Christentum und Fundamentalismus

Ein Symposium raisonniert zum 70. Geburtstag des Historikers Lutz Niethammer über die "Produktivkraft Sünde"

Als die Teilnehmer des Symposions über „Das Religiöse und die Geschichte“ zu Wein und Speisen aufbrachen, meldete sich als letzter Redner der Tagung Alexander von Platow noch zu Wort. Der Historiker, der einst in der maoistischen KPD der siebziger Jahre zur Auseinandersetzung mit sozialdemokratischen Historikern „jedem Genossen das Rüstzeug für eine Bekämpfung des Rechtsopportunismus an die Hand geben“ wollte, beklagte nun, daß auf der Konferenz zu Lutz Niethammers 70. Geburtstag im Schloß Dornburg bei Jena von „Frömmigkeit“ nicht die Rede war. Eine Volkskundeprofessorin tröstete ihn beim Ende der Diskussion mit dem Zwischenruf „Wir fangen grade erst an“, und man schritt zum Gastmahl der von Rainer Gries und Silke Satjukow organisierten Tagung.

„Die Macht der Religionen“ meldete 2004 ein Buchtitel. Ebenfalls 2004 schrieben Friedrich Wilhelm Graf über „Die Wiederkehr der Götter“ und Paul Nolte über die „Rückkehr der Religion“. Jetzt haben wir Gipfeltreffen zum Afghanistankrieg zwischen Verteidigungsminister und EKD-Ratsvorsitzender, in Thüringen die Pastorin Christine Lieberknecht als Ministerpräsidentin, den Diplom-Theologen Christoph Matschie als ihren Koalitionspartner und den religionspolitischen Sprecher der Linkspartei, nein: nicht Christian, sondern Bodo Ramelow (mitunter Kreuzrittermentalität zeigend), als Oppositionsführer und bekennenden Christ. Da paßt es, daß auf einem Thüringer Schloß die Zeitgeschichte dem bisher ignorierten Religiösen Einlaß gewährte. Noch 1979 kam dies in Hans-Ulrich Wehlers Darstellung „Geschichtswissenschaft heute“ allein in der Etikettierung Fritz Fischers als „ehemaliger Theologe“ vor. Obwohl soziale Marktwirtschaft kaum ohne katholische Soziallehre und, eine Reminiszenz zu Novalis „Die Christenheit oder Europa“, europäische Einigung nicht ohne katholische Vorreiter – Brüssel als ein Rom in anderer Gestalt – vorstellbar sind.

Als ehemaliger Theologiestudent bekannte Niethammer: „Heilige Texte liest man dermaßen sorgfältig, wie das die Historiker mit ihren Texten eigentlich auch tun sollten, aber meistens nicht tun.“ Die „Produktivkraft Sünde“ war sein Thema. Er zitierte Kants Schilderung des Menschen als triebhaften Automaten, dominiert von „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“, und Vico, nach dem die göttliche Vorsehung „aus der Grausamkeit, der Habsucht und dem Ehrgeiz – den drei Lastern, die das ganze Menschengeschlecht verwirren – das Militär, den Handel und den Hof und damit die Stärke, den Reichtum und die Weisheit der Staaten“ machen. Auch Adam Smith’ „unsichtbare Hand“ sowie Mandevilles „Bienenfabel“ – all das wendete Niethammer gegen Max Weber: Nicht Askese, sondern Laster als Geburtshelfer der bürgerlichen Gesellschaft? Er zitierte Mandeville:

„für Tugend hat’s
in großen Staaten nicht viel Platz.
Mit möglichstem Komfort zu leben,
im Krieg zu glänzen und doch zu streben,
von Lastern frei zu sein, wird nie
Was andres sein als Utopie.
Stolz, Luxus und Betrügerei
Muss sein, damit ein Volk gedeih’.
Quält uns der Hunger oft auch grässlich,
zum Leben ist er unerlässlich.“

Auch wie dieser nach Ausführungen über die Fruchtbarkeit eines gestutzten Weinstocks fortfährt:

„Genauso uns das Laster nutzt,
Wenn das Gesetz es kappt und stutzt.
Ja, ist so wenig aufzugeben,
Für Völker, die nach Größe streben,
Wie Hunger ist, damit sie leben.
Mit Tugend bloß, kommt man nicht weit“.

