Die neuen Herausforderungen der sozialen Bewegungen

Die politische Situation Lateinamerikas unterscheidet sich 2008 deutlich von der vor zehn Jahren. Noch 1997 wurde der ganze Kontinent von rechten Regierungen beherrscht, die alles daran setzten, den ›Konsens von Washington‹ durch Liberalisierung, Privatisierungen und die Zerstörung des Sozialsystems voranzubringen. Die sozialen Bewegungen leisteten dagegen Widerstand, kämpften gegen die Ausweitung des informellen Sektors sowie die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und wurden deswegen hart unterdrückt.

Sie standen im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Erfolgreich stießen sie große Mobilisierungen an, die in manchen Fällen zu Volksaufständen oder zu Wahlen führten, bei denen die traditionellen Eliten die Regierungsmacht verloren. Die politische Landkarte veränderte sich. Dieser Wandel hatte sich in der Zivilgesellschaft schon seit Anfang der 1990er Jahre angebahnt. Die Wahlgänge seit Ende 2005 haben ihn weiter verbreitet und stabilisiert und der Region ein neues Gesicht gegeben.

Bei acht von vierzehn Präsidentschaftswahlen konnten sich Kräfte durchsetzen, die sich selbst als links oder fortschrittlich bezeichnen: in Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Nicaragua, Venezuela, Argentinien und zuletzt in Paraguay. Auch Uruguay muss als progressiv regiertes Land hinzugezählt werden. Sogar dort, wo die linken Parteien nicht gewannen (Kolumbien, Mexiko, Peru), erhielten sie doch eine deutliche Unterstützung der Bevölkerung, die es ihnen ermöglicht, eine entscheidende Rolle im politischen Geschehen ihrer Länder zu spielen.

Paradoxerweise haben genau jene Veränderungen, die durch die Aktivitäten der sozialen Bewegungen herbeigeführt wurden, dazu beigetragen, diese aus dem Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu verdrängen. Die zentrale Konfliktachse verläuft vor allem in Bolivien, Venezuela und Ecuador, aber auch in Argentinien, Brasilien und Uruguay nicht mehr zwischen konservativen Regierungen und Bewegungen, sondern zwischen progressiven Regierungen und der politischen Rechten, die mit der Regierung Bush verbündet ist. Dies zwingt die sozialen Bewegungen, sich an die Seite von Regierungen zu stellen, mit denen sie nur punktuell übereinstimmen.

Der erfolgreiche Widerstand gegen das neoliberale Modell hat neue Kräfteverhältnisse geschaffen. Die US-Hegemonie wurde verdrängt und eine multipolare Region ist im Entstehen begriffen. Beziehungen mit der Europäischen Union und zunehmend China gewinnen an Einfluss, brasilianische oder auch mexikanische Investoren werden zu regional bedeutenden Faktoren. Dies rückt die Frage der regionalen Integration ins Zentrum der öffentlichen Debatte. Verschiedene Projekte - vor allem in Südamerika - stehen zur Diskussion. (1) Den sozialen Bewegungen fällt eine klare Positionierung unter den gewandelten Bedingungen schwer.

Zuletzt gewann ein neues Thema an Bedeutung, das Spaltungen und Konflikte produziert: die Beziehung zwischen Regierungen und Bewegungen in den links regierten Ländern. Letzteren gelang es oft nicht, auf die Tiefe der Veränderungen zu reagieren und sich in diesem komplexen Umfeld neu zu positionieren. Die großen Herausforderungen, mit denen vor allem die Regierungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela konfrontiert sind, können jedoch nur durch die aktive Unterstützung der sozialen Bewegungen bewältigt werden. Das verlorene Verfassungsreferendum in Venezuela und die Zusammenstöße zwischen der Regierung Morales und der bolivianischen Rechten machen dies deutlich.

Ein komplexes Szenario

Grundsätzlich existieren drei große Kraftfelder in der Region: Washington übt immer noch einen bedeutenden Einfluss aus, der durch die Regierungen Álvaro Uribe Vélez in Kolumbien und Felipe Calderón in Mexiko verkörpert wird; auch die Regierung von Alan García (Peru) ist dieser Gruppe zuzuordnen. Diese Regierungen unterdrücken die subalternen Klassen mit harter Hand. Sie optierten für Freihandelsverträge (TLCs) und eine Allianz mit den USA, sowie für die Repression sozialer Bewegungen. Das Gegenmodell wird durch die ALBA (Bolivien, Venezuela, Kuba und Nicaragua) und den von Brasilien angeführten MERCOSUR verkörpert.

