Auf halbem Wege - Kritische Anmerkungen zum Friedensgutachten 2009

Mit Spannung und großer Erwartung sieht man den jährlichen „Friedensgutachten“ der fünf großen deutschen Friedensforschungsinstitute entgegen. Erweisen sie sich doch immer als nützliche Fundgrube für friedenswissenschaftliche Analysen und Einschätzungen globaler oder regionaler Konflikte. Und spannend ist jedes Mal die Frage, welche gemeinsamen politischen Positionen die Friedensforscher/innen zu den zentralen friedenspolitischen Auseinandersetzungen hier zu Lande beziehen. Den Friedensgutachten ist nämlich jeweils eine „Gemeinsame Stellungnahme“ der fünf Herausgeber/innen vorangestellt, die in etwa Auskunft gibt über die politische Position der Autoren sowie über die an die Politik gerichteten Empfehlungen. 


Im Friedensgutachten 2009 nimmt der Afghanistankrieg einen herausgehobenen Platz ein. Gut siebeneinhalb Jahre nach Beginn des Krieges herrscht allenthalben großes Erstaunen und ebenso großes Entsetzen über die Erfolglosigkeit des bisherigen Krieges, an dem immerhin fast 40 Staaten auf Seiten der NATO beteiligt sind. Jede seriöse Expertise spricht mittlerweile von der Ausweglosigkeit des Krieges. Auch das Friedensgutachten 2009 stellt lakonisch fest, dass der Krieg „militärisch nicht zu gewinnen“ sei (S. 3). Aus diesem Grund wird einleitend der grundsätzlichen Frage nachgegangen, wie Kriege heutzutage zu beenden sind – Kriege, die sich von konventionellen Kriegen vor allem dadurch unterscheiden, dass sie innerstaatlich geführt werden und dass sich in ihnen keine regulären Armeen gegenüberstehen. Eine Verstärkung der Truppen, wie sie derzeit von den USA gefordert und vorgenommen wird, kann unter solchen Umständen kein realistischer Ansatz für einen militärischen Erfolg darstellen. Da in den modernen Kriegen die Bevölkerung „im Zentrum“ steht, „als Subjekt wie als Objekt“, liegt der Schlüssel zum Erfolg in der Unterstützung durch die Bevölkerung. Ein Staat oder eine Staatsgewalt, die von der Bevölkerung abgelehnt wird, kann daher auch mit noch so vielen Interventionstruppen nicht verteidigt werden.


Statt sein Heil in noch mehr Truppen zu suchen, sollte mehr Augenmerk darauf gelenkt werden, eine „bürgernahe Staatlichkeit“ zu stärken, und zwar nicht nur auf der zentralstaatlichen Ebene (Kabul), sondern auf allen politischen Gliederungsebenen sowie in der Gesellschaft insgesamt. Die Autoren des Friedensgutachtens sprechen hier von „gesellschaftlichen Governance-Strukturen“, die „von der Hauptstadt bis in die Dörfer reichen“ müssten, „um die Bevölkerung für sich zu gewinnen“ (S. 4). In der Lageanalyse wird davon ausgegangen, dass das gegenwärtige Regime in Kabul so sehr auf „Korruption“, „Überzentralisierung“ (hier sollte man besser von Scheinzentralisierung sprechen), „Drogenhandel“ und Kumpanei mit autokratischen Warlords beruht, dass es keinerlei Legitimation in der Bevölkerung genießt (S. 6 f.). Gleichwohl wird als Strategie vorgeschlagen, dass „der Staat in den Provinzen und Dörfern agiert“. Gelingt dies und sehen die Menschen ihre Interessen im Staat „zumindest teilweise aufgehoben“, dann könne ausländisches Militär auch zur „Befriedung“ der Situation beitragen.


Diese immer noch relativ abstrakte Behauptung eines positiven Zusammenhangs vom Aufbau ziviler Staatlichkeit und dessen militärischer Unterstützung findet nicht nur keine Entsprechung in der afghanischen Wirklichkeit, sondern lässt auch vollkommen außer Acht, dass die militärische Besatzung selbst eine Quelle von Instabilität und fortdauerndem Krieg ist. In einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung und des National Centre for Policy Research (NCPR) der Universität Kabul im April 2009 durchgeführten Befragung von mehr als 5 000 Personen in fünf Provinzen Afghanistans haben 64 Prozent jedes Vertrauen in die Rolle der ISAF als Sicherheitsgarantie verloren. 62 Prozent nahmen ISAF als militärische Besatzer wahr. Wäre es angesichts solcher Befunde nicht naheliegend, einen Abzug der Besatzungstruppen aus Afghanistan ins Auge zu fassen? Weder in der „Gemeinsamen Stellungnahme“ noch in der Einzelanalyse von Michael Brzoska und Hans-Georg Ehrhart (S. 60-72) können sich die Herausgeber bzw. Verfasser zu solch einer Forderung aufschwingen. So bleiben die gut gemeinten Vorschläge, die auf eine gestärkte Zivilstaatlichkeit in Afghanistan abzielen, unrealistisch, solange nicht gleichzeitig die Beendigung der Besatzung gefordert wird.


