Gentests als Lifestyle-Phänomen

Allround-Gentests für jedermann

Seit Ende letzten Jahres sind neue Allround-Gentests Online erhältlich - von Anbietern mit so wohlklingenden Namen wie deCODEme oder 23andMe. In welche Trends direkt vermarkteter Gentests reihen sie sich ein? Welches Marktpotenzial haben solche Tests? Und welche Probleme des Datenschutzes gibt es?

GID 189, August 2008, S. 35-40


Seit einigen Jahren ist das Aufkommen einer spezifischen Art von prädiktiven Genanalysen zu beobachten, die die britische Human Genetics Commission (2007: 3) als „`lifestyle` tests“ bezeichnet hat. Trendsetter war die Kosmetikkette Body Shop, die bereits 2001 in einer Reihe ihrer Filialen eine Erbgut-Analyse anbot, die von der britischen Firma Sciona entwickelt wurde. You & Your Genes hieß das Verfahren, bei dem insgesamt neun Gene auf krank-heitsrelevante Abweichungen hin untersucht wurden. Von der Markt-einführung im Dezember 2001 bis zum März 2002 ließen etwa 300 Menschen aus Großbritannien und anderen Ländern ihr Erbgut mittels des von Sciona angebotenen Verfahrens untersuchen. Der Test sollte Aufschluss über die Entgiftungskapazität des Körpers und damit eventuell in Zusammenhang stehende, erhöhte Krankheitsrisiken geben, um Ernährungsgewohnheiten und Lebensstil entsprechend anzupassen. Nach Protesten nahm Body Shop den Test schließlich wieder aus dem Angebot. Es stellte sich nämlich heraus, dass das Untersuchungsverfahren wenig aussagekräftig war, da es nur einen äußerst vagen Zusammenhang zwischen den analysierten Genveränderungen und den postulierten Gesundheitsrisiken gab (Blech 2002; Groß 2002).
Obwohl der klinische Nutzen der angebotenen Genanalysen bis heute meist zweifelhaft ist, boomt inzwischen das Geschäft mit der direkten Vermarktung genetischer Tests („direct-to-consumer“: DTC). Ihre Besonderheit besteht darin, dass die Tests vom Anbieter durchgeführt werden, ohne einen Arzt einzuschalten (einige Unternehmen kooperieren mit Ärzten oder Beratern, die Testinteressierten Auskunft geben und ihnen für eine Vor- und Nachtestberatung zur Verfügung stehen). Für die Testpersonen hat dies den Vorteil, dass sie Arztbesuche und Wartezeiten vermeiden können und die Ergebnisse nicht in der Patientenakte erscheinen – eine Tatsache, die sich bei einem zukünftigen Abschluss von Versicherungsverträgen als vorteilhaft erweisen könnte.

Für großes Aufsehen sorgte Ende 2007 die Gründung des US-amerikanischen Gendiagnostik-Anbieters 23andMe. Die Firma bietet für 999 US Dollar plus Versandkosten eine DNA-Analyse über das Internet an. Interessierte können feststellen lassen, wie hoch ihr geneti-sches Risiko ist, zukünftig an Multipler Sklerose, Herzinfarkt, Brustkrebs und vielen anderen Krankheiten zu leiden. Das Verfahren ist denkbar einfach: Die Kunden lassen sich auf der Webseite des Unternehmens registrieren und bekommen ein kleines Test-Set zugeschickt. Die darin enthaltenen Plastikröhrchen sollen mit einer bestimmten Speichelmenge gefüllt und an das Unternehmen zurückgeschickt werden. Die Speichelprobe dient als Grundlage für den DNA-Test, dessen Ergebnis circa vier Wochen später über einen Zugangscode auf der Webseite eingesehen werden kann.
Eine der Gründerinnen von 23andMe, Anne Wojcicki, ist mit Sergey Brin verheiratet, der die Internetsuchmaschine Google mitentwickelt hat. Da Google mit knapp 3 Millionen US-Dollar an der Firma beteiligt ist, stellt sich die Frage nach den längerfristigen Interessen des Internet-unternehmens und der möglichen Verknüpfung von genetischen Daten mit anderen Informationen.(1) Fast zeitgleich mit 23andMe kam das isländische Unternehmen deCODEme mit einem ähnlichen Angebot auf den Markt. deCODEme bietet Informationen zu 17 Krankheiten oder Merkmalen auf der Basis einer Genanalyse an. Während die meisten Gentests auf ein einzelnes Gen fokussieren, untersucht diese neue Generation von Genanalysen mehrere hunderttausend Polymorphismen. Bei 23andMe sind es 500.000, und 1 Million bei deCODEme (Lüthi 2007; Auer 2008).