Ein zweites Kraftfeld entsteht durch neue Formen der Kapitalakkumulation (Tagebau, Agrobusiness und Zellstoffindustrie), die häufig von Regierungen unterstützt werden, die sich selbst als progressiv bezeichnen. Diese Entwicklung sorgt dauerhaft für Verwirrung. Viele Menschen können nur schwer akzeptieren, dass ausgerechnet die linken Regierungen die neuen Formen exportorientierter Ausbeutung von Mensch und Natur durch transnationale Konzerne vorantreiben. Einige der Konflikte führen zur Konfrontation zwischen Gruppen, die noch vor wenigen Jahren auf der gleichen Seite der Barrikade standen. Dazu gehören die Auseinandersetzungen um die Errichtung der Papierfabrik Botnia am Grenzfluss zwischen Argentinien und Uruguay, der Hungerstreik Luiz Cappios gegen die Umleitung des Rio São Francisco (Brasilien) sowie der durch die Zellstoff- und Forstwirtschaft erzeugte Mapuche-Konflikt.

Das dritte Kraftfeld steht mit dem vorigen in Verbindung. Die Beziehungen zu den fortschrittlichen und linken Regierungen ist eines der schwierigsten Themen für die sozialen Bewegungen. Einigen wie der Landlosenbewegung MST aus Brasilien ist eine Umorientierung gelungen. Sie kämpft nicht mehr nur für eine Landreform, sondern stellt sich auch gegen das neue kommerzielle Agrarmodell, ohne mit der Regierung Luiz Inácio ›Lula‹ da Silva zu brechen. Ganz anders stellt sich die Situation der Zapatisten dar. Mit der ›Andereren Kampagne‹ stellten sie sich gegen die institutionelle Linke, die durch Andres Manuel López Obrador repräsentiert wird. Es kam zu einer Reihe von Konflikten zwischen der Basis beider Gruppierungen mit dem Ergebnis, dass der Zapatismus nun isolierter ist als zuvor.

In diesem Kontext kommt es zu Unterstützungskundgebungen für die linken Regierungen. Das gilt z.B. für die bolivianische Bewegung gegen die nach mehr ›Autonomie‹ strebende Oligarchie von Santa Cruz. Die konservativen Eliten trotzen den Bewegungen und widersetzen sich der Beschneidung ihrer Privilegien. Umgekehrt üben die Bewegungen Druck auf die Regierung aus, um die Erfüllung ihrer zurückgestellten Forderungen zu beschleunigen. Zugleich zeigt die Distanzierung großer Teile der Basis des bolivarianischen Prozesses von der Art und Weise, wie der Aufbau der sozialistischen Einheitspartei (PSUV) vorangetrieben wird, die Notwendigkeit einer unabhängigen Zivilgesellschaft, die dem Druck widersteht, sich bedingungslos an eine Partei zu binden.

Der zentrale Unterschied zu den 1990er Jahren ist, dass nun weder Themen und Ziele noch Feinde existieren, die die verschiedenen lokalen und regionalen Bewegungen zusammenhalten. Damals einte der Widerstand gegen die Privatisierungen, die Strukturanpassungsmaßnahmen und die Freihandelszone ALCA die unterschiedlichen Bewegungen und Organisationen und begünstigte deren Zusammenarbeit mit linken Parteien. Inzwischen herrscht eine starke thematische Zersplitterung vor. Die Agenda der Demonstrationen reicht vom Widerstand gegen Freihandelsvertäge (TLCs), etwa bei den großen Mobilisierungen in Ecuador, Peru, Kolumbien und Zentralamerika (Seoane/Algranati 2006), bis zum Kampf um Demokratie gegen ›archaische‹ und autoritäre Herrschaftsmechanismen, der in den Protesten nach dem Wahlbetrug in Mexiko (Ceceña 2006) und im Aufstand von Oaxaca (Hernández Navarro 2006) seinen stärksten Ausdruck fand.

Auf dem Weg in eine neue Periode des Protests?