Heiko Ernsts Bestseller „Wie uns der Teufel reitet“ über die Aktualität der Todsünden, übersetzt für Historiker. Niethammer rügte das Fehlen einer vergleichende Sündenforschung. Auf der Suche nach dem ethischen Minimum der Weltreligionen habe ihn der Forschungsstand überrascht („noch älter als ich“): Gustav Mensching Werk „Gut und Böse im Glauben der Völker“ von 1941 sei unübertroffen.

Während Dan Diner (Jerusalem) Säkularisierungen neu bedenken wollte und doch nur das Schreckbild des islamischen Fundamentalismus präsentierte, faszinierte der Vortrag von Hans G. Kippenberg (Bremen) über religiöse Gewalthandlungen, die er nicht im Nahen Osten oder fernen Afghanistan, sondern in „westlichen“ Kulturkreis aufspürte: Als 1993 im texanischen Waco die Staatsmacht eine adventistische Sekte mit Panzern und Maschinengewehren angriff (Foto oben), gab es 74 Tote. Ein „Missverständnis“, eine vermeidbare Eskalation, hätte man religionswissenschaftlichen Rat akzeptiert. Auch Niethammer warnte, „Sündenfragen nur an den Diktaturen abzuarbeiten“, und empfahl, die Sündhaftigkeit des eigenen Systems zu bedenken, eine „semantische Reise“ zu unternehmen, Stärken unserer Gesellschaft in der Diktion der Aufklärung zu formulieren – „Geiz“ und „Hochmut“ zu beklagen ist seit der Finanzkrise populär – und so das Fremde im Eigenen zu erkennen: „Interkulturelle Verständigungen können durch semantische Reisen in der historischen Zeitmaschine geübt werden – intertemporale Reflexivität als eine Art Heimtrainer für globale Verständigungen.“

Klaus-Michael Kodalle (Jena) widmete sich Modellen protestantischer Geschichtstheologie im 20. Jahrhundert. Eingedenk der von Niethammer und Diner für „erledigt“ erklärten, aber von Bernd Weisbrod (Göttingen) angemahnten Befassung mit Carl Schmitts „Politischer Theologie“, kam Kodalle „außerplanmäßig“ auf Erik Peterson, der als Antipode Carl Schmitts 1935 die „Unmöglichkeit“ einer Politischen Theologie erweisen wollte, zu sprechen. Kodalle zeigte, wie der Hitler-Gegner Peterson in seinem Traktat „Die Kirche aus Juden und Heiden“ 1933 die Disqualifikation der Juden begründete, die sich „nicht wundern“ müßten, daß sie in „die Schlinge“ treten. Kodalles eigentliches Thema war die Geschichtstheologie von Karl Heim und Paul Tillich. Heim, dem 1953 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde, hatte angesichts des Nationalsozialismus die Auslese einer neuen Menschheit begrüßt; nach 1945 erschien sein Werk mit nur einer kleinen Korrektur wieder: Hitler war nicht mehr „messianisch“, sondern „dämonisch“. Paul Tillich schrieb 1932 in „Die sozialistische Entscheidung“: „Jede nationale sozialistische Verwirklichung bedeutet mehr für den Sozialismus in der Welt als alles utopische Reden von der Weltrevolution.“ Er versuchte, die Linke für „ursprungsmythische Mächte“ wie Blut und Boden zu interessieren, die er nicht der Rechten überlassen wollte. Man muss nicht nach Waco schauen, um die Präsenz des Eschatologischen in der Geschichtsdeutung zu entdecken.

[Artikel wurde ursprünglich für eine große überregionale Zeitung geschrieben und erscheint hier in etwas erweiterter Fassung]