Europa: Vision und Votum

Als vor 50 Jahren die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft feierlich beschlossen wurde, stand die innenpolitische Frage der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr weit mehr im Zentrum.

Als vor 50 Jahren die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft feierlich beschlossen wurde, stand die innenpolitische Frage der atomaren Ausrüstung der Bundeswehr weit mehr im Zentrum nicht nur meiner Aufmerksamkeit. Wie viele andere habe auch ich damals nicht begriffen, dass diese Zollunion bereits mit verfassungsähnlichen Institutionen ausgestattet wurde und damit die Perspektive auf eine Europäische Gemeinschaft, also eine politische Vereinigung der Länder Westeuropas, eröffnete.

Andererseits standen die pazifistischen Motive, die damals die Anhänger der Friedensbewegung im nationalen Rahmen bewegten, im Einklang mit den Motiven, welche die sechs Gründungsstaaten und die Hauptakteure Adenauer, de Gasperi und Schumann angetrieben haben: Nie wieder Krieg zwischen den Nationalstaaten, die sich in zwei Weltkriegen zerfleischt hatten, natürlich die Einbindung Deutschlands, das den Krieg angezettelt hatte und mit dem monströsen Verbrechen der Judenvernichtung belastet war.

Heute ist der eigentliche Paradigmenwechsel der Europäischen Gemeinschaft - weg vom Nationalstaatendenken hin zur europäischen Sicht - zwar noch nicht endgültig vollzogen, aber ein erhebliches Stück vorangekommen. Deshalb waren 50 Jahre Europäische Gemeinschaft in der Tat ein Grund zum Feiern.

Daneben gibt es aber noch ein ganz anderes Ergebnis, das sich Europa heute mit etwas größerem Selbstbewusstsein zunutze machen könnte. Die europäische Einigung ermöglicht es, in der multipolaren Spannungslage von heute eine Rolle zu spielen, die damals, zu Beginn des Ost-West-Konflikts, niemand voraussehen konnte. Am Anfang war "Europa" die Antwort auf Probleme, die sich innerhalb Europas stellten. Heute richtet sich, wenn wir an die Zukunft Europas denken, der Blick vor allem auf Probleme, die uns von außen herausfordern. Und dabei ist keineswegs nur die Osterweiterung gemeint, die die Einigungsdynamik über den in Nizza erreichten Stand hinaustreibt.

Noch ist die Europäische Union jedoch den großen geopolitischen Herausforderungen wie auch den wachsenden internationalen Erwartungen, die sich an eine diplomatisch ausgleichende Macht richten, nicht gewachsen. Exemplarisch zeigte sich dies am letzten, auf libanesischem Boden ausgetragenen Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah. Da die USA durch die einseitige Politik der Bush-Regierung im Nahost-Konflikt längst zur Partei geworden war, richteten sich viele Erwartungen auf Europa, das als neutraler eingeschätzt wurde. Die EU schickte zwar ihren außenpolitischen Sprecher Solana nach Beirut und Jerusalem, bot aber im Übrigen mit einem Chor von dissonanten Stimmen ein ziemlich lächerliches Bild. Gleichzeitig versuchten sich nämlich einzelne Länder wie Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Spanien als Nationalstaaten zu profilieren und einander mit jeweils hausgemachten Initiativen zu übertrumpfen.

Deshalb zählen eine gemeinsame Außenpolitik, der Aufbau gemeinsamer Streitkräfte, freilich auch eine Harmonisierung der Steuer- und Wirtschaftspolitik in der Absicht, unsere gefährdeten sozialen und kulturellen Standards abzusichern, zu den dringendsten Herausforderungen, denen sich ein geeintes Europa im 21. Jahrhundert stellen müsste.

