Erziehung tendiert dazu, gesellschaftliche Strukturprobleme pädagogisch, wenn nicht zu lösen, so doch in den Griff kriegen zu wollen, so letzten Endes die gesellschaftliche Ebene auszublenden.
Erziehung ist wieder in aller Munde, Gegenstand vielfältiger Erörterungen 1. Die massenmediale Präsenz des Themas - die RTL-Serie "Super-Nanny", ein "Zeit-Dossier"2, ein Ende 2004 erschienenes Sonderheft von "Psychologie heute"3 - zeugt davon ebenso wie die systematisch betriebene Verbreitung von Erziehungstechniken wie "STEP" (Training for effective Parenting) oder "Triple P" (Positive Parenting Program). Wie das Engagement für "anti-autoritäre Erziehung " (Ende der sechziger Jahre) und die Gegenbewegung "Mut zur Erziehung" in den 80er Jahren 4 verweist auch die gegenwärtige - das Erziehungsproblem fokussierende - Debatte auf eine gesellschaftliche Problemlage. Sie scheint mir darin zu bestehen, dass die propagierten "Chancen" der so genannten Individualisierung ein angesichts der "Risiken", die die neoliberale Entfesselung des "Marktes " mit sich bringen, grosso modo leeres Versprechen sind, dass die (mehr oder weniger) freie Entwicklung einiger mit der strukturellen Behinderung vieler einhergeht, dass traditionelle Wertvorstellungen wie etwa die, dass Fleiß sich lohne, materiell nicht unterfüttert sind, dass aber trotzdem Kinder zu nützlichen Gesellschaftsmitgliedern gemacht werden sollen, dass sie trotzdem nicht resignieren, fleißig sein, nicht gewalttätig werden, nicht aus dem Ruder laufen sollen - also in einer Gesellschaft, deren Krise jedem und jeder ins Gesicht schlägt, eine Orientierung kriegen sollen, die den gewünschten Verhaltensweisen förderlich ist.
Der in dieser gesellschaftlichen Situation präventive und reglementierende, die neue Debatte bestimmende pädagogische Grundbegriff entspricht einer staatlichen Maßnahme der DDR von 1961: "Grenzen setzen". Die - sagen wir - nicht-metaphorische, staatlich-architektonische Operationalisierung dieses Konzepts hat sich (mit hohen politischen und menschlichen "Kosten") nur transitorisch bewährt und musste 1989 aufgegeben werden, und seine systemübergreifende pädagogische Variante kann nur in Ausnahmefällen architektonisch funktionieren (geschlossene Heime etc.). Für alltägliches pädagogisches Denken und Handeln, sei es professionell oder im weiteren Sinne "familiär", ist "Grenzen setzen" natürlich nur eine "Metapher", die weniger auf die strukturelle Vergeblichkeit des materialen Grenzen Setzens verweist als auf eine strukturelle Unendlichkeit.
Warum? Weil Erziehung dazu tendiert, gesellschaftliche Strukturprobleme pädagogisch, wenn nicht zu lösen, so doch in den Griff kriegen zu wollen, so letzten Endes die gesellschaftliche Ebene auszublenden bzw. in der Erzieher-Zögling-Interaktion zu personalisieren. Wenn die anfänglich skizzierte gesellschaftliche Problemlage historisch-konkreter Ausdruck eines Grundproblems der bürgerlichen Gesellschaft ist, das Versprechen der Chancengleichheit nicht einlösen zu können (und wenn heute Chancengleichheit nicht einmal mehr die Verbesserung gesellschaftlicher Bedingungen meint, sondern in die für viele ruinöse individuelle Wettbewerbsfähigkeit umgedeutet wird), wenn die Schule die Gleichzeitigkeit von Emanzipation und Selektion repräsentiert, dann bedeutet "Grenzen setzen" (auch) den - unter emanzipatorischen Gesichtspunkten (hoffentlich) eben strukturell vergeblichen - Versuch einer Durchsetzung der Akzeptanz eben dieser Verhältnisse durch die "Subjekte", die als Erziehungsobjekte fungieren - sich dagegen aber erfahrungsgemäß immer wieder wehren.
Wessen (Erziehungs-) Ziel Anpassung und Unterwerfung sind, wird auf die bekannten Mittel von Zwang und Bestechung setzen. Doch was ist denen an die Hand gegeben, die den Verhältnissen, in denen sie erziehen, fundamental kritisch gegenüber stehen? Das ist die Frage, die den hier zur Debatte stehenden Aufsatz Armin Bernhards durchzieht. Diese Frage ergibt sich aus der Einsicht in den Umstand, dass die individuelle und die gesellschaftliche Reproduktion miteinander vermittelt sind, und dass Pädagogik als mit individueller Vergesellschaftung befasst dem in Theorie und Praxis Rechnung zu tragen hat. Grundlegend dafür ist die Art und Weise, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von individuellem Lebensprozess und gesellschaftlicher Struktur gefasst wird - und welche Rolle der "menschlichen Natur" im Prozess individueller Vergesellschaftung beigemessen wird.
