwarnung dazu, dass die privaten Haushalte seit kurzem wieder mehr Geld ausgeben. Im Februar expandierte der Einzelhandelsumsatz um 4,2%, was der stärkste Anstieg seit 13 Jahren ist. Einige Unternehmensmanager und Ökonomen halten angesichts dieser Konjunkturboten für 2010 sogar ein Wachstum von 2% für möglich. Logischerweise drückt sich die Rückkehr des Optimismus auch an den Aktienmärkten aus. Japans Börsenbarometer, der Nikkei-Index, hat in der Tat den Vorkrisenwert vom Oktober 2008 von 11.000 Punkten überschritten. Die Börsengurus reden von einer absehbaren weiteren Steigerung auf 12.000 Punkte.

Kritiker verweisen allerdings zu Recht darauf hin, dass die Erholung an den Börsen noch keine realwirtschaftliche Untersetzung hat. Die japanische Wirtschaft wächst zwar wieder, aber da sie im Krisenjahr 2009 um mehr als 5% geschrumpft ist und Japans Unternehmen nach wie vor unter niedriger Kapazitätsauslastung leiden, ist die Lage weiterhin ernst. Die Weltbank schätzt, dass Japans Bruttoinlandsprodukt selbst 2011 noch 4% unter dem Niveau von 2007 liegen wird, während die Vereinigten Staaten von Amerika das Vorkrisenniveau bereits 2010 wieder überschreiten könnten.

Als größtes Problem Japans gilt die Deflation. Die Ökonomen von Barclays Capital erwarten, dass die Preise bis Ende 2012 fallen werden. Denn es wird lange dauern, die Überkapazitäten in der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft von derzeit rund 6% durch Wachstum und Firmenschließungen abzubauen. Der Verfall der Preise in Japan dauert ungebrochen an. Um 1,2% sanken die Verbraucherpreise im Februar und damit im zwölften Monat in Folge. Eine so lange andauernde Deflation, also ein Preisverfall auf breiter Front, hat es in der zweitgrößten Wirtschaftsnation seit 2003 nicht mehr gegeben. Sie droht nach Ansicht von Ökonomen die ohnehin fragile Erholung der Wirtschaft abzuwürgen. Es seien weitere Wirtschaftsimpulse nötig.

Bislang ist es nicht gelungen, die Deflationstendenz zu brechen, die Japan bereits seit den 1990er Jahren beherrscht. Trotz der niedrigen Zinsen und der Konjunkturprogramme fallen die Preise, da Verbraucher ihre Kaufentscheidung in der Hoffnung auf eine weitere Verbilligung immer wieder aufschieben. Da der Regierung wegen der auch im internationalen Maßstab extrem hohen Staatsverschuldung kaum mehr Spielraum für weitere Konjunkturpakete bleibt, drängt sie die Bank of Japan seit Monaten, den Kampf gegen die Deflation zu verstärken. Erst vor kurzem hat die Zentralbank auf politischen Druck hin die Geldschleusen weiter geöffnet und leiht den Akteuren auf dem Finanzmarkt weitere zehn Bio. Yen (rund 81,2 Mrd. Euro) zum festen Zinssatz von nur 0,1%. Damit verdoppelte die Zentralbank das erst im Dezember im Kampf gegen die Deflation eingeführte Programm. Man werde es nicht dulden, dass die Preise weiter fallen.

Eine Deflation hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Sie drückt die Umsätze und Gewinne der Unternehmen, die dann Abstand von Investitionen nehmen und Arbeitsplätze abbauen. Verbraucher halten sich wiederum mit Anschaffungen zurück, wodurch sich der Preisverfall noch verschärft. Schließlich wird die Schuldenlast für die wirtschaftlichen Akteure immer drückender, denn die Nominalbeträge der Schulden sinken nicht. Die Zentralbanken versuchen daher in der Regel, die Nachfrage mit billigem Geld wieder anzukurbeln.

Die von der Bank of Japan beschlossene Ausweitung der Bemühungen zur Konjunkturankurbelung wird vermutlich nur geringe Effekte haben, da die Banken das Kreditwachstum nicht nach oben fahren. Die japanische Notenbank steckt mithin in einer Liquiditätsfalle, bei der Finanzspritzen mit geringen Effekten einhergehen.