Die Unordnung im eigenen Haus

Gegenüber diesen unmittelbar politischen Zielen liegt die Frage der gescheiterten EU-Verfassung auf einer anderen Ebene. Die erweiterte EU muss nämlich zunächst einmal ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, um regierbar zu bleiben und die nötige politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen, bevor sie sich solche ehrgeizigen Ziele setzen kann. Vor allem sollten wir uns keine Illusionen darüber machen, woran heute eine Vertiefung der Institutionen wirklich scheitert. Nämlich nicht am Widerstand der Bevölkerungen, obwohl dies die naheliegende, aber falsche Vorstellung ist, die sich nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden festgesetzt hat. Tatsächlich haben wir in den meisten kontinentalen Ländern nach wie vor schlafende Mehrheiten für eine Vertiefung der Europäischen Union.

Der Grund für die Lähmung der Einigungsdynamik liegt vielmehr darin, dass verschiedene Regierungen mit der Union unterschiedliche Zielvorstellungen verbinden. Die Blockade, die wir heute beobachten, erklärt sich daraus, dass die Regierungen dem vorhersehbaren Konflikt über diese zentrale Frage aus dem Weg gehen.

Die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden haben nur ans Tageslicht gebracht, dass die Regierungen in der Sackgasse stecken und weder vor noch zurück können. Bisher konnten sie sich auf die "Methode Monnet" verlassen und sind den Imperativen gefolgt, die sich aus der ökonomischen Integration zwangsläufig ergeben haben. Der Gemeinsame Markt war kein Nullsummenspiel, sondern hat jedem Mitgliedstaat eigene Vorteile gebracht. Ein Verfassungsrahmen für gemeinsame Politiken verlangt demgegenüber einen gemeinsamen politischen Willen, der über die Wahrnehmung nationalstaatlich einzuheimsender Dividenden hinausgeht. Offensichtlich können sich die Regierungen jedoch gerade im Hinblick auf die finalité, auf den Sinn des europäischen Projektes, nicht zusammenfinden.

Von dem verständlichen Zögern einiger Beitrittsländer einmal ganz abgesehen, ziehen insbesondere Großbritannien und das eine oder andere skandinavische Land in die eine Richtung, die Gründungstaaten und Spanien in die andere. Das zeigte sich etwa bei der Einigung über angeblich grundsätzliche Klimaschutzziele in Brüssel. Obwohl diese im Folgenden überhaupt erst operationalisiert werden müssen, ist die bloße Einigung bereits als großer Erfolg von Angela Merkel gefeiert worden. Aber war das Abkommen wirklich mehr als ein Ausweichmanöver vor der eigentlichen Auseinandersetzung?

Deshalb ist es auch so unbefriedigend, dass die von der deutschen Ratspräsidentschaft erarbeitete "Berliner Erklärung" die Verfassungsfrage nur ganz am Rande behandelt, nämlich mit der bloßen Absichtserklärung, "die politische Gestalt Europas immer wieder zeitgemäß (zu) erneuern" und deshalb "bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zu stellen".1

Referendum als Lösung

Als einzigen Ausweg, um die europäische Entwicklung tatsächlich nachhaltig zu befördern, sehe ich ein europaweites Referendum. Die Regierungen, die ja die Herren des Verfahrens sind, müssten ihre faktische Ohnmacht erkennen und dieses einzige Mal das Verfahren aus der Hand geben und "mehr Demokratie wagen". Sie müssten über ihren Schatten springen und sich selbst - in Gestalt der politischen Parteien, aus denen ja die Regierungen zusammengesetzt sind - vor die Wahl stellen, in einem europaweiten Wahlkampf mit offenem Visier um jede Stimme für oder gegen einen Ausbau der Europäischen Union zu kämpfen.

Das bedeutet nicht, dass die Nationalstaaten, wie es insbesondere die hinzugekommenen Osteuropäer befürchten, dadurch ihre Bedeutung verlieren. Sie bilden die unersetzlichen Komponenten, aus denen sich die internationalen Organisationen zusammensetzen. Die internationale Gemeinschaft organisiert sich schließlich in der Gestalt von "Vereinten Nationen". Wer alimentiert die Vereinten Nationen und stellt Truppen für humanitäre Interventionen, wenn nicht die Nationalstaaten? Wer, wenn nicht die Nationalstaaten, garantiert auf dem jeweils eigenen Territorium gleiche Rechte für alle Bürger?

