Wochen nach dem Finanzmarkt-Crash ist noch völlig unklar, wie hoch die Kosten der Krise sein werden. Der Internationale Währungsfonds bezifferte sie auf etwa 1,4 Billionen US-Dollar, der Chef der Bank of England sogar auf 2,8 Billionen US-Dollar. Es könnte aber auch noch viel schlimmer kommen. Das hängt von den jetzt dringend benötigten staatlichen Interventionen in die Märkte ab. Hiermit verbunden ist ein ökonomischer Paradigmenwechsel. Seit etwa drei Jahrzehnten herrschte weltweit der Glaube an die sogenannten Selbstheilungskräfte des Marktes auf allen gesellschaftlichen Feldern. Diese ökonomische Irrlehre ist mit der weltweit tobenden Wirtschaftskrise endgültig widerlegt worden. Eigentlich hatte darüber schon die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 Klarheit geschaffen. Damals erlebte der liberale Marktradikalismus bereits seinen größten anzunehmenden Unfall. Und nach dem Zweiten Weltkrieg war sich die polit-ökonomische Weltgemeinschaft zumindest bis Mitte der 1970er Jahre - bis zur monetaristischen Konterrevolution eines Milton Friedman gegen den staatsintervenierenden Keynesianismus - darin einig, daß Wettbewerb und Märkte weder zu Vollbeschäftigung noch zu ökologischer Nachhaltigkeit tendieren, geschweige denn eine Beteiligung der Beschäftigten am Produktivitätsfortschritt garantieren.
Gerade weil der Markt keine Vollbeschäftigung, kein ökologisches Gleichgewicht und keine Verteilungsneutralität garantiert, erhob die herrschende Kapitalschicht mit ihren Interessenvertretern in den Parlamenten ein nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in die ökonomische Mottenkiste verbanntes reines Markt- und Wettbewerbsparadigma seit Mitte der 1970er Jahre wieder zur dominierenden Wirtschaftspolitik. Doch jetzt macht die Weltwirtschaftskrise die Neoliberalen zu Wendehälsen. Wollten sie vor Wochen den Staat am liebsten noch abschaffen, so rufen sie heute nach massiven Staatsinterventionen in den versagenden Marktmechanismus. Die vormals Neoliberalen wurden über Nacht zu Keynesianern, selbst Josef Ackermann von der Deutschen Bank konvertierte. »Kaum blickte ihnen die Krise fest ins Auge, senkten sie den Blick und schlugen sich, ihre neoliberalen Banner eingerollt, in die Büsche«, schrieb zu Recht die Süddeutsche Zeitung.
Doch die Neoliberalen sind nur abgetaucht. Sobald die Wirtschaftskrise einigermaßen überwunden ist, werden sie wieder mit den alten marktradikalen Botschaften auftauchen. Nach aller Erfahrung werden sie dann die krisenbedingt zunehmende Staatsverschuldung für ihre Profitinteressen instrumentalisieren und weitere noch heftigere Angriffe gegen den Sozialstaat, die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten führen.
Um so notwendiger ist es, die Ursache der Finanzmarktkrise in Erinnerung zu behalten: den weltweit praktizierten Neoliberalismus, der für die Wirtschaftspolitik nur eine einzige Zielorientierung kennt: Umverteilung von unten nach oben. Eine ökonomisch differenziertere Antwort auf die Frage nach der Ursache der Krise umfaßt zwei neoliberal geschaffene weltweite Ungleichgewichte. Das erste Ungleichgewicht besteht in der globalen Realwirtschaft zwischen Produktion und Konsum. Länder mit großen Exportüberschüssen (allen voran Deutschland als »Exportweltmeister«, China, Südostasien, aber auch Rußland) verbrauchen weniger, als sie herstellen. Diese Länder leben demnach unter ihren ökonomisch geschaffenen Verhältnissen. Ihnen stehen Volkswirtschaften gegenüber, vor allen die USA, die mehr konsumieren, als sie produzieren, und daher Leistungsbilanzdefizite aufweisen. Sie leben über ihre Verhältnisse. Kein Land der Erde hat eine solch hohe Auslandsverschuldung aufgebaut wie die USA.
In den Unterkonsumtionsländern stiegen die realen Löhne nicht mit der Produktivität. Aber auch in den konsumlastigen Volkswirtschaften wie den USA stagnierten oder sanken die Löhne der ärmeren Bevölkerung, während Kapitaleinkommen und Spitzengehälter explodierten. Diese hohen Einkommen werden zumeist nicht für den Konsum genutzt, sondern überwiegend gespart.