Verschiedene Konfliktszenarien und Tendenzen prägen die Region. Ein erstes Szenario markieren die heterogenen Mobilisierungen in Bolivien (Koka- und Kleinbauern, Regantes (2), Gegner der Wasserprivatisierung, Indigene). Sie zeigen, dass die Periode des Widerstands noch lange nicht vorbei ist und Straßenproteste die Versuche der konservativen Oligarchie, ihre Privilegien zu verteidigen, vereiteln können. Sie sind eine Garantie dafür, dass der durch die Regierung Morales eingeleitete Prozess weiter voranschreitet. Auch die Bewegungen in Venezuela verwiesen durch ihre massive Mobilisierung während des Putsches 2002 und des Produktionsstreiks im Erdölsektor zum Jahreswechsel 2003 jegliche Restaurationsversuche in die Schranken.

Damit soll nicht behauptet werden, dass die Veränderungen in Ländern wie Bolivien, Ecuador und Venezuela unumkehrbar seien. Es geht lediglich darum, die Schwierigkeiten darzustellen, die das ›Imperium‹ und die Eliten vor Ort dabei haben, die Uhr zurückzudrehen. Dies gilt vor allem für die Andenländer, in denen die "Entkolonisierung" des Staates gefordert wird (Quijano 2006), oder auch für Venezuela, wo das traditionelle und korrupte Parteiensystem überwunden wurde.

Ein zweites Szenario wird gebildet durch die umfangreichen Mobilisierungen gegen den Wahlbetrug in Mexiko und die machtvolle populär-indigene Bewegung, getragen von der Asamblea Popular de los Pueblos von Oaxaca. Diese Mobilisierungen zeigen erste Symptome einer Krise des dortigen Herrschaftssystems an, auf die größere Aufstände folgen können (Ceceña 2006). Außerdem deutet die Auseinandersetzung zwischen der ›Anderen Kampagne‹ und dem Mitte-Links-Kandidaten López Obrador auf die Existenz von zwei schwer zu vereinbarenden Projekten hin. Dies ist mit unterschiedlicher Intensität überall auf dem Kontinent spürbar und erschwert es, gemeinsam zu agieren und sich gegenseitig zu stärken.

Ein drittes Szenario markieren die Konflikte im Cono Sur. Sie verdeutlichen die Grenzen der fortschrittlichen Regierungen und die Schwierigkeiten der Bewegungen, sich in der neuen Situation zu verhalten. Die Landlosenbewegung in Brasilien (MST) ist vielleicht die stabilste der Region. Ihr gelang die Gratwanderung zwischen einer aktiven Unterstützung von Luiz Inácio ›Lula‹ da Silva in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen und einer kompromisslosen Mobilisierung, die massive Landbesetzungen beinhaltet, um eine Agrarreform durchzusetzen. Die Bewegung war auch dazu in der Lage, sich den Projekten entgegenzustellen, die eine neue Phase der Kapitalakkumulation in der Region einleiten sollen: So widersetzten sich z.B. die Frauen von Via Campesina im März 2006 mit großen Demonstrationen dem Bau der Zellstofffabrik Aracruz Celulosa in Rio Grande do Sul.

Bischof Frei Cappios Hungerstreik gegen die Umleitung des Rio São Francisco führte Ende des Jahres 2007 Teile der katholischen Kirche mit ländlichen und städtischen sozialen Bewegungen - unter anderem auch der Umweltbewegung - zusammen. Aber er zeigte auch die Schwierigkeiten sozialer Bewegungen, sich zu linken Regierungen wie der Lulas zu verhalten, wenn diese versuchen, sie zu marginalisieren, und sich ihren Forderungen verschließen. Letztlich brach der Hungerstreik zusammen und die Regierung trug einen wichtigen Sieg davon.

Hier muss auch der Kampf der chilenischen Mapuche um Landrechte eingeordnet werden. Fünf politische Gefangene, die zu den Mapuche gehören, begannen einen langen Hungerstreik, unter ihnen die Aktivistin Patricia Troncoso. Ihr gelang es in langen Verhandlungen, den Widerstand der Regierung Michelle Bachelet zu brechen. 109 Tage der Entbehrung und der Tod eines ›comunero‹ waren nötig, damit ein beachtenswerter Teil der Bewegungen seine Solidarität mit den Mapuche ausdrückte und entsprechenden Druck von außen auf die Regierung aufbaute. Hieran wird die Schwierigkeiten der Basisbewegungen deutlich, die Gleichgültigkeit zu überwinden, die sich häufig nach der Wahl einer fortschrittlichen Regierung bei einem großen Teil der Bevölkerung entwickelt.