Die Staatsschulden erreichen in diesem Jahr knapp 200% des BIP. Die Refinanzierung ist trotzdem nicht – anders als im Fall Griechenland – gefährdet. Das Land hat fast seine gesamten Staatsschulden an regierungsnahe inländische Anleger verkauft. Das hält die Zinsen niedrig.

Die OECD schätzt, Japan werde in den kommenden Jahren das geringste Wirtschaftswachstum unter den G7-Staaten haben. Das Bruttoinlandsprodukt werde zwischen 2011 und 2017 nur mit einer Rate von 0,9% wachsen, während die Regierung ein Niveau von 2% pro Jahr anstrebt. Es ist mithin nicht auszuschließen, dass die zögerliche Erholung in eine erneute Talfahrt umkippt. Vor diesem Hintergrund ist auch die Haushaltspolitik einzuordnen. Kürzlich verabschiedete die Regierung den größten Staatsetat aller Zeiten mit einem Volumen von 92,3 Bio. Yen (731 Mrd. Euro), und das bei den genannten Staatsschulden. Denn die Regierung will die Konjunktur stabilisieren und verschiebt notwendige Schritte zur Konsolidierung des Haushaltes. Es ist also davon auszugehen, dass die Regierung im Kampf gegen die Deflation weiter Druck auf die Bank von Japan ausüben wird, die bereits extrem losen geldpolitischen Zügel noch mehr zu lockern.

Japan hat also noch keineswegs die Große Krise überwunden. Selbst wenn ein Abbruch der zögerlichen Erholung vermieden werden kann, wird die Ökonomie blockiert bleiben: Das Wirtschaftswachstum wird nicht zu einer deutlichen Verminderung der Arbeitslosigkeit reichen und die Situation bei den öffentlichen Finanzen bleibt desaströs.

Großbritannien: Haushaltsdefizit außer Kontrolle

Unter den kapitalistischen Hauptländern steckt die britische Ökonomie noch am stärksten in der Krise. Großbritannien, die (noch) sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt, liegt am Boden. Die Haushaltslage hat griechische Verhältnisse erreicht, das britische Pfund ist weiterhin auf Talfahrt. Die Aussichten sind trüb. Ob ein Wachstum von mehr als 1% erreicht werden kann, ist fraglich. Wie auch bei den Erhöhungen der Mehrwertsteuer in Griechenland und Spanien zu erwarten, ist der Konsum in Großbritannien nach der Wiederanhebung der Steuer eingebrochen. Im Januar fielen die Einzelhandelsumsätze um 1,8% gegen­über dem Vormonat. Das war das größte Minus seit Juni 2008. Es gibt massive Zweifel, ob die neue Regierung in der Lage sein wird, das riesige Haushaltsdefizit unter Kontrolle zu bringen. Es beträgt nach OECD-Berechnung mittlerweile 11,6% des Bruttoinlandproduktes. Im Fiskaljahr 2009/10 musste die Regierung rund 167 Mrd. Pfund (189 Mrd. Euro) an neuen Schulden aufnehmen. Damit schoss das Defizit auf 11,8% des Bruttoinlandsprodukts nach oben – womit sich Großbritannien in einer Liga mit den EU-Sorgenkindern Griechenland und Irland befindet. Im laufenden Jahr plante die Labour-Regierung 163 Mrd. Pfund neue Schulden. Nie zuvor hat das Vereinigte Königreich in Friedenszeiten seine Schulden so dramatisch in die Höhe gefahren. Fast eine Billion Pfund gab Labour seit Ausbruch der Finanzkrise für strauchelnde Banken und Konjunkturprogramme aus. Großbritannien hat 2009 für seine Refinanzierung Staatspapiere von mehr als 225 Mrd. Pfund emittiert. Es muss in diesem Jahr nochmals 223 Mrd. Pfund aufnehmen und 2011/12 dann weitere 205 Mrd. Pfund. Bisher half die Notpolitik der Bank von England mit einem Programm von Anleihekäufen in Umfang von 200 Mrd. Pfund, die Flut von Emissionspapieren am Kapitalmarkt zu absorbieren. Das Programm ist mittlerweile jedoch ausgelaufen. Die Gesamtverschuldung in Form aller öffentlichen und privaten Kreditnehmer macht fast 500% des Bruttoinlandproduktes aus. Dies ist mehr als die Gesamtschuldenquote der Vereinigten Staaten von 400%. Ein Teil dieser Schulden geht auf das Konto von Banken. Von diesen Schulden werden 100 Mrd. Pfund dieses Jahr fällig. Sie müssen refinanziert werden. Dies sind gewaltige Belastungen für die Kapitalmärkte.

