Weibliche Horrorstories

Slavenka Drakulic über ihr neues Buch, kannibalische Liebe und die Frage, warum sich niemand über Heidelbeeren essende Nazis wundern sollte. Ein Interview.

an.schläge: In den Ländern Ex-Jugoslawiens hatte ich oft den Eindruck, dass die Menschen aus einem Alptraum aufwachten.
Slavenka Drakulic: Ja. Das war ein Alptraum. Aber niemand tat uns das an, wir taten es selber. Es ist wichtig, das zu verstehen. Kein repressives, kein autoritäres, gar kein Regime kann ohne die Unterstützung der Menschen bestehen. Was die Leute sich also fragen müssten ist: Wie konnte das geschehen, warum wählten wir diese Menschen, wie wurden wir durch ihren Populismus verführt, durch ihren Nationalismus? Niemand zwang uns zu irgendwas und wir sollten Verantwortung übernehmen.

In Ihren Essays drückten Sie Ihre Sehnsucht nach Cosy-Toilettenpapier aus und nach den magischen Schönheitsprodukten des Westens. Sie wunderten sich über westeuropäische Feministinnen: "fettiges Haar, kein BH, kein Make up". Eine amerikanische Feministin erwartete von Ihnen eine "Kritisch-theoretische Abhandlung" des FeminismusÂ’ in kommunistischen Ländern. Das inspirierte Sie zu einem realistischen und zynischen Kommentar.
Fragen über Feminismus generell in den kommunistischen und post- kommunistischen Ländern sind zugleich zu naiv und zu komplex. Wir haben es hier mit vielen Ländern und Millionen Frauen zu tun, aber ich glaube dennoch, es gibt einen gemeinsamen Nenner für uns alle. Wir alle teilten die Erfahrung, im Kommunismus zu leben. Einiges bleibt in unserem Gedächtnis. Die Tatsache, dass es sehr schwer war, an Kosmetik heran zu kommen, an gute Schuhe, dass es sehr schwer war, schön zu sein. Und doch versuchten wir es so sehr. Was geschah nach dem Zusammenbruch des Kommunismus? Auch da gibt es gemeinsame Nenner. Frauen waren überall die ersten, die arbeitslos wurden. Interessant ist auch, dass in den Widerstandsbewegungen, z. B. in Polen und in der Tschechoslowakei, rund um Havel und in der Solidarnosc, viele Frauen waren. Als die Opposition an die Macht kam, verschwanden die Frauen. Wo sind sie? Ich weiß es nicht.

Sie nehmen oft den Standpunkt des Opfers ein. In "Als gäbe es mich nicht" trägt eine junge Muslimin, Opfer einer Massenvergewaltigung, das Kind eines Vergewaltigers aus. Irgendwann wird die junge Frau dann auch zur Verführerin. Wie erklären Sie das?
Sie versucht nur, zu überleben. Fälle wie dieser wurden in der Geschichte häufig dokumentiert.

In dem mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichneten Buch "Keiner war dabei: Kriegsverbrecher vom Balkan vor Gericht" richtet sich Ihr Blick auf die Täter.
Wie werden normale Menschen zu Verbrechern? Handelt es sich überhaupt um normale Menschen? Es war eine wichtige Erfahrung für mich, im Gerichtssaal zu sitzen und diese Menschen zu sehen. Wie sie sich benehmen, wie sie sprechen usw. Dann zweifeln Sie nicht mehr daran, dass Sie es nicht mit Monstern zu tun haben, dass es ganz gewöhnliche Leute sind.
Diese Schlussfolgerung ist aber eine weitaus schrecklichere. Wären sie Monster, könnten Sie ausschließen, dass Sie jemals derart grauenhafte Verbrechen begehen könnten. Sind sie aber gewöhnliche Menschen, müssen Sie schlussfolgern, dass Sie selber in eine Lage geraten könnten, in der Sie bereit wären, Verbrechen zu begehen.
Im "Spiegel" wurde jetzt das private Fotoalbum eines SS-Mannes veröffentlicht, eines Lagerkommandanten. Die Freizeitfotos von Heidelbeeren essenden, Akkordeon spielenden SS-Leuten können nur jemanden schockieren, der diese Menschen für Monster hält. Aber es waren normale Menschen, deren Job es war, Juden in Auschwitz umzubringen. Natürlich hatten sie Freizeit, natürlich hatten sie Spaß, spielten Akkordeon und tranken Â…

Sie schreiben dort auch über Biiljana Plavsic, die "Eiserne Lady der Serbischen Republik", die einzige Frau, die wegen Kriegsverbrechen angeklagt war. Obwohl sie sich grauenhafter Verbrechen schuldig gemacht hatte, schreiben Sie mit einem gewissen Respekt über sie.
Ich respektiere sie, weil sie ihre Schuld gestand und sagte: Es tut mir Leid. Es gab so wenige, die realisierten, dass sie Verbrechen begangen hatten und dass sie die Verantwortung dafür trugen, wie es bei ihr der Fall war. Ich denke, dass sie Respekt verdient. Weil sie gestand und die Verantwortung übernahm, wurde sie als Verräterin behandelt. Ich glaube, das sagt viel über diese Gesellschaft aus.