Diese Bewegungen sind die Antwort auf begrenzte politische und soziale Veränderungen durch fortschrittlicher Regierungen bei Fortführung neoliberaler Politiken bis in bisher nicht inwertgesetzte gesellschaftliche Bereiche hinein (vgl. Gómez Leyton 2006). Somit wird Chile zu einem Referenzfall der Regierungen im Cono Sur.

Neben thematischen Gesichtspunkten sind auch die Ausrichtungen der jeweiligen Regierungen zu unterscheiden, unter denen Bewegungen agieren: Einige arbeiten in neoliberalen und mit den USA verbündeten Staaten, andere in fortschrittlich regierten Ländern, die jedoch im Wesentlichen das hegemoniale neoliberale Modell fortsetzen, und wieder andere in Staaten, deren Regierungen versuchen, dieses Modell zu überwinden. Im ersten Fall behalten die Bewegungen eine starke Präsenz auf nationaler Ebene, im zweiten ist eine starke Fragmentierung zwischen und manchmal auch innerhalb der Bewegungen zu erkennen, wenn es darum geht, sich gegenüber der Regierung zu positionieren. Im dritten haben sie auch weiterhin großes Gewicht, aber ihre Mobilisierung wechselt je nach politischer Konjunktur; sie unterstützen ›ihre Regierungen‹ gegen die ›Feinde‹ des Wandels.

Herausforderungen für die Theorie oder das Verständnis der Realität

Die sozialen Bewegungen werden nicht wie bisher fortfahren können. Vor allem in den Ländern mit Linksregierungen werden sie gezwungen sein, ihre Taktiken zu verfeinern und neue Strategien zu diskutieren, um ungewohnten Situationen zu begegnen. Diese Veränderungen werden bereits seit einiger Zeit nicht nur auf tagespolitischer Ebene diskutiert (Seoane/Taddei, 2004), sondern auch theoretisch und konzeptionell, da die bisher üblichen Analysemethoden immer weniger geeignet sind, die neue Realität zu erfassen.

Die erste Herausforderung bezieht sich auf die Beziehungen der Bewegungen zu den Linksregierungen. Gern verwendete Begriffe wie ›Kooptation‹, ›Verrat‹ und auch ›Kontinuität‹ liefern eine vereinfachende Darstellung, die selbst für Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay nicht zutrifft.

Ein gutes Beispiel ist die Niederlage der Chavisten beim Verfassungsreferendum in Venezuela. Viele Intellektuelle forderten eine Grundsatzdiskussion über die Bedeutung des ›Sozialismus des 21. Jahrhunderts‹ und darüber, wie dieser sich vom gescheiterten ›realexistierenden Sozialismus‹ unterscheiden soll. Sie wurden als Störenfriede übergangen oder gar als Verräter oder Verbündete der Regierung Bush bezeichnet. Diese Anschuldigungen gingen nicht nur von der Regierung oder der PSUV aus. Auch Intellektuelle und viele Basisaktivisten sperrten sich gegen eine tiefergehende Debatte und vereinfachten die Realität. Letztlich wurde so die eigene Basis für das Referendum geschwächt.

Auf der anderen Seite tragen progressive Regierungen wie in Brasilien die Verantwortung für starke neoliberale Tendenzen und die Unterordnung unter das transnationale Finanzkapital. Allerdings sollten Vereinfachungen vermieden werden, da viele Führungspersönlichkeiten und Bewegungen weit davon entfernt sind, korrumpiert oder ›gekauft‹ worden zu sein. Ihre Unterstützung für die Regierungen beruht auf der Überzeugung, dass es schwierig ist, mit dem aktuellen Modell zu brechen, dass aber Veränderungen durchgesetzt werden können.