Die beiden Unternehmen sind nicht die einzigen Anbieter von DTC-Tests. Die meisten Gendiagnostikunternehmen, die sich direkt an interessierte Kunden wenden, finden sich in den USA; es gibt aber auch Firmen, die ihren Sitz in Großbritannien und anderen europäischen Staaten haben.(2) Die Produktpalette ist sehr heterogen: DNAdirect bietet ein Dutzend Tests an, die über familiäre Krebsdispositionen, Medikamentenunverträglichkeiten oder die Veranlagung für Diabetes aufklären sollen. Consumer Genetics offeriert eine Genanalyse, die bestimmen soll, wie schnell jemand Koffein metabolisiert. G-Nostics vermarket den NicoTest, der für sich in Anspruch nimmt, nachzuweisen, in welchem Umfang jemand vom Zigarettenkonsum abhängig werden kann. Salugen verkauft gewichtsreduzierende Produkte, die auf das genetische Profil der Untersuchungspersonen abgestimmt sein sollen. Grundlage ist die Analyse einer Reihe von Genen, die mit Ernährungsstörungen in Verbindung gebracht werden (ETC Group 2008: 3).
In Deutschland vertreibt das in Frankfurt ansässige Unternehmen Humatrix ein Diagnostik-Paket für Hämochromatose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, HIV, Medikamentenunverträglichkeit, Osteoporose und Parodontitis.(3) Auch Einzelanalysen sind erhältlich – etwa molekulare Tests für die Neigung zur Fettleibigkeit. Für Neugeborene und Kinder stellt das Unternehmen ein „Basispaket“ bereit, das Hinweise auf Nahrungsmittel-, Antibiotika- und Medikamentenunverträglichkeiten erlauben soll (Feyerabend 2005). Die direkte Vermarktung von genetischen Tests war bislang vornehmlich auf kleinere und mittlere Unternehmen beschränkt. In den letzten Jahren haben aber auch große pharmazeutische Unternehmen wie GlaxoSmithKline die Integration von Diagnostik und Pharmazeutika als einen wichtigen Zukunftsmarkt entdeckt (vgl. Gilham/Rowland 2001). Der weltweit größte Diagnostik-Anbieter Roche will genetische Tests auf Dispositionen für häufig auftretende Krankheiten zusammen mit Lebensstilberatung und Hinweisen für Medikamente anbieten. Geforscht wird etwa an molekulargenetischer Früherkennung von Arthritis, Bluthochdruck und Diabetes, aber auch an genetischen Risiken für Schizophrenie und die Alzheimer-Krankheit.(4)

Jenseits von krankheitsrelevanten Gentests bieten molekulargenetische Labore und Biotech-Unternehmen auch Produkte an, die auf körperliche Merkmale oder erwünschte Eigenschaften zielen. So verspricht etwa CyGene Direct auf der Basis von Gentests das Potenzial von athletischen Leistungen zu bestimmen – ebenso wie die dem genetischen Profil „angepasste“ Sportart und das Risiko von Sportverletzungen.(5) Auf den Nachweis einer positiven körperlichen Eigenschaft zielt auch der ACE-Gentest. Etwa jeder vierte Europäer trägt eine Variante des Gens für das Enzym ACE, das mit einem verringerten Herzinfarktrisiko korrelieren soll, aber auch mit einem effizienten Energiestoffwechsel der Muskulatur in Zusammenhang gebracht wird. „In einer Studie an britischen Rekruten reagierten diejenigen mit der ‚günstigen‘ reinerbigen I-Variante des ACE-Gens auf körperliches Training mit einer stärkeren Zunahme der Leistungsfähigkeit als ihre genetisch benachteiligten Kameraden. [...] Entsprechend groß ist die weltweite Aufmerksamkeit, die der ACE-Gentest in der Sportszene auf sich gezogen hat. Er wird in vielen privaten Labors, auch in Deutschland, angeboten. Wie groß der graue Markt derer ist, die den Test weniger zur Herzinfarktprävention als zur Planung einer Sportlerkarriere in Anspruch nehmen, muss der Spekulation überlassen bleiben.“ (Henn 2002: 9; Hervorheb. im Orig.)
Besonders skurril mutet das Angebot des Datingservice Scientific Match an, der auf der Basis von Gentests abzuklären verspricht, ob die „Chemie“ zwischen potenziellen Partnern stimmt. Die optimale Abstimmung der geneti-schen Profile soll es erlauben, den perfekten Partner bzw. die perfekte Partnerin fürs Leben zu finden. Versprochen werden ein befriedigenderes Sexualleben, mehr Orgasmen und gesündere Kinder.(6) So absurd die Partnerwahl qua Gentest erscheinen mag, sie zeigt wie – in der Werbesprache ausgedrückt – „sexy“ heute offenbar genetische Informationen sind. Gentests sind dabei, zum Modeartikel zu werden: zum „iPod der medizinischen Welt“ (ETC Group 2008: 1). Ein Beispiel dafür ist etwa ein Artikel in dem deutschlandweit vertriebenen Studentenmagazin Unicum. Die Ausgabe vom März 2008 enthält neben einem Bericht über DTC-Gentests (Titel: „Google deine Gene“) auch das Angebot eines kostenlosen Gentests für einen Leser, der bereit ist, die Ergebnisse der Analyse in einem der nächsten Hefte anonymisiert zu veröffentlichen. Über mögliche datenschutzrechtliche, ethische oder psychische Probleme, die sich aus einer solchen Entscheidung ergeben können, verrät der Text nichts. Der Beitrag liest sich wie eine Werbekampagne der Diagnostik-Industrie und stellt die Entscheidung für Gentests als eine Art Mutprobe dar: „Für knapp 700 Euro kann nun jeder seine Gene entschlüsseln lassen. Nötig sind dafür nur ein wenig Speichel und etwas Mumm.“ (Ackfeld 2008: 8)

