Die Weltwirtschaftskrise bringt Lateinamerika in die Klemme – Manche Regierungschefs üben sich dennoch in Optimismus
Die Weltwirtschaftskrise zieht weiter ihre Kreise und lässt auch Lateinamerika nicht außen vor. Nach den Jahren des Booms ab 2002 mit Wachstumsraten von vier bis fünf Prozent wird der Region für 2009 bestenfalls ein Wachstum von einem Prozent prognostiziert, aber auch ein Abrutschen in die Rezession ist nicht ausgeschlossen. Brasilien hofft auf den Binnenmarkt, Mexiko jammert über die von US-Präsident Obama ausgegebene „Buy American“-Devise und Hugo Chávez’ Sozialpolitik in Venezuela erlebt durch den Verfall des Ölpreises einen Härtetest. Wachsen wird 2009 mit Sicherheit nur der soziale Sprengstoff.
Er
ist ein unverbesserlicher Optimist: Brasiliens Präsident Luiz Inácio
Lula da Silva. „Brasilien wurde als letztes Land von der Krise erfasst,
es wird die Krise als erstes Land überwunden haben, und es wird danach
stärker als zuvor dastehen“, so Lulas Bericht zur Lage der Nation beim
regionalen Weltwirtschaftsforum Mitte April in Rio de Janeiro. Reines
Wunschdenken ist das nicht. Arbeitsminister Carlos Luppi macht bereits
eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt im Februar und März aus und
verweist auf die neuesten Statistiken vom Arbeitsministerium. Demnach
wurden in Lateinamerikas größter Volkswirtschaft im Februar bereits
wieder 9.000 Jobs mehr geschaffen als aufgegeben und im März soll sich
dieser Trend gar verstärkt haben, auch wenn noch keine exakten Zahlen
vorliegen. Sollte es sich dabei nicht nur um eine Zwischenerholung
handeln, hätte sich die Phase steigender Arbeitslosigkeit auf den
Zeitraum von Oktober 2008 bis Januar 2009 beschränkt – in der Tat
rekordverdächtig kurz. Brasilien wäre dann in Bezug auf die
Wirtschaftskrise, die laut Lula von „weißen Menschen mit blauen Augen,
die vor der Krise alles wussten und jetzt nichts mehr wissen“
heraufbeschworen wurde, mit einem blauen Auge davongekommen. Nur wäre
es nicht das erste Mal, dass sich Lula zu früh gefreut hätte. Brasilien
ist zwar für lateinamerikanische Verhältnisse relativ gut gegen die
Krise gewappnet, weil es einerseits dank eines streng regulierten
Bankensektors kaum in den Handel mit risikobehafteten Wertpapieren
verwickelt ist. Zum anderen verfügt es über eine ausdifferenzierte
Industriestruktur und einen großen Binnenmarkt, die über den Welthandel
übertragene externe Effekte abmildern. Aber ob das reicht, um einen
weiteren Einbruch zu vermeiden, ist äußerst fraglich, wo doch bei der
Weltwirtschaftskrise und dem Einbruch des Welthandels noch kein Ende
oder gar eine Trendwende abzusehen ist.
Brasilien ist für lateinamerikanische Verhältnisse relativ gut gegen die Krise gewappnet.
Brasiliens Export macht nur 13 Prozent der Wirtschaftsleistung aus,
kein Vergleich zu den 37 Prozent bei China, den 40 Prozent bei
Deutschland oder zu Mexiko und Venezuela, die auf Anteile von knapp
über 30 Prozent kommen. Dementsprechend differenziert stellen sich die
Krisenauswirkungen in Brasilien dar: Betroffen sind vor allem die
Auto-, Elektro- und die Bauindustrie sowie die Rohstoff- und
AgrarproduzentInnen, also Sektoren, die entweder stark vom Export oder
von Krediten abhängig sind. Denn eine Kreditklemme gibt es durch die
Krise auch in Brasilien, schließlich ist die Liquidität wegen des
Kapitalabzugs ausländischer Banken und den verstärkten Gewinntransfers
der Multinationalen Konzerne Richtung ihrer Hauptsitze eingeschränkt
worden. Die umgerechnet 100 Milliarden US-Dollar, die die
brasilianische Zentralbank in den Geldmarkt gepumpt hat, sind zwar mehr
als ein Tropfen auf den heißen Stein, doch um eine Kreditklemme zu
durchbrechen, ist mehr frisches Geld allein nicht ausreichend. Denn die
Banken werden erst dann wieder großzügiger Kredite vergeben, wenn sich
die Lage auf den Geldmärkten und die konjunkturellen Erwartungen
normalisiert haben. Allein, dass der viertgrößte Flugzeugbauer der
Welt, der brasilianische Konzern Embraer Mitte Februar angekündigt hat,
4.200 Stellen und damit rund 20 Prozent der Belegschaft abzubauen,
zeigt, dass in Bezug auf die globale Konjunktur die Erwartungen weiter
reichlich trübe sind. Und so ist durchaus denkbar, dass Lulas
Optimismus erneut Lügen gestraft wird, denn noch im September 2008
sagte er voraus, dass die Krise Brasilien bestenfalls in schwachen
Wellen erreichen würde.