Letztlich geht es darum, dass die Regierungen sich auf die Wünsche der Bevölkerung stützen. Die Forderungen der Bewegungen werden aufgegriffen und so zum Wohle des Staates und der neuen Formen des Regierens nutzbar gemacht. Diese Vorgehensweise sollte nicht als ›Opportunismus‹ und schon gar nicht als ›Verrat‹ bezeichnet werden. Wer kann die Haltung von Néstor und Christina Kirchner gegenüber den argentinischen Militärs bemängeln, auch wenn weiterhin die Menschenrechte verletzt werden? Wie soll man die Sozialprogramme der Regierungen Lula und Tabaré Vázquez kritisieren, selbst wenn sie die sozialen Bewegungen schwächen?

Die ›Andere Kampagne‹ der zapatistischen Bewegung grenzte sich von Anfang an von der institutionellen Linken ab. Auch wenn es noch zu früh ist, deren Ergebnisse zu bewerten, deutet alles darauf hin, dass eine derart explizite und radikale Kritik, wie sie Subcomandante Marcos an López Obrador äußerte, nicht immer dazu beiträgt, die außerparlamentarischen sozialen Mobilisierungen zu stärken, da sie die soziale Basis zerreißt, die beide politischen Projekte unterstützt. Dabei ist es nicht so, dass die EZLN mit ihrer Kritik falsch liegt. Auch Bewegungen wie die MST in Brasilien, die weiterhin die Regierung Lula unterstützt, haben mit großen Schwierigkeiten und scharfer Ausgrenzung zu kämpfen. Denn es handelt sich um schwerwiegende Probleme, die nicht auf Diskurse beschränkt werden können, sondern ein Verständnis der neuen ›Regierungskunst‹ verlangen bzw. die Schwierigkeiten "revolutionärer Realopolitik" (Luxemburg) verdeutlichen.

Schwierigkeiten bei der Überwindung der politischen Isolation

Die staatlichen Programme zur Armutsbekämpfung sind eine zweite zentrale Herausforderung für soziale Bewegungen. Insbesondere die ›Bolsa Familia‹ in Brasilien, ›Jefes y Jefas de Hogar‹ in Argentinien und der ›Plan de emergencia‹ in Uruguay weisen eine Reihe von Problemen auf: Sie beinhalten keine Erweiterung der Rechte der Armen, sondern eine Ausdehnung der auf Kompensation ausgerichteten Programme der internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank. Für den Soziologen Francisco de Oliveira sind sie "ein Kontrollinstrument", das auf einem biopolitischen Dispositiv beruht, durch das der Staat Menschen nach ihrer Bedürftigkeit einteilt und so "eine Form von Klientelismus restauriert", der letztlich passiviert und entpolitisiert (De Oliveira 2006).

Die Sozialprogramme betreffen jene gesellschaftlichen Gruppen, die von den Bewegungen in den letzten Jahrzehnten mobilisiert wurden. Sie mildern die Armut, ohne die Einkommensverteilung zu verändern. Da sie die Organisationsfähigkeit der aktivsten Bewegungen beeinträchtigen, werden sie zu einem Hindernis für deren Wachstum. Ein verdeckter Klientelismus, der auf einer vertikalen Beziehung zwischen der armen und versprengten Bevölkerung und dem Staat aufbaut, trägt zur Erosion der Unabhängigkeit der Bewegungen bei. Auf jeden Fall haben die Programme dazu geführt, die Ausweitung der Arbeitslosen-, Landlosen-, Obdachlosen- bzw. Tagelöhnerbewegung (Piqueteros in Argentinien) zu beenden.

Eine dritte zentrale Herausforderung stellt sich in den Randbezirken der großen Städte, die zu dem "neuen entscheidenden geopolitischen Terrain" (Davis 2006, 1) werden, da die Armen beginnen, sich außerhalb des oder gegen den Staat zu organisieren. Allerdings hat die wiedergewonne staatliche Präsenz in den Vororten die bedeutsame Obdachlosenbewegung geschwächt oder sogar aufgerieben. So verschwanden auch die Räume zur Zusammenarbeit zwischen alten und neuen Armen (Zibechi 2003). Alles deutet darauf hin, dass es in den städtischen Randbezirken nicht möglich sein wird, Alternativen zum System zu konsolidieren, wenn es den neuen Bewegungen nicht gelingt, - wie in El Alto (Bolivien) oder in Los Cerros in Caracas - sich an der Basis zu verwurzeln. In diesen Zonen regiert ein echter Ausnahmestaat mit genauen Grenzen: Sozialprogramme, die gerade zum Überleben reichen, auf der einen und Drogenhändler auf der anderen Seite.