Marktpotenzial und Probleme der Direktvermarktung von Gentests

Die steigende Zahl von DTC-Anbietern lässt erwarten, dass in den nächsten Jahren eine breitere kommerzielle Nutzung von (prädiktiven) Gentests erfolgen wird. Dies liegt zum einen am Marktpotenzial. Nach Schätzungen des Finanzinstituts Piper Jaffray & Co. werden im Jahr 730 Millionen US-Dollar für Gentests ausgegeben – mit jährlichen Wachstumsraten von 20 Prozent (zit. nach Herper/Langreth 2007). Allein der Gentest für die sogenannten Brustkrebsgene, den Myriad Genetics vertreibt, erzielt einen Umsatz von 100 Millionen US Dollar, wobei die aktuellen Steigerungsraten 40 Prozent im Jahr betragen (ebd.). Zum anderen hat in den vergangenen Jahren die Leistungsfähigkeit von Genchips signifikant zugenommen, während zugleich die Preise dramatisch gefallen sind: „Neue Genchips von den Biotech-Unternehmen Affymetrix und Illumina können für 500 US-Dollar binnen weniger Tage bis zu eine Million Schlüsselstellen auf unserer DANN scannen; vor sieben Jahren hätte das noch 500.000 US-Dollar gekostet“. (Ebd., Übers. GID)
Die Ergebnisse von Marktforschungsanalysen und Umfragestudien zeigen, dass bei Gesunden offenbar ein beträchtliches Interesse an Gentests für medizinische Zwecke besteht. Nach einer Studie des Marktforschungsinstituts Harris Interactive, bei der rund 1.000 erwachsene US-Bürger befragt wurden, waren über 80 Prozent der Teilnehmer der Meinung, dass ein Gentest für sie von medizinischem Nutzen sein könnte. Selbst wenn eine Behandlung nicht möglich ist, wären immer noch 26 Prozent „sehr“ und 23 Prozent „etwas“ am Einsatz eines Gentests interessiert (Harris Interactive 2002). Repräsentative und nichtrepräsentative Erhebungen zeigen, dass die Entwicklung und Bereitstellung von Gentests auch in europäischen Staaten (vgl. Levitt 2001) und in Deutschland auf eine entsprechende Teilnahme- und Zahlungsbereitschaft zu treffen scheint (vgl. Schöffski 2000: 278-311; Berth et al. 2002). In einer im Jahr 2005 durchgeführten Umfrage der Europäischen Kommission unter 25.000 repräsentativ ausgewählten Befragten in allen EU-Mitgliedsstaaten über deren Einstellung zur Biotechnologie waren europaweit 32 Prozent der Befragten entschlossen, genetische Tests für die Feststellung von Dispositionen für schwere Erkrankungen heranzuziehen, ebenso viele erklärten, dass sie diese Option wahrscheinlich nutzen würden (European Commission 2006: 53).(6) Vor allem bei jungen Menschen (unter 25 Jahren) ist die Bereitschaft hoch, entsprechende Nachweisverfahren einzusetzen. 40 Prozent dieser Gruppe erklärte, auf jeden Fall von diesem Angebot Gebrauch machen zu wollen; 36 Prozent wollte dies wahrscheinlich tun (ebd.: 75). In Deutschland fiel die Resonanz gegenüber dem europäi-schen Durchschnitt verhaltener aus. Aber auch hierzulande wollen insgesamt 52 Prozent genetische Tests für die Untersuchung auf Dispositionen für schwerwiegende Erkrankungen nutzen (ebd.: 54).