Schauen wir uns die Einkommensentwicklung in Deutschland an: Die Brutto-Lohnquote vor staatlicher Umverteilung ging seit der deutschen Wiedervereinigung von 71,0 Prozent auf 63,7 Prozent im ersten Halbjahr 2008 zurück, also um 7,3 Prozentpunkte.
Extreme Ausmaße nahm die Umverteilung seit dem Zusammenbruch der sogenannten New Economy im Jahr 2001 an. Von 2002 bis 2007 wurde Deutschland um insgesamt 266,2 Milliarden Euro reicher. Dies war der absolute Zuwachs des Volkseinkommens. Davon gingen 203,3 Milliarden Euro oder 76,4 Prozent an die Einkommensempfänger, also an diejenigen, die Gewinn-, Zins- oder Miet- und Pachteinkommen beziehen. Nur 23,6 Prozent entfielen auf die abhängig Beschäftigten in Deutschland. Eine drastische Einkommensumverteilung. Arm und Reich entfernen sich immer weiter voneinander Schon jetzt gelten etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung, also gut acht Millionen Menschen, als »abgehängtes Prekariat«.
Aus Einkommen entsteht Vermögen und aus Vermögen wiederum zusätzliches Einkommen - ein Zinses-Zins-Effekt. Auch hier zeigt uns die Statistik in Deutschland eine krasse Ungleichverteilung. In den vergangenen 17 Jahren verdreifachte sich das Nettogeldvermögen (Bruttogeldvermögen minus sämtlicher Schulden) auf gut drei Billionen Euro im Jahr 2007. Weltweit stieg das private Nettogeldvermögen allein zwischen 1999 und 2007 von 71,5 Billionen US-Dollar auf 105 Billionen US-Dollar, also um fast 50 Prozent. Das gesamte private Nettovermögen in Deutschland, neben dem Nettogeldvermögen das Produktivkapital und das Immobilienvermögen, beläuft sich auf 5,4 Billionen Euro - ebenfalls extrem ungleich verteilt: 30 Prozent der privaten Haushalte in Deutschland halten fast das gesamte Vermögen, während zwei Drittel der privaten Haushalte über kein oder nur sehr geringes Vermögen verfügen. Aber auch in allen anderen Volkswirtschaften der Welt sind Einkommen und Vermögen ungleich verteilt, am schlimmsten in den Entwicklungs- und kapitalistischen Schwellenländern.
Neben dem Markt betätigte sich auch der Staat als Umverteiler zu Gunsten der Besitzenden: durch eine ungerechte Steuer- und Sozialabgabenpolitik, die einseitig die unteren und mittleren Schichten belastete. Der Staat erhöhte die indirekten Verbrauchsteuern und gab sich dafür mit geringeren Einnahmen aus direkten Gewinn-, Einkommen- und Vermögensteuern zufrieden. Die Massensteuern, also die Lohn- und Verbrauchssteuern, hatten in Deutschland in den 1960er Jahren am gesamten Steueraufkommen einen Anteil von gut 30 Prozent. 70 Prozent stammten aus Gewinn-, Einkommens- und Vermögenssteuern. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt: Jetzt liegt der Anteil der Massensteuern bei 70 Prozent.
Ähnlich sorgt auch die Sozialabgabenpolitik für Umverteilung von unten nach oben. Noch immer setzen sich führende Politiker dafür ein, die gesetzlichen Lohnnebenkosten zu senken. Die Arbeitskraft soll verbilligt werden. Diese Politik führte zu einer Teilprivatisierung der Rente. So haben sich weltweit die in Pensionsfonds für die Alterssicherung angelegten Gelder von 1992 bis 2006 von knapp fünf Billionen US-Dollar auf nahezu 23 Billionen US-Dollar mehr als vervierfacht. Je weniger von der gesetzlichen Rentenversicherung übrig bleibt, desto mehr Gelder fließen in die Finanzmärkte. Durch Privatisierung und Entsolidarisierung wurde auch die gesetzliche Krankenversicherung geschwächt. Gleiches geschah in der Arbeitslosenversicherung, siehe »Hartz IV«. So wurde die Steuer- und Abgabenquote (also Steuern und Sozialabgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) dermaßen abgesenkt, daß Deutschland heute unter den OECD-Ländern lediglich an 16. Stelle steht. Alle Hauptkonkurrenten, mit Ausnahme der USA, haben höhere Steuer- und Abgabenquoten. Deutschland kam 2006 auf 35,7 Prozent, Frankreich, unser größter Handelspartner, auf 44,5 Prozent. Schweden liegt bei 50,1 Prozent, Italien bei 42,7 Prozent, Österreich bei 41,9 Prozent, Großbritannien bei 37,4 Prozent. Die US-amerikanische Quote beträgt 25,7 Prozent.