Unter den neuen politischen Bedingungen steht die Autonomie der Bewegungen auf dem Spiel - sei es wegen der Sozialprogramme oder wegen der Regierungen, die wirkliche Veränderungen herbeiführen, etwa die aus dem Herzen der Bewegungen hervorgegangene Regierung Boliviens. Dies sollte aber nicht als eine Fortuna des ›Maquiavellismus‹ verstanden werden, da sie nicht selten das umsetzen, wofür die Menschen seit langer Zeit kämpfen.

Zur Bewahrung der politischen und finanziellen Unabhängigkeit, die nie endgültig gesichert ist, muss die Autonomie aus dem Alltagsleben heraus täglich neu aufgebaut werden. Die Bewegungen stehen vor der Herausforderung, die Initiativen zur Selbstverwaltung auszuweiten. Sie existieren seit Jahrzehnten als Formen des Widerstands und des Überlebens. Ich beziehe mich auf die vielfältigen Erfahrungen auf lokaler Ebene: von der Wasserverwaltung in den südlichen Stadtvierteln Cochabambas über hunderte gemeinschaftlich verwalteter Gemüsegärten in argentinischen und uruguayischen Städten bis zur ›Massenproduktion‹ in den besetzten Fabriken. Hinzu kommen Volksküchen, genossenschaftliche Werkstätten, (Aus-)Bildungseinrichtungen und kleine Krankenhäuser, die von den Bewegungen selbst aufgebaut und verwaltet werden.

Aus dem Spanischen von Timm Schützhofer

Literatur

Bretón Solo, Victor, Cooperación al desarrollo y demandas étnicas en los Andes ecuatorianos, Quito 2001

Ceceña, Ana Esther, "2006: entre la promesa y la tragedia", in: Observatorio Social de América Latina, 7. Jg., 2006, Nr. 20, 15-25

De Oliveira, Francisco, "A política interna se tornou irrelevante", in: Folha de São Paulo, 27.7.2006

Gómez Leyton, Juan Carlos, "La rebelión de las y los estudiantes secundarios en Chile. Protesta social y política en una sociedad neoliberal triunfante", in: Observatorio Social de América Latina, 7. Jg., 2006, Nr. 20, 107-16

Guerrero, Fernando, u. Pablo Ospina, El poder de la comunidad. Ajuste estructural y movimiento indígena en los Andes ecuatorianos, Buenos Aires 2003

Hernández Navarro, Luis, "Oaxaca: sublevación y crisis de un sistema regional de dominio", in: Observatorio Social de América Latina, 7. Jg., 2006, Nr. 20, 69-77

Davis, Mike, "Los suburbios de las ciudades del tercer mundo son el nuevo escenario geopolítico decisivo", http://rebelion.org, 8.1.2007

Quijano, Aníbal, "Estado-nación y ›movimientos indígenas‹ en la región Andina: cuestiones abiertas", in: Observatorio Social de América Latina, 7. Jg., 2006, Nr. 19, 15-24

Seoane, José, u. Clara Algranati, "Los movimientos sociales en la geopolítica continental", in: Observatorio Social de América Latina, 7. Jg., 2006, Nr. 19, 109-30

Seoane, José, u. Emilio Taddei,, "Movimientos sociales, democracia y gobernabilidad neoliberal", in: Observatorio Social de América Latina 5. Jg., 2004, Nr. 15, 99-115

Zibechi, Raúl, Genealogía de la revuelta. Argentina: una sociedad en movimiento, La Plata 2003

ders., "El arte de gobernar los movimientos", in: ders., Autonomías y emancipaciones. América Latina en movimiento, Lima 2007, 251-80

Anmerkungen

(1) Ich beziehe mich auf die von Brasilien geförderte UNASUR (Unión de Naciones Suramericanas) und die Alternativa Boliviariana de las Américas (ALBA), die von der venezolanischen Regierung unterstützt wird. Darüber hinaus besteht nach wie vor der MERCOSUR mit den Vollmitgliedern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay fort.

(2) Gruppen gemeinschaftlicher indigener Verwaltung und Distribution von Wasser.

Aus DAS ARGUMENT, Nr. 276, S. 374-80