Eine Folge dieser Kommerzialisierungstendenz dürfte eine weitere Medikalisierung normaler menschlicher Erfahrungen und Emotionen (Mintzes 2002) sein. Zu befürchten ist auch eine zunehmende Abkopplung von Labordiagnostik und genetischer Beratung. Die Forderung nach einer genetischen Beratung vor einem Test – wie sie etwa in den Richtlinien für den Test auf die Huntington-Krankheit verbindlich formuliert wird – dürfte in Zukunft häufig unterlaufen werden, da viele Gentests heute bereits ohne ärztliche Beratung direkt über das Internet bestellt werden können (Berth 2002; Human Genetics Commission 2003; 2007).
Insbesondere die Direktvermarktung von Gentests wirft eine Reihe von Problemen auf. Selbst wenn der Test ordnungsgemäß durchgeführt und das Untersuchungsergebnis richtig interpretiert wird, bleibt der klinische Nutzen der überwiegenden Mehrzahl dieser Tests sehr gering. Dass die Angebote keine medizinische Relevanz besitzen, anerkennen implizit auch die Anbieter, die einen entsprechenden Haftungsausschluss in ihren Geschäftsbedingungen vorsehen. So erklärt etwa 23andMe: „23andMe’s Dienstleistung ist kein Test oder ein Test-Set, das Krankheiten oder gesundsbezogene Eigenschaften diagnostiziert und soll nicht der ärztlichen Beratung dienen. Wenn Sie Bedenken oder Fragen zu dem haben, was Sie durch 23andMe erfahren, sollten Sie Ihren Arzt oder eine entsprechende Fachperson kontaktieren.“(7) Das Direktmarketing der Gendiagnostikfirmen unterläuft somit auch die traditionelle Arzt-Patienten-Beziehung. Viele Serviceanbieter sehen weder vor noch nach einem Gentest ein Beratungsgespräch vor. Die psychischen Folgen eines über das Internet kommunizierten Testergebnisses sind schwierig einzuschätzen. Die Nachricht eines erhöhten Risikos für die Alzheimer-Krankheit oder andere schwere Leiden könnte Ängste wecken, obwohl das Krankheits-risiko eher unklar ist. Bei der Vielzahl und der Unbe-stimmtheit der zu erwartenden Risikodiagnosen ist auch eine strukturelle Überforderung der Nutzer solcher Angebote zu erwarten, die entscheiden müssen, wie sie konkret mit diesen Informationen umgehen wollen.(8) Ebenso bleibt der gesundheitsökonomische Nutzen unklar, da es statt der erhofften Einspareffekte durch zielgerichtete Prävention zu immensen Zusatzkosten durch die notwendige Abklärung von Risiken kommen könnte. Schließlich gibt es auch im Hinblick auf die Vertraulichkeit der Daten und die technische Validität der Tests eine Reihe von Defiziten (Steindor 2002; Gray/Olopade 2003; Wallace 2005).