Mexikos Präsident, Felipe Calderón, spart sich selbst den Optimismus.
Im Gegensatz zu Lula spart sich der Präsident von Lateinamerikas
zweitgrößter Volkswirtschaft, der mexikanische Staatschef Felipe
Calderón, selbst den Optimismus. Denn sein gemeinsames Bemühen mit
Kanadas Premierminister Stephen Harper, die „Buy American“-Klausel im
789-Milliarden-Dollar-Konjunkturpaket des mächtigen Nachbarn USA zu
verhindern, schlug fehl. Nun lautet die Formulierung, dass damit in den
USA bevorzugt US-amerikanische Waren gekauft werden sollen, sofern dies
nicht „US-amerikanische Verpflichtungen in internationalen Abkommen“
verletze. Darunter fallen zwar Verträge wie das Freihandelsabkommen
NAFTA mit Mexiko und Kanada, nur ob diese weiche Formulierung reicht,
um eine de facto Diskriminierung mexikanischer und kanadischer Anbieter
in den USA zu verhindern, ist fraglich, zumal jene im Zweifelsfall
einen juristisch handfesten Beweis für ihre Benachteiligung erbringen
müssten. So geht Mexiko schweren Zeiten entgegen, auch wenn der
Finanzsektor ähnlich wie in Brasilien relativ stabil erscheint und
Papiere mit verfallenem Wert nicht die Bilanzen der heimischen Banken
drücken. Doch in der Realwirtschaft sieht es umso düsterer aus, wo doch
zwischen 80 bis 90 Prozent des Außenhandels mit den USA abgewickelt
werden und deren Nachfrage aufgrund der Rezession auch nach
mexikanischen Gütern im Sinkflug ist. Selbst für das mexikanische
Finanzministerium ist ein Nullwachstum 2009 die höchste aller
Erwartungen – in einer nach unten offenen Erwartungsskala. Von Oktober
2008 bis Ende Februar 2009 sind in Mexiko 550.000 Arbeitsplätze
verloren gegangen, davon 52 Prozent in der verarbeitenden Industrie.
Besonders die Autobranche ist betroffen. Gleichzeitig schrumpfen die
remesas, die Überweisungen von MexikanerInnen aus dem Ausland an ihre
verbliebenen Angehörigen. Die 1,8 Prozent Wirtschaftsrückgang für das
Jahr 2008 nehmen sich noch relativ glimpflich aus, während die im
November und Dezember ausgewiesenen Rückgangsraten um zehn Prozent im
Vergleich zum Vorjahr zeigen, wohin die Reise geht – klar und deutlich
nach unten. Auch dass in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 sich 50
Prozent weniger MexikanerInnen gen Norden auf Jobsuche gemacht haben,
unterstreicht den Fakt, dass die zweitgrößte Devisenquelle Mexikos
künftig weniger sprudeln und die Rekordsumme von 25 Milliarden Dollar
2007 bis auf weiteres unerreichbar bleiben wird. Das übliche Muster,
dass eine Krise in Mexiko die Verwandten außerhalb zu noch mehr
Rücküberweisungen animiert, funktioniert nicht in einem Szenario der
Gleichzeitigkeit der Krisen in Zentrum und Peripherie. Damit können
Migration und remesas nur noch eingeschränkt ihre Rolle als informelles
soziales Auffangnetz erfüllen. Und mangels staatlicher Absicherung
dürfte Mexiko mit wachsendem sozialen Sprengstoff konfrontiert werden.
Dass Mexiko als erstes Schwellenland nach dem Londoner Weltfinanzgipfel
eine Kreditlinie beim neuen Topf für stabile und leistungsfähige
Schwellenländer des Internationalen Währungsfonds IWF beantragt hat,
zeigt, wie ernst die kommende Entwicklung eingeschätzt wird. Nach der
erteilten Bewilligung durch den IWF kann Mexiko nun auf einen
Rekordkredit von 47 Milliarden Dollar zugreifen, um der
Wirtschaftskrise gegenzusteuern.
Von Oktober 2008 bis Ende Februar 2009 sind in Mexiko 550.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.