Seit Beginn der Finanzkrise befindet sich das Pfund auf einem – gelegentlich von Zwischenhochs unterbrochenen – Sinkflug. Seit September 2007 büßte die englische Währung gegenüber Euro und Dollar bis zu 25% an Wert ein. Allerdings ist Großbritannien nicht Griechenland. Ratingagenturen drohen dem Land gleichwohl mit dem Entzug der Bestnote AAA. Als Nichtmitglied von Euroland haben die Briten ihre Eigenständigkeit in der Geld- und Währungspolitik behalten.

Wirtschaftsexperten fürchten bereits ein abermaliges Abkippen der Konjunktur, den »Double Dip«. Im Januar ging die Industrieproduktion zurück, die Hauspreise erlitten im Februar den ersten markanten Rückschlag seit einem Jahr. Mittlerweile ist klar, dass die Blüte der Wirtschaft in den vergangenen Jahren auch von einer riesigen Immobilienblase gespeist wurde, die den Briten in den Boomjahren von 1998 bis 2007 exorbitante Wertsteigerungen ihrer Privathäuser bescherte.

Heute sind die BritInnen im Schnitt mit 170% ihres verfügbaren Jahreseinkommens verschuldet. Zum Vergleich: In den USA sind es 130%. Noch profitieren die BürgerInnen von historisch niedrigen Zinsen.

Im 19. Jahrhundert stand die Wiege der Industrialisierung in Großbritannien, doch inzwischen trägt das produzierende Gewerbe nur noch 12,4% zum BIP bei (Deutschland: 21,9%). 77% der Erwerbstätigen arbeiten im Dienstleistungssektor. Wirtschaftsminister Mandelson, einst glühender Fan der City hat nun sein Herz für die Industrie entdeckt: »Im letzten Jahrzehnt ist unsere Abhängigkeit von Finanzdienstleistern zu groß geworden. Nun müssen andere Sektoren schneller wachsen.« Mandelson will Zukunftsbranchen und Schlüsseltechnologien fördern und eine Institution wie die deutsche Fraunhofer-Gesellschaft aufbauen.

Griechenland: rauschende Talfahrt in der Schuldenspirale

Seit mehreren Monaten liefern sich die europäische Politik und die Investoren in griechische Staatsanleihen – wie der Hase und der Igel – ein Wettrennen. Wiederholt haben Minister und Regierungschefs versichert, im Notfall der hochverschuldeten Regierung in Athen beizuspringen. Die großen Worte haben die Finanzmärkte aber immer nur kurz beruhigt. Mit dem Antrag auf Finanzhilfen durch die EU und den IMF haben die Finanzmärkte ihre politische Macht demonstriert. Aber Achtung: Die hochverschuldete griechische Ökonomie ist einerseits ein Sonderfall und andererseits repräsentiert sie den Typus einer kapitalistischen Ökonomie, die sich in der Schuldenfalle verfängt.

Nach etlichen Turbulenzen bei der Erneuerung der aufgelaufenen Schulden auf den europäischen Finanzmärkten und der Mobilisierung von Finanzmitteln zur Finanzierung des aktuellen Defizits in den öffentlichen Haushalten hat die griechische Regierung eine Unterstützung durch die EU-Länder auf die Agenda gesetzt. Der Druck auf die europäische Währung sorgte für ein hohes Tempo im Verhandlungsprozess. Ein Rettungspaket für Griechenland steht. Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) einigten sich darauf, dem hoch verschuldeten Land im Notfall bis zu 45 Mrd. Euro bereitzustellen. Zwei Drittel der Summe sollen durch bilaterale Kredite der Euro-Staaten kommen. Der Zinssatz für die Darlehen mit dreijähriger Laufzeit würde bei rund 5% liegen – und damit deutlich unter dem aktuellen Marktniveau.