Kommerzialisierung und Datenschutz

Datenschutzbelange sind durch den Einsatz von DTC-Gentests in verschiedener Weise berührt. Die Gendiagnostik-Anbieter garantieren zwar den Schutz der geneti-schen Daten, aber dieser erweist sich bei näherem Hinsehen als sehr lückenhaft. Viele Unternehmen ermutigen ihre Kunden, die genetischen Informationen mit Freunden, Familienmitgliedern und der interessierten Öffentlichkeit über das Internet auszutauschen. Darüber hinaus können auch Strafverfolgungsbehörden die Betreiber dieser Serviceangebote dazu zwingen, ihnen Kundeninformationen zur Verbrechensbekämpfung oder Terrorabwehr zur Verfügung zu stellen. Schließlich stellt sich nicht zuletzt die Frage, was mit den Daten nach dem Auslaufen des Kundenvertrags geschieht. Beispielsweise verlangt deCODEme für die Einrichtung des Kontos und die Abwicklung des Tests knapp 1000 US-Dollar. Dafür bleiben die Daten ein Jahr lang gespeichert. Falls der Kunde weiterhin Zugang zu den Informationen haben will, muss er ein jährliches Entgelt zahlen. Aber selbst nach der Kündigung des Kontos und der Einstellung der Zahlungen, bleiben die Daten bei deCODEme gespeichert. Das Unternehmen ist nicht verpflichtet, sie zu löschen. Mit anderen Worten: Auch nachdem die Geschäftsbeziehung zu deCODEme beendet ist, kann das Unternehmen über die Daten weiter verfügen, während der Kunde jede Zugangsmöglichkeit und Kontrolle über „seine“ Daten verliert (ETC Group 2008: 5).
Obwohl die Firmen in ihren Internetauftritten und Selbstdarstellungen den Eindruck erwecken, es gehe ihnen allein um die Krankheitsrisiken ihrer Kunden (und deren Interesse an ihrer genetischen Abstammung), werden diese faktisch als Forschungssubjekte in weltweiten Studien rekrutiert – ohne explizite Einverständniser-klärung und Aufklärung. Sie werden für ihren Aufwand nicht nur nicht entschädigt, sondern zahlen aus eigener Tasche dafür, keine Kontrolle über ihre Proben zu haben. Wer die Genanalyse in Auftrag gibt, willigt ohne es zu wissen ein, dass seine oder ihre DNA für Forschungszwecke verwendet wird (Ebd.: 7). Die Liste von Mängeln im Datenschutz ist damit aber noch nicht komplett. Ein weiteres Problem ist die informationelle Selbstbestimmung nichteinwilligungsfähiger Dritter. So könnten überbesorgte Eltern etwa Speichelproben ihrer Kinder einschicken, um Hinweise auf Erkrankungsrisiken zu erhalten. Das Recht auf Nichtwissen des Kindes ist faktisch beseitigt, sobald die Eltern dessen genetische Risiken für bestimmte Erkrankungen kennen (Lüthi 2007: 41).
Insgesamt ist festzuhalten, dass die stärkere kommerzielle Nutzung prädiktiver Genanalysen und die unkontrollierte Ausweitung des Angebots von DTC-Tests zahlreiche Probleme schaffen. Zunächst ist bei vielen der angebotenen Tests der klinisch-präventive Nutzen unklar oder gar zweifelhaft, da oft nur ein wenig aussagekräftiges Verhältnis zwischen den ermittelten genetischen Risiken und Krankheitsereignissen besteht. Die Folge ist, dass einige der Nutzer unnötig beunruhigt werden, andere hingegen sich in einer falschen Sicherheit wiegen und möglicherweise sinnvolle Vorsorgeuntersuchungen unterlassen, da sie glauben, dass sie aufgrund ihres „günstigen“ genetischen Profils nicht an der betreffenden Krankheit leiden werden. Unbehagen bereitet auch die Tatsache, dass die meisten dieser Testoptionen außerhalb des Arzt-Patienten-Verhältnisses angeboten werden. Daher unterbleiben in der Regel die notwendige Interpretation des Befunds und die Aufklärung über die Implikationen und Folgen der Testergebnisse. Nicht zuletzt berühren die entsprechenden Testangebote auch datenschutz- und eigentumsrechtliche Fragen. Weitgehend ungeklärt ist bis heute, wer wann und in welchem Umfang Zugriff auf diese Daten hat und wie lange sie auch ohne die Zustimmung der Nutzer gespeichert und für wissenschaftliche oder kommerzielle Zwecke verwendet werden dürfen.


Dieser Artikel beruht auf einem vom AOK-Bundesvorstand in Auftrag gegebenen und gemeinsam mit Regine Kollek verfassten Gutachten, das im Oktober im Campus Verlag in Buchform erscheint (Regine Kollek/Thomas Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver genetischer Tests).


Fußnoten:
(1) Google entwickelt gerade den Folgeservice Google Health (seit Mai 2008 existiert eine Testversion der Anwendung). Geplant ist der Aufbau einer digitalen Patientenakte, in der die medizinischen Daten von Nutzern zentral abgespeichert und die über einen Nutzernamen und Passwort verfügbar sind (https://www.google.com/health/html/about/; Zugriff: 20. Juni 2008). Die dort gespeicherten persönlichen Daten könnten mit den von 23andMe erhobenen genetischen Informationen möglicherweise abgeglichen werden.
(2) Für eine aktuelle Übersicht der DTC-Anbieter vgl. Human Genetics Commission 2007: 31-36; ETC Group 2008: 8-12.
(3) Vgl. www.humatrix.de/index.html (Zugriff: 21. Mai 2008).
(4) Vgl. www.roche.com/home/divisions/div_dms/div_dms_pred.htm (Zugriff: 21. Mai 2008).
(5) Vgl. dazu den folgenden Auszug aus der Selbstdarstellung des Unternehmens auf seiner Webseite: „CyGene’s Optimum Athletic Performance DNA Analysis kann Ihnen helfen auszuloten, für welche Sportart Sie genetisch vorprogrammiert sind, und welche Sportarten für Sie das Risiko bergen, sich zu verletzen oder neurologisch zu schädigen.“ (https://cygenedirect.com/athletic-performance/dna-testing-athletic-performance.html; Zugriff: 20. Mai 2008), Übers. GID)
(6) Vgl. dazu die Werbung auf der Webseite von Scientific Match: „Die Wahrscheinlichkeit ist größer, ein befriedigendes Sexualleben zu haben. Frauen neigen zu einer höheren Orgasmusrate mit ihren Partnern. Die Wahrscheinlichkeit bei Frauen, dass sie in einer festen Beziehung betrügen, ist sehr viel geringer. Paare neigen zu höheren Fruchtbarkeitsraten. Unter sonst gleichen Bedingungen haben Paare eine größere Chance, gesündere Kinder mit einem robusteren Immunsystem zu bekommen.“ (www.scientificmatch.com/html./index.php; Zugriff: 20 Mai 2008, Übers. GID)
(7) Die Frage lautete: „Würden Sie einen Gentest nutzen wollen, um eine schwerwiegende Krankheit zu entdecken, die Sie bekommen könnten?“ (Would you be willing to take a genetic test to detect any serious disease that you might get?), European Commission 2006: 52.)
(8) https://www.23andme.com/about/consent, Hervorheb. im Orig.; Zugriff: 21. Mai 2008, Übers. GID.
(9) Der Genetiker Richard Lifton bringt das Problem auf den Punkt: „Das Risiko ist, dass in 20 Jahren jeder getestet wird und erfährt, dass er oder sie ein fünfprozentiges Risiko hat, zehn Krankheiten zu bekommen und ein zweiprozentiges Risiko für zwanzig weitere Krankheiten – auf diese Weise erhöhen wir die Zahl von Neurose statt die Gesundheit zu verbessern.“ (Zit. nach Harper/Langreth 2007, Übers. GID)