Das Ergebnis dieser doppelten staatlichen Umverteilung über Steuern und Sozialabgaben zeigt sich auch in der Netto-Lohnquote. Diese ist in Deutschland seit 1991, also seit der Wiedervereinigung, von 40,3 Prozent auf 33 Prozent im ersten Halbjahr 2008 abgestürzt, während die Netto-Gewinnquote im selben Zeitraum von 25 Prozent auf 30 Prozent gestiegen ist (jeweils auf das Volkseinkommen bezogen). Der Staat hat also die Primärverteilung, die immer - schon auf Grund asymmetrischer Machtverhältnisse auf dem Markt - ungerecht ist, nicht etwa berichtigt, er hat nicht für Ausgleich gesorgt, wie es seine verfassungsrechtliche Aufgabe ist (»Sozialstaat«), sondern er hat die Verteilung zu Lasten der Masse der abhängig Beschäftigten noch verschlechtert. Er hat Öl ins Feuer gegossen und damit ein kontraproduktives wirtschaftliches Ergebnis bewirkt.
Neben der geschilderten primären und der sekundären Umverteilung fand und findet noch eine dritte statt: Durch Zunahme der Staatsverschuldung wächst die öffentliche Armut. Die Steuer- und Sozialabgabenausfälle - auch auf Grund einer seit gut dreißig Jahren in Deutschland bestehenden Massenarbeitslosigkeit (s. Friedrich Wolffs Überlegungen in Ossietzky 1/09) - konnten nicht durch Senkungen der Staatsausgaben kompensiert werden. Hier wirken sich auch die Konjunkturzyklen aus. Im Abschwung fördert der Staat das Wachstum, verzichtet zu diesem Zweck auf Steuereinnahmen und nimmt dafür zusätzliche Schulden auf. Die zuvor Einkommens- und Steuerbegünstigten geben gern ihre so gewonnenen Ersparnisse an den Staat in Form von Krediten zurück und erhalten dafür selbstverständlich Zinsen. Dies ist dann die dritte Form der Umverteilung von unten nach oben. Im Jahr 2007 mußte der Staat allein an Zinsen fast 70 Milliarden Euro aufbringen. Zum Vergleich: Die gesamten gewinnabhängigen Steuern (Körperschaftsteuer, veranlagte Einkommensteuer und nicht veranlagte Steuern vom Ertrag) lagen 2007 nur bei knapp 62 Milliarden Euro. Selbst wenn man dazu noch die Gewerbesteuer in Höhe von 40 Milliarden Euro und die Erbschaftsteuer mit gut vier Milliarden Euro zählt, zeigt sich hier, in welche unerträgliche Einnahmen- und Ausgabensituation der Staat gerät, wenn nur zwei Drittel seiner Zinsausgaben durch Gewinn- und Vermögenssteuern abgedeckt werden.
Der Staat (Bund, Länder und Gemeinden) hätte zwischen 2000 und 2008 insgesamt 247 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen verbuchen können, hätte er nicht ab 2000 eine von unten nach oben umverteilende Steuerpolitik betrieben, die entgegen allen Ankündigungen der Neoliberalen nicht zu mehr Investitionen und Beschäftigung geführt hat. Im Gegenteil: Investitionen und Beschäftigung gingen zurück, und der Niedriglohnsektor weitete sich aus. Heute arbeiten in diesem Bereich mehr als 6,6 Millionen Menschen. Betrug der Anteil der Niedriglohnempfänger an der Gesamtheit der abhängig Beschäftigten 1995 noch 15 Prozent, so liegt er heute bei fast 25 Prozent - Tendenz weiter steigend.
Im nächsten Heft wird Heinz-J. Bontrup das weltweite Ungleichgewicht zwischen Real- und Finanzwirtschaft als weitere Ursache der Krise analysieren.