Im Epilog beschreiben Sie die paradiesische Koexistenz von Serben, Kroaten, Moslems in Scheveningen. "Zuhause" propagierten oder praktizierten diese Männer Völkermord an anderen ethnischen Gruppen. Hier kochen sie zusammen, sie spielen Karten. Das ist eine schreckliche Tragikomödie.
Das Motto meines Buches ist die Aussage von Hannah Arendt, dass diese Männer ihr Leben spalten konnten: Privat- und Berufsleben. Privat konnten sie Vegetarier sein, Tiere lieben, keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber sie waren Berufskiller. Privat hatten sie moslemische Freunde, serbische Freunde Â… und sie spielten natürlich Karten zusammen. Am Ende dieses ganzen Mordens die Frage: Warum? Warum? Die größten Verbrecher sitzen zusammen und haben Spaß.

Die intensivste Liebesgeschichte, die ich kenne, ist "Das Liebesopfer". Als die Umstände ein junges Paar zu trennen drohen, isst eine junge Frau ihren Freund. Es ist die dramatischste Konsequenz der Liebe, die man sich vorstellen kann. Mystische, totale, totalitäre Liebe. Schrieben Sie dieses Buch, um traumatische Erfahrungen zu verdauen? Wenn nicht, wie konnten Sie so tief eintauchen in dieses Liebesmassaker? War Ihnen nicht dauernd schlecht?
Der beste Teil von mir, wie von jedem/r SchriftstellerIn, drückt sich im Schreiben aus. Wenn man aber später erklären soll, was warum geschehen ist Â… Ein Psychiater könnte es besser erklären. Gewiss war es eine sehr harte Geschichte, und es war nicht leicht, sie zu schreiben und sie zu überleben.
Ich bin immer am Körper interessiert - und ich ende immer beim Körper, es ist vielleicht mein einziges Thema. Wie erfahre ich den Körper, wie überschreite ich ihn, wie weit kann ich gehen. Das Gleiche bei "Frida", bei "Marmorhaut". Liebender Körper, hassender Körper.

Lebten sie zu dieser Zeit mit einem Mann, und was wurde aus ihm?
Ich bin noch immer mit dem gleichen Mann verheiratet. Auf einer Lesereise in den USA kam die Publikumsfrage, was denn mein Mann von diesem Buch halte. Er stand auf und sagte: "Ich schlafe mit einer Pistole unterÂ’m Kopfkissen."

Wie sind die Reaktionen auf Ihr Werk in Kroatien?
Seit ein paar Jahren hat sich viel geändert. Ein großer Verleger veröffentlichte mein Gesamtwerk. "Frida" wurde begeistert aufgenommen. Es ist seit 15 Wochen auf der Bestsellerliste. Die Rezensionen sind alle positiv, aber sie haben eines gemeinsam: Sie erwähnen meine anderen Bücher nicht. Man könnte denken, es ist mein erstes Buch. Ich glaube, das ist der Ausweg aus der früheren, negativen Haltung mir gegenüber: Ground Zero.

Frida Kahlo war in den Siebzigern eine feministische Ikone. Ihr Leben ist zum Mythos geworden, den sie selber gesponnen hat. Jetzt, zum 100. Geburtstag, bricht eine neue Frida-Welle über uns herein. Warum sind Sie auf diese Welle aufgesprungen?
Der Geburtstag spielte dabei keinerlei Rolle. Ich plante dieses Buch seit Jahren. Mein Motiv war ein vollkommen anderes. Ich war daran interessiert, dass sie den Schmerz malte. In meinem Schreiben versuche ich, den Schmerz in Wörter zu fassen. Ich versuche und versuche Â… Es ist nicht an mir, zu sagen, inwieweit es mir gelingt, das müssen die LeserInnen und die KritikerInnen beurteilen.

Kahlos freie Darstellung physischer und psychischer Schmerzen waren extrem schockierend. Niemand hatte bis dahin diese Themen, diese Motive gehabt: Conditio feminina, die weibliche Horrorstory. Z. B. der abgetriebene Fötus. Zugleich malte sie die Liebe beinahe naiv.
Die weibliche Horrorstory ist immer noch schockierend. Wer hängt sich den abgetriebenen Fötus ins Wohnzimmer? Ihre Malerei hat immer noch eine starke Wirkung. Ich finde nicht, dass sie Liebe naiv darstellte. Ihre Liebesbilder mit Diego sind Kunst.

Was sagt Ihr feministisches Über- Ich zu dieser Hingabe und zu dieser selbstzerstörerischen Leidenschaft?
Die Tragödie ist das Missverständnis. Die Tragödie ist, dass Sie und ich, dass wir im vollen feministischen Bewusstsein zu viel verlangen. Die Art von Liebe, die wir Frauen wollen, ist einfach falsch. Zu viel verlangt! Das ist nicht das Leben. Ich verteidige Männer vor Frauen, die zu viel von ihnen verlangen. Wir sind in diesem Bewusstsein erzogen worden, mit dieser Haltung, diesen Erwartungen. Wir erwarten die Erlösung von ihnen, als wären sie Jesus. Aber sie sind es nicht. Ich verteidige Männer vor dieser alles überschwemmenden Liebe. Auch wenn ich Feministin bin! Vor dieser possessiven Liebe. Jemanden vollkommen besitzen, das ist es, was wir wollen. Je älter ich werde, desto weniger glaube ich daran. Sie können uns das nicht geben.
Das ist aber schrecklich für die Männer. Dann kennen sie diese Ekstase ja gar nicht.
Eine Ekstase, die in vollkommener Besessenheit endet und im Tod Â… Ich schrieb ein Buch über endgültige Liebe.

Das Kannibalinnenbuch?
Ja, natürlich.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at