Literatur:
Ackfeld, Simone. Die Gene in der Glaskugel. Unicum. 2008; 26. Jg.(Nr. 3), 8-9.
Auer, Matthias. Internet: Der Gentest fürs Wohnzimmer. Die Presse vom 21. März 2008.
Berth, Hendrik. Gentests im Internet. Entwicklung mit Risiken. Deutsches Ärzteblatt. 2002; 99. Jg.(Heft 40), 2599-2603.
Berth, Hendrik; Dinkel, Andreas, and Balck, Friedrich. Gentests für alle? Ergebnisse einer Repräsentativerhebung. Deutsches Ärzteblatt. 2002 Apr 12; 99. Jg.(Heft 15), 1030-1032.
Blech, Jörg. Gentest aus dem Supermarkt. Der Spiegel. 2002, Nr. 13, 190-192.
ETC-Group. Direct-to-Consumer DNA Testing and the Myth of Personalized Medicine: Spit Kits, SNP Chips and Human Genomics; 2008www.etcgroup.org (Zugriff: 16. Mai 2008).
European Commission. Europeans and Biotechnology in 2005: Patterns and Trends (Eurobarometer). Brüssel: EC 2006.
Feyerabend, Erika. Markttaugliche „Lebensmuster“? Mit breiter Produktpalette umwirbt die Gendiagnostik-Branche besorgte SelbstzahlerInnen und junge Eltern. Bioskop. 2005; 8. Jg.(Nr. 31), 12-13.
Gilham, Ian and Rowland, Tom. Predictive Medicine: Potential benefits from the integration of diagnostics and pharmaceuticals. International Journal of Medical Marketing. 2001; Vol. 2, 18-22.
Gray, Stacy and Olopade, Olufunmilayo I. Direct-to-Consumer Marketing of Genetic Tests for Cancer: Buyer Beware. Journal of Clinical Oncology. 2003; Vol. 21, 3191-3193.
Groß, Michael. Geschäfte mit Gentests aus der Drogerie. Spektrum der Wissenschaft. 2002, Juni,14.
Henn, Wolfram. Gentests als Konsumartikel? Die Kommerzialisierung des Wissens über unsere Erbanlagen. Sozialwissenschaftliche INformationen. 2002; 31(Nr. 4):6-14.
Herper, Matthew and Langreth, Robert. „Will you get cancer?”. Forbes. 2007 18. Juni 2007INternet: http://forbes.com/free_fores/2007/0618/ 052_2.html (Zugriff: 16. Mai 2008)
Human Genetics Commission. Genes direct. Ensure the effective oversight of genetic tests supplied directly to the public. London: Department of Health 2003.
Human Genetics Commission. More Genes Direct. A report on developments in the availability, marketing and regulation of genetic tests supplied directly to the public . London 2007.
Levitt, M. Let the Consumer Decide? The Regulation of Commercial Genetic Testing. Journal of Medical Ethics. 2001 Dec; 27(6), 98-403.
Lüthi, Theres. In den eigenen Genen googeln. GID. 2007 (Nr. 185), 40-41.
Mintzes, Barbara. For and against: Direct to consumer advertising is medicalising normal human experience. British Medical Journal. 2002; Vol. 324:S. 908-909.
Schöffski, Oliver. Gendiagnostik: Versicherung und Gesundheitswesen. Eine Analyse aus ökonomischer Sicht. Karlsruhe: Verlag Versicherungswirtschaft; 2000.
Steindor, Marina. Testen um jeden Preis? GID. 2002; 18. Jg.(Nr. 154), 7-10.
Wallace, Helen. Misleading Marketing of Genetic Tests. GeneWatch. 2005; Vol 18 (Nr. 2). http://www.gene-watch.org/genewatch/articles/18-2Wallace.html (Zugriff: 12. Juni 2008)