Mit dem Hilfspaket von EU-Staaten und IMF ist Griechenland allerdings keineswegs aus der Bredouille heraus. Auf den ersten Blick steht dem Land zwar mehr Geldkapital zur Verfügung als es in diesem Jahr noch braucht. Athen muss 2010 insgesamt 53 Mrd. Euro aufbringen. Die Regierung hat am Kapitalmarkt bereits 24 Mrd. Euro aufgenommen. Der Bedarf liegt also bei noch ca. 30 Mrd. Euro. Für die nächsten Jahre bis 2012 wird der Finanzbedarf vom griechischen Finanzministerium auf rund 120 Mrd. Euro taxiert. Damit dürfte die Zahlungsfähigkeit für das Jahr 2010 angesichts des Hilfspakets nahezu außer Zweifel stehen. Für die anschließenden Jahre aber ist eine erfolgreiche Refinanzierung alter Schulden zu durchschnittlichen Zinskonditionen nicht geklärt. Das Kernproblem ist aber nicht die Beschaffung von Liquidität, sondern hat die griechische Ökonomie eine realistische Chance, die Belastungen schrittweise abzuschütteln?

Griechenland gewinnt mit den beantragten Finanzhilfen  Spielraum für »Reformen«, die – so die Hoffnung – dazu führen, dass bis zum Ende der verabredeten drei Jahre das Haushaltsdefizit wieder unter 3% des Bruttoinlandsprodukts sinkt, das Vertrauen der Kapitalmärkte zurück gewonnen wird und die hohen Zinslasten die Konsolidierung nicht verhindern.

Indes ist der Weg, den das Land zu gehen hat, derart schwer, dass ein Scheitern  und damit das Szenario eines späteren Zahlungsausfalls nahezu einen größeren Realitätsgehalt hat. Die griechische sozialistische Regierung hat massive Kürzungsprogramme bei den öffentlichen Ausgaben und den Sozialkassen durchgesetzt: Erhöhung der Mehrwertsteuer, Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Sektor, Absenkungen der Sozialleistungen und massiver Druck auf die Altersrenten. Die unvermeidliche Konsequenz: Der massive Einbruch der Industrieproduktion im März infolge der gekürzten Binnennachfrage setzt eine Abwärtsspirale der Realökonomie in Gang. Die Kürzungen drücken die wirtschaftliche Leistung, erhöhen damit die öffentlichen Defizite und programmieren weitere Anpassungsoperationen. Und von Seiten der EU werden noch weitere Anpassungsoperationen verlangt.

Zu Recht gibt es zwei wichtige Argumente gegen die Erwartung eines erfolgreichen Sanierungsprozesses: Einerseits müssen große Teile der Bevölkerung über Jahre einer Absenkung ihres Lebensstandards zustimmen. Zum anderen muss eine massive Absenkung der Löhne und Einkommen mit einer Ausweitung des Exports und damit einer deutlichen Verbesserung der Leistungsfähigkeit der griechischen Industrie verbunden werden. Allerdings würde ein Ausscheiden Griechenlands aus der Zone der gemeinsamen Währung oder der EU die Bedingungen für eine wirtschaftliche Erneuerung nicht grundsätzlich verändern, zugleich aber den europäischen Wirtschafts- und Währungsverbund massiv gefährden. Allerdings hat der Fall Griechenland eine allgemeine Seite: Auch etliche andere kapitalistische Länder trudeln in eine Schuldenfalle hinein.

Schuldenkrise ohne Ende

Die USA, denen manche Analysten mittelfristig fast griechische Schuldenverhältnisse prophezeien, haben in der letzten Zeit den Unkenrufen standgehalten. Der Zinssatz auf zehnjährige Treasuries stieg zwar zeitweise über 4%, ging danach aber wieder zurück. Das Finanzministerium hatte gar keine Mühe, 82 Mrd. US-Dollar neue Anleihen aufzunehmen. Die Nachfrage nach Treasuries war Mitte April so hoch wie seit 1994 nicht mehr.

Dabei sind Experten höchst unterschiedlicher Meinung, ob die Anleger die gewaltige Kapitalnachfrage des Staates von rund 2,4 Bio. US-Dollar in diesem Jahr finanzieren werden. So erwartet Goldman Sachs, dass der Zins auf zehnjährige Trea­suries in diesem Jahr auf 3,25% fallen wird. Der Staatsnachfrage stehe hinreichend Angebot gegenüber, weil der Staat immer noch die private Kapitalnachfrage ersetzen müsse. Morgan Stanley dagegen rechnet mit einem Zinsanstieg auf 5,5% und setzt dabei auch auf eine bessere Konjunkturentwicklung und auf größere Inflationssorgen als viele andere Volkswirte.