Schlüssiger ist der Abschnitt in der Stellungnahme, der sich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt befasst. Vor allem die Hervorhebung der Verantwortung des Westens (hier: USA und EU/Bundesrepublik) für einen Neuanfang des Friedensprozesses verdient Beachtung. Weder Israel noch die gespaltenen palästinensischen Kräfte sind in der Lage, entscheidende Initiativen zu einer Lösung des Jahrzehnte dauernden Konflikts zu ergreifen. Daher muss Druck von außen kommen. Den Palästinensern müsse klar gemacht werden, dass sie auf Gewalt verzichten und sich eine Zweistaatenlösung im Sinne der Friedensinitiative der Arabischen Liga von 2002 zu eigen machen. Dies könnte helfen, die innerpalästinensische Spaltung zu überwinden und eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, die dann ein quasi „vor-staatliches Gewaltmonopol“ wieder erlangen könnte. In Bezug auf Israel sind andere Mittel nötig. Die neue US-Administration, die mit der Ernennung des Sonderbeauftragten für den Nahen Osten, George Mitchell, ein deutliches Signal aussandte, insbesondere die israelische Siedlungspolitik nicht mehr bedingungslos zu unterstützen, bedarf der flankierenden Einflussnahme der Europäischen Union. Eine Vertiefung der EU-Nachbarschaftspolitik müsse davon abhängig gemacht werden, dass Israel den völkerrechtswidrigen Siedlungs- und Mauerbau in der Westbank stoppt. Darüber hinaus müsse die Praxis vieler EU-Staaten einschließlich der BRD beendet werden, Waffen an Israel zu liefern. Der EU-Verhaltenskodex, der die Ausfuhr von Waffen untersagt, wenn die Gefahr besteht, dass ihr Einsatz das Kriegsvölkerrecht verletzt (was im Gaza-Krieg nachweislich geschehen ist), und die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung aus dem Jahr 2000, wonach keine Waffen in Spannungsgebiete geliefert werden dürfen, bieten genügend Handhabe für ein generelles Waffenembargo.


In den Einzelanalysen des Friedensgutachtens werden zahlreiche weitere bewaffnete Konflikte unter die Lupe genommen – immer unter der Fragestelllung, wie sie zu beenden sind. So unterschiedlich die Antworten im Einzelnen auch ausfallen, so überwiegt doch die Überzeugung, dass dem militärischen Faktor nur eine geringe Bedeutung zufällt. Die spürbare Verbesserung von Lebensbedingungen, die Initiierung oder Unterstützung von Versöhnungsprozessen, die stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft an den öffentlichen/staatlichen Entscheidungen („Demokratisierung“) oder die „Zerlegung“ von Konflikten in einzelne Teile können nach Auffassung der Autorinnen und Autoren geeignete Schritte zum Frieden sein. Etwas aus dem Rahmen fällt der Beitrag zum Sudan, worin sowohl dem umstrittenen Konzept der Schutzverantwortung („Responsibility to Protect“) als auch der völkerrechtswidrigen Sezession das Wort geredet wird. Z.B. wird in dem Beitrag behauptet, die UN-Generalversammlung habe beim Weltgipfel 2005 das RtP-Konzept „beschlossen“ (S. 124). Verwiesen wird dabei auf Ziffer 138 der Gipfelerklärung, die allerdings nur die Verantwortung der einzelnen Staaten zum Schutz ihrer Bevölkerung anspricht. Die Internationale Verantwortung dagegen wird jedoch erst in Ziffer 139 genannt, und hier ausdrücklich an die UNO-Charta gebunden und lediglich mit einem Prüfauftrag an die Vereinten Nationen versehen.


Das Gutachten 2009 der großen deutschen Friedensforschungsinstitute ist ein neuerlicher Beleg dafür, dass Friedensforschung nicht unbedingt etwas mit Pazifismus zu tun haben muss. Manche Autorinnen und Autoren haben zum Militär ein instrumentelles Verhältnis: Es wird als legitimes Mittel zur Konfliktbearbeitung behandelt, wenn es denn „sein muss“ bzw. wenn das Vertrauen in die nicht-militärischen Mittel schwindet. Dabei zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass der Erfolg militärischer Eingriffe von außen relativ gering ist und vor allem dann nicht sich einstellt, wenn die Konfliktursachen „ziviler“ Natur sind, sich also aus ökonomischen, sozialen und politischen Problemen, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten speisen, denen kein Militär der Welt beizukommen vermag. Und da viele Konflikte dieser Welt immer noch von den reichen Ländern des Westens/Nordens verursacht sind, ist es geradezu obszön zu verlangen, dass sie nun militärisch ausbügeln, was ihre ältere Kolonialgeschichte und das jüngere neoliberale Diktat durch IWF und Weltbank angerichtet haben. Das Friedensgutachten 2009 ist nicht ganz frei von solchen Aporien – bleibt aber – neben den jährlichen Veröffentlichungen des ÖSFK (Friedensbericht und die Protokollbände der ÖSFK-Sommerakademie) das wichtigste Jahrbuch der deutschsprachigen Friedensforschung.