USA: Genom-Tests im Kompetenzgerangel
In den USA ist es in diesem Jahr politisch etwas unruhig um die direkt vermarkteten Gentests geworden. Besonders die neuen, Online zugänglichen Allround-Tests, die Ende letzten Jahres auf den Markt kamen (siehe Artikel Thomas Lemke), sorgten unmittelbar für mediales Aufsehen.(1) Im März veröffentlichten dann renommierte Wissenschaftler, unter anderem von der US-Behörde für Public Health Genomics, ihre Zweifel an der „wissenschaftlichen Evidenz“ des Genom-Profiling. In der Zeitschrift American Journal for Health Genetics gaben sie Ergebnisse einer Studie über Gentests von sieben kommerziellen Anbietern bekannt: Es sei nicht belegt, dass diese Genom-Scans „nützlich sind, um genetische Risiken häufiger Krankheiten zu messen oder personalisierte Ernährungs- und Lebensstil-Empfehlungen zu entwerfen“.(2)

Qualitätskontrolle und Regulierung
Im April meldete sich dann das Zentrum für „Genetics and Public Policy“ an der Johns Hopkins Universität mit einem Beitrag in Science zu Wort. Forderung: Die US-Behörde für die Zulassung von Lebensmitteln und Medikamenten (FDA), die bisher Gentests überhaupt nicht reguliert, müsse schnell eingreifen, um verbindliche Registrierungsverfahren für diese Tests zu entwerfen. Zudem forderten die Johns-Hopkins-ExpertInnen die US-Handelskommission (FTC) auf, irreführende Werbeanzeigen für kommerzielle Tests zu unterbinden.(3) Auch Berufsvereinigungen zeigten sich beflissen, ihre Vorstellungen zur Regulierung von Gentests kundzutun. Die Amerikanische Ärzte-Vereinigung empfahl im Juni ebenfalls, die Gentest-Werbung müsse überprüft und Gentests von qualifiziertem Gesundheitspersonal angeboten werden. Auch sollten Ärzte mit mehr Informationen über die verfügbaren Tests ausgestattet werden.(4) Statements für die Etablierung von Mindeststandards gab es auch vom Amerikanischen Kolleg für Medizinische Genetik und von der Amerikanischen Gesellschaft für Humangenetik.(5)

Bürokratische Nadelstiche
Bis zum Sommer reagierten die staatlichen Behörden mit einigen Aktionen, oder besser gesagt Aktiönchen, auf diese Forderungen. Die US-Handelskommission erklärte im Juni, sie habe erste Ermittlungen über unlautere Werbung für Gentests begonnen.(6) Und zwei Bundesstaaten schickten Briefe an Gentest-Firmen: Mitte Juni forderte das kalifornische Gesundheitsministerium 13 kommerzielle Test-Anbieter auf, so lange die Bürger Kaliforniens nicht mehr zu testen, bis bestätigt sei, dass die Firmen die bundesstaatlichen und nationalen Standards für Labordiagnosen einhielten. Zudem ordnete das Schreiben an, es müsse nachgewiesen werden, dass nur Testgesuche von Ärzten angenommen würden, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist. Ein ähnliches Schreiben war bereits im April von der Gesundheitsbehörde des Bundesstaates New York an 31 Gentest-Unternehmen gegangen.(7)

Gelassene Reaktionen
Die angeschriebenen Unternehmen reagierten auf die Kritik und die Kontrollbestrebungen weitgehend gelassen: Zum einen boten sie ihre ganz eigene Interpretation an: Es gehe bei den Tests nicht um medizinische Diagnosen sondern um „informationelle Dienstleistungen“, so eine Sprecherin von 23andMe.(8) Ähnlich äußerten sich auch Vertreter von Navigenics.(9) Zudem erklärten Navigenics und 23andMe, zumindest die Laboratorien für Kalifornien verfügten über die bundesstaatlichen Zulassungen. Für New York stoppte Navigenics allerdings vorübergehend die Annahme von Genproben, um Lizenzen für ihre Labore noch nachzureichen. Dies sei kein Problem. Schließlich werden die Laboratorien nur nach ihrer „analytischen Validität“ überprüft.(10) KritikerInnen fordern demgegenüber die Prüfung der „klinischen Validität“, also der Aussagekraft von Tests für medizinische Prognosen und Therapien.(11)
Besonders spitzfindig legt Navigenics die gesetzliche Vorgabe aus, Testgesuche nur von Ärzten annehmen zu dürfen: Dies sei immer der Fall. Denn ein vom Unternehmen angestellter Arzt überprüfe immer die eingehenden Anfragen und reiche die Gen-Proben erst dann an das Laboratorium des Unternehmens weiter.(12)
Wie dem auch sei: Zumindest die großen Biotech-Unternehmen wird die Strafdrohung von höchstens 3.000 Dollar pro Tag nicht sonderlich beeindrucken. Und auch, was einen möglichen Image-Schaden angeht, gibt es Gegenstrategien: So weist die britische Nichtregierungsorganisation Genewatch auf einen simplen Trick hin. Sie berichtet von Firmen, die nach einer kritischen öffentlichen Debatte über ihre Testangebote einfach den Namen änderten. Aus der US-amerkanischen Firma „Great Smokies Diagnostics Laboratory“ wurde beispielsweise „Genova Diagnostics“.(13)