Den bevorzugten IWF-Zugang von Mexiko haben die Staaten Zentralamerikas
und der Karibik nicht, jedoch eine durch die hohe Abhängigkeit von den
USA ähnliche Problemlage. Fast alle diese Länder erhalten von ihren in
den USA tätigen MigrantInnen Dollar-Überweisungen in Milliardenhöhe. El
Salvador hatte 2007 noch 3,8 Milliarden Dollar an remesas erhalten,
2008 waren es nur noch drei Milliarden. Die Rezession in den USA hat
schon Millionen Arbeitsplätze vernichtet und die US-Behörden verstärken
ihre Bemühungen, so genannte „illegale“ MigrantInnen zurückzuschicken.
Die armen Länder der Region drängen Washington hingegen, die Migration
zu regeln und die „illegalen“ MigrantInnen nicht weiter in Massen
auszuweisen. Die Befürchtung, dass dies zu wachsender sozialer Not
führen wird, die in Unruhen münden könnte, ist nachvollziehbar. Obama
hat zwar angekündigt, das Problem angehen zu wollen, angesichts der
vielen Baustellen, die der US-Präsident offen hat, dürfte es indes
nicht seine größte Priorität haben.
Statistisch mit die größten Erfolge beim Kampf gegen die Armut in
Lateinamerika kann Venezuelas Präsident Hugo Chávez vorweisen. Seit
seinem Amtsantritt Anfang 1999 ist die Armut unter der venezolanischen
Bevölkerung in der vergangenen Dekade um 24,5 Prozent auf 26 Prozent
gefallen, gab das Nationale Statistikinstitut Venezuelas INE zum
Jahresende 2008 bekannt. Nichtstaatliche Statistiken mögen das weniger
deutlich belegen, doch einen Rückgang der Armut durch die
Umverteilungspolitik von Hugo Chávez stellt niemand in Abrede. Sowenig,
wie dass ihr fortan aufs Erste engere Grenzen vom Weltmarkt gesetzt
werden. Mit rund 50 Prozent sind die Gewinne aus dem Ölexport die
Haupteinnahmequelle des Landes. Die gewöhnlich auf einem vorsichtig
kalkulierten Ölpreis basierende Haushaltsrechnung geht 2009 mit hoher
Wahrscheinlichkeit jedoch nicht auf. Die zugrunde gelegten 60 Dollar
pro Barrel (159 Liter) liegen deutlich über dem derzeitigen Niveau von
rund 40 Dollar, und da ein Ende der Wirtschaftskrise nicht in Sicht
ist, stehen die Aussichten auf eine kurzfristige Erholung des Ölpreises
schlecht. Chávez hat darauf im März bereits mit einem Maßnahmenpaket
reagiert, das er in einer von allen Rundfunk- und Fernsehsendern des
Landes übertragenen Ansprache ankündigte. Kernbestandteile sind eine
Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte, die sozial durch
eine Erhöhung des Mindestlohns um 20 Prozent abgefedert wird, sowie
eine Neuberechnung des nationalen Haushalts auf der Grundlage eines
angenommenen Erdölpreises von 40 Dollar.
„Die Maßnahmen sollen Beschäftigung, die Stärke des Landes und die
Stabilität sichern und es uns ermöglichen, unsere Wirtschaft zu stärken
und die Kraft weiter auszubauen, die wir bereits erreicht haben, indem
wir in der selben Richtung weitergehen“, so Chávez. Deswegen werden
auch die Mittel für die sozialen Missionen nicht gekürzt. Dank der
üppigen Petrodollars aus den Boomjahren und den damit verbundenen
geringen Anleihen kann Venezuela eine Durststrecke mittels höherer
Staatsverschuldung aufs Erste relativ problemlos überbrücken. Das
Haushaltsdefizit steigt gegenüber dem für 2009 vorgesehenen von
umgerechnet 4,1 Milliarden Euro auf 11,7 Milliarden Euro, verkraftbar
angesichts des geringen Grades der Verschuldung des venezolanischen
Staates, die unter 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegt. Dies
ist beispielsweise immer noch um zwei Drittel weniger als die maximalen
60 Prozent Verschuldung, die der Maastricht-Vertrag für die EU-Länder
vorgibt.
Summa summarum gilt für Lateinamerika, dass selbst wenn die
Weltwirtschaftskrise glimpflich verlaufen sollte und nicht in eine
tiefe Rezession mündet, die mühsamen Erfolge bei der Armutsbekämpfung
aus den Boomjahren wieder aufgezehrt werden. Denn die Nachfrage nach
Waren und Rohstoffen aus der Region ist stark eingebrochen. Die
Weltbank rechnet für Lateinamerika mit mindestens sechs Millionen
weiteren Menschen, die in die Armut abstürzen. 200 Millionen Menschen
teilen dieses Los ohnehin schon. Daran hat der Boom der letzten Jahre
nur wenig geändert. Die Linksregierungen von Brasilien über Bolivien
bis hin zu Venezuela bleiben gefordert – in und nach der Krise, wann
immer das auch sein wird.
Ausgabe: Nummer 419 - Mai 2009