Was sich dagegen ändern muss - und in Europa schon stark geändert hat - ist das Selbstverständnis der Nationalstaaten. Sie müssen lernen, sich weniger als unabhängige Akteure denn als Mitglieder zu verstehen, die sich zur Einhaltung von Gemeinschaftsnormen verpflichtet fühlen. Sie müssen lernen, ihre Interessen eher innerhalb internationaler Netzwerke durch kluge Diplomatie als durch Androhung militärischer Gewalt im Alleingang zu verfolgen. Und die kleinen und mittelgroßen Staaten müssen lernen, sich zu kontinentalen Regimen zusammenzuschließen, damit sie sich im Konzert der großen Mächte - USA, China, Indien, Russland - behaupten und auf eine Pazifizierung der Weltgesellschaft drängen können.

Nur durch eine derartige, auf die Konstitutionalisierung des Völkerrechts und die Stärkung der Vereinten Nationen gerichtete Entwicklung, würde die Bundesrepublik am normativen Sinn ihrer Westorientierung festhalten - auch gegen eine abwählbare US-Regierung und deren selbstzerstörerische Politik.

Bei alledem bin ich nicht so naiv zu glauben, dass selbst ein Europa, das gelernt hat, mit einer Stimme zu sprechen, aus eigener Kraft die überfällige Reform der Vereinten Nationen voranbringen könnte. Wenn sich die USA nicht, wie schon zwei Mal im Laufe des 20. Jahrhunderts, an die Spitze der Reformbewegung setzen, besteht kaum eine Aussicht auf Erfolg. Wir können bestenfalls die schwache Hoffnung hegen, dass ein stärkeres Europa in diesem Sinne Einfluss auf seinen Alliierten nehmen könnte. Freilich müssen wir wohl eher damit rechnen, dass die nächste US-Regierung den Kurs einer neorealistischen Machtpolitik steuern und für die normative Perspektive eines Ausbaus der UNO eher unempfindlich sein wird. Umso mehr wird es auf ein multilateral ausgerichtetes, starkes Europa ankommen.

Um dieser stärkeren Rolle Europas näher zu kommen, ist keine waghalsige Vision für ein halbes Jahrhundert im voraus erforderlich. Notwendig ist dagegen, wie die umgehend nach den Feierlichkeiten einsetzenden Streitigkeiten über den zukünftigen Fahrplan verdeutlichen, eine Vision bis zur nächsten Europawahl im Jahre 2009. Mit dieser Wahl könnte ein europaweites Referendum über drei Fragen verbunden werden: ob die Union, hinausgehend über effektive Entscheidungsverfahren, einen direkt gewählten Präsidenten, einen eigenen Außenminister und eine eigene Finanzbasis haben soll. Das entspricht den Vorstellungen des belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt. Die Vorlage gälte als angenommen, wenn sie die "doppelte Mehrheit" der Staaten und der Stimmen der Bürger auf sich vereinigt. Gleichzeitig würde das Referendum nur die Mitgliedstaaten binden, innerhalb deren sich jeweils eine Mehrheit der Bürger für die Reform entschieden hat.2

Wenn das Referendum Erfolg hätte, würde sich Europa vom Modell des Geleitzuges verabschieden, worin der Langsamste das Tempo angibt. Auch in einem Europa von Kern und Peripherie würden natürlich die Länder, die es vorziehen, einstweilen am Rande zu bleiben, die Option behalten, sich jederzeit dem Zentrum anzuschließen. Nur mit einem solchen Zuwachs an Dynamik und Handlungsfähigkeit könnte Europa den globalen Herausforderungen der kommenden 50 Jahre gerecht werden.

1 Vgl. die Dokumentation in diesem Heft.
2 Vgl. die Dokumentation der Rede von Guy Verhofstadt zur Vorstellung seines "Manifests für Europa" in: "Blätter" 2/2006, S. 244-246.

Kommentare und Berichte - Ausgabe 05/2007 - Seite 517 bis 520