Werbung durch Regulierung?
Es ist somit zu bezweifeln, dass die Regulierungsdebatte in den USA restriktive Folgen für die Gentest-Industrie hat. Eher mag die angeheizte Debatte sogar werbewirksam sein. Bezeichnend ist etwa, wie Kathy Hudson, die Direktorin des Johns Hopkins Centers, ihre Forderung nach nationaler Qualitätskontrolle begründet. Eine stärkere Regulierung sei wichtig, um ein stabiles Investitionsklima für die Biotech-Industrie zu schaffen.(14) Sonst gebe es kontraproduktive Effekte: „Ungeprüfte Tests einem ahnungslosen Publikum zu vermarkten, könnte die Zukunft der personalisierten Medizin untergraben“, so Hudson.(15)
Auch wissenschaftliche Projekte, die sich mit Regulierungsideen beschäftigen, können den Effekt haben, Gentests unter die Leute zu bringen. Es ist anzunehmen, dass sich Gentest-Anbieter über ein Projekt des Corriell Institute for Medical Research in New Jersey eher freuen als ärgern. Das Projekt will bis 2009 10.000 Freiwillige werben. Sie sollen an Gentestverfahren teilnehmen, die denen von Navigenics, deCODEme und 23andMe stark ähneln. Es geht um genombasierte Risikoberechnungen zu Krankheiten wie Prostatakrebs, Diabetes 2 oder Herzinfarkt. Ziel der Forschung ist es, Empfehlungen für den praktischen Umgang mit diesen Informationen im medizinischen Alltag zu erarbeiten. „Das Projekt ist extrem wichtig, weil es eine Komponente der Medizin ergänzt, die bislang fehlte, die genetische“, so Simon Samaha, medizinischer Leiter eines an der Studie beteiligten Krankenhauses.(16)
Hier zeigt sich deutlich, dass es in der Regulierungsdebatte höchstens um etwas Kompetenzgerangel zwischen Medizin und Gentest-Unternehmen geht, auf jeden Fall aber um Expansion der Gendiagnostik. Eine weiterreichende Kritik des fragwürdigen Wissens aus dem Genom steht jedenfalls nicht auf der Agenda.
So blieb die weitergehende Kritik der Nichtregierungsorganisation Center for Genetics and Society auch ohne Resonanz. Das Center bemerkte nicht nur, dass das im Mai von Präsident Bush unterzeichnete „Gesetz gegen Diskriminierung durch genetische Informationen“ den kommerziellen Testmarkt völlig unberührt lässt.(17) Vor allem aber wies es darauf hin, dass kommerzielle Gentests den gewinnträchtigen Zugang zu Daten- und Forschungsmaterial erlauben und potenziell ein doppeltes Geschäft sind. „Die Leute zahlen dafür, ihre DNA-Sample an Firmen zu übergeben, bei denen davon auszugehen ist, dass diese die Proben verkaufen oder dazu nutzen, neue Produkte zu entwickeln“, so Marcy Darnovsky, Direktorin des Centers.

(Susanne Schultz)

Fußnoten:
(1) vgl. zum Beispiel NYTimes, 17.11.07
(2) Am J. Hum. Genet. 2008; Mar 82(3): 593-9), siehe auch GID 187: 44f.
(3) Science 2008, 320: 53-54
(4) American Medical Association, Pressemitteilung vom 17.06.08
(5) Public Health Genetics Foundation, 30.04.08, online: www.phgfoundation.org
(6) NYTimes, 26.06.08
(7) ebd.
(8) Center for Genetics and Society, 16.06.08, online: www.geneticsandsociety.org
(9) NYTimes, 26.06.08
(10) ebenda
(11) Center for Genetics and Society, ebenda
(12) NYTimes, ebenda
(13) Genewatch: Genes and Marketing, online: www.genewatch.org, gesehen: 23.07.08
(14) Newsweek Online, 03.04.08
(15) Genetics and Public Policy Center, Pressemitteilung, 03.04.08
(16) Emily Singer 2008: Angstfrei zum Gentest, www.heise.de, 04.07.08
(17) Center for Genetics in Society, 21.05.08, online: www.geneticsandsociety.org