Es gilt bei der Bewertung der Schuldenspirale der USA die entsprechende Argumentation: Das Bemühen um eine Finanzierung von alten Schulden und aktuellen Defiziten zielt auf leidlich erträgliche Konditionen. Entscheidend für die Dynamik der Abwärtsspirale ist aber: Ohne eine dauerhafte Belebung der Realökonomie aber kommt kein kapitalistisches Land aus der Schuldenspirale heraus. Die Schuldenproblematik Griechenlands ist gegenwärtig das vorrangige Thema an den Finanzmärkten und in der Politik. Obwohl es dabei um die Vermeidung einer Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsunwilligkeit geht, haben sich die Märkte bisher weitgehend ruhig verhalten.

Marktbeobachter begründen dies mit dem Hinweis, dass die den aktuellen Kurs beziehungsweise Zins bestimmenden Bondhändler einen kurzen Zeithorizont hätten und immer überzeugt seien, vor einer Verschlechterung der Marktlage aus Positionen aussteigen zu können. Die wirtschaftlichen Realitäten Griechenlands machten politische Lösungen unmöglich: Die notwendige interne Abwertung sei wegen der mit ihr verbundenen wirtschaftlichen Härte undurchführbar. Die einzige Lösung seien eine rasche Rückkehr zur Drachme und eine Abwertung.

Die Lage ist so verfahren, weil sie nicht allein das Resultat der Finanzkrise, sondern vor allem Folge einer langjährigen unverantwortlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik ist. An Griechenland zeigt sich gegenwärtig auch besonders deutlich, dass die Finanzkrise zunehmend eine andere Dimension annimmt. In den USA, Europa und Japan haben die effektiven Staatsschulden einschließlich aller langfristigen Verpflichtungen insbesondere für Alters- und Gesundheitsversorgung ein Ausmaß erreicht, bei dem keine realisierbare Kombination von Wachstum und Besteuerung denkbar ist, die es ermöglicht, diese Verpflichtungen zu erfüllen.

Über die Entwicklung der Gesamtschulden der Industriestaaten gibt es verschiedene Schätzungen. Vor kurzem hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in einem Arbeitspapier darauf hingewiesen, dass der von vielen Industrieländern eingeschlagene Weg einer immer höheren Verschuldung langfristig nicht begehbar ist. Die Autoren Cecchetti, Mohanty und Zampolli betonen, dass die gegenwärtige Verschuldung der Staaten durch die Rettungsmaßnahmen in der Finanzkrise überlagert wird von langfristigen Ungleichgewichten der Staatsfinanzen als Folge der demografischen Entwicklung.

Projektionen bis 2040 zeigen im Basismodell einer unveränderten Politik, dass die Staatsverschuldung in Ländern wie den USA, Frankreich, den Niederlanden und Griechenland 400% des Bruttoinlandprodukts erreichen oder übersteigen wird. Japan und Großbritannien stehen mit 600% beziehungsweise über 500% noch schlechter da, während Deutschland, Spanien und Italien mit einer Verschuldung in der Größenordnung von 300% besser, aber keineswegs gut abschneiden. Selbst eine Kombination von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und Abbau sozialer Verpflichtungen drücke nur in wenigen Fällen die Gesamtschuld unter 100%. Die langfristigen Ungleichgewichte erhöhen das Risiko einer direkten Monetisierung der Schulden oder eines Abbaus ihres Realwertes durch Inflation.

Fest steht: Für die große Mehrheit der kapitalistischen Ökonomien wird der Schuldenberg in den nächsten Jahren noch größer werden. Es zeichnet sich kein Übergang zu einer beschleunigten Kapitalakkumulation mit der Möglichkeit einer Verminderung der Defizite und gar einer beginnenden Schuldentilgung ab. Unter diesem Druck wird immer wieder versucht werden, eine »Exit-Politik« der Stützung des Finanzsektors einzuleiten. Jede Rückführung der Finanztransfers ohne gleichzeitige Stützung der Realökonomie birgt aber die große Gefahr des Rückschlages in eine manifeste Krisenkonstellation.

Mag sein, dass die Aufmerksamkeit über das gebeutelte Griechenland in der Schuldenspirale abgelöst wird durch weitere Brandherde im Weltwährungs- und Finanzsystem. Unbestreitbar ist: Der fragile Konjunkturerholungsprozess kann jederzeit über eine Verwerfung im internationalen Finanzsystem in sich zusammenstürzen. Ein Ausstieg oder gar ein Ausschluss Griechenlands aus der EU und der Euro-Zone wäre keine Lösung, sondern würde Anpassungsreaktionen auslösen, die die Dramatik der Konstellation weiter zuspitzen würden.