Subjekte als Objekte erzieherischen Handelns?
Um in meiner Analyse von Erziehung(sproblemen) weiter zu kommen, will ich deswegen mit Holzkamp das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum als "Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses" charakterisieren, wobei der Marxismus in der Analyse und Veränderung gesellschaftlicher Prozesse als "historische Subjektwissenschaft par excellence" gefasst wird, während eine marxistische bzw. die "Kritische Psychologie" als "besondere Subjektwissenschaft" auf die "Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit" ziele.5 Diese Sicht schließt die Vorstellung einer milieu-deterministischen Formierung von Subjekten ebenso aus wie die Vorstellung ihres Lebens in frei flottierenden Sinnstiftungen bezüglich einer bloß Interpretationen anheim gegebenen Welt. Die gesellschaftstheoretische Bezugsebene, mit der Machtverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft auf den Begriff gebracht werden, erzwingt es vielmehr, psychologisch zu berücksichtigen, dass Handlungsmöglichkeiten dem Individuum nie ungebrochen, sondern immer in einem je zu klärenden Verhältnis zu gesellschaftlichen Handlungsbehinderungen gegeben sind. Dabei steht das Individuum vor der Alternative, sich mit bloß zugestandenen Möglichkeiten zu arrangieren oder diese Möglichkeiten selber - gegebenenfalls im Zusammenschluss mit anderen - zu erweitern. Birgt die zweite Möglichkeit das Risiko zu scheitern und sich weitere, vielleicht größere Probleme einzuhandeln, ist die erste mit den psychischen Kosten verpasster Möglichkeiten verbunden. Wie die Einzelnen mit diesem (Dauer-) Konflikt umgehen, wie ihnen gesellschaftliche Bedingungen als subjektive Prämissen bedeutsam werden, ist psychologisch auf die darin enthaltene subjektive Funktionalität hin zu analysieren.6
Vor diesem Hintergrund kommt "Erziehung" als gesellschaftlicher (in verschiedenen Kontexten wie Schule und Familie wirksamer) Instanz eine spezifische Vermittlung im Verhältnis zwischen "objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung" zu, deren Qualität davon abhängt, ob bzw. wie sie die Besonderheit dieses Verhältnisses berücksichtigt.
Und eben hier setzt meine Kritik an Bernhards Argumentation an. Darin sind die von mir angesprochenen Dimensionen der Gesellschaftlichkeit von Erziehung und der Intention eines emanzipatorischen Eingriffes in die Gesellschaft zwar thematisiert, die Subjekte aber, an (und gegebenenfalls gegen) die Erziehung sich richtet, treten zuvörderst als Objekte einer - irgendwie anonymen - Erziehungsinstanz in Erscheinung, als - im etymologischen Sinne des Wortes - "Unterworfene" (bzw. vorher zu Unterwerfende)7, so dass die Widersprüche einer "Erziehung" in der bürgerlichen Gesellschaft - als historisch-spezifischer Ausdruck des Verhältnisses von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung - in ihrer Problematik verschwinden, womit der emanzipatorische Impetus des Aufsatzes von Bernhard desavouiert wird.
Im Folgenden will ich zunächst einige aus meiner Sicht in Bernhards Aufsatz kritische Punkte resümieren und kommentieren und damit die Skizze einer Konzeption vorbereiten, die den Kritikpunkten Rechnung tragen und meine Argumentation abschließen soll.
Bernhard stellt uns die Aufgabe - emanzipatorisch intendierter - Erziehung folgendermaßen vor: "Eine tief greifende Umgestaltung der sozialen Verhältnisse kommt an der Neuformierung der Menschen nicht vorbei. Wer mit strukturellen Eingriffen in die Gesellschaft nicht zugleich die jeweils konkrete Lebensweise und den jeweils vorherrschenden Menschentypus verändernd bearbeitet, kann keine gesellschaftliche Alternativzivilisation entwickeln" (S. 10).8 "Bildung und Erziehung zielen auf die Formung, Gestaltung und Entwicklung von Menschen, die der jeweiligen Konzeption, den Leitideen, der Ideologie einer Gesellschaft entsprechen sollen." Und: "Sie bearbeiten die Humanpotenziale im Sinne eines Aufbaus von Subjektvermögen" (S. 11). Für Gramsci, so Bernhard, sei seine Mündigkeitsvorstellung an sein Konzept der Hegemonie gebunden, welche wiederum "an die edukative Fähigkeit der herrschenden Gesellschaftsgruppen geknüpft (ist), also an ihre Fähigkeit zu führen", eine Fähigkeit, die auch die "Subalternen entwickeln" müssten, um eine "kritische Gegenhegemonie bilden zu können", in der "(d)er Wille des Menschen, sich selbst zu bestimmen, Â… zum Ausdruck" komme (S. 12).
Halten wir in unserer Darstellung inne, sehen wir uns mit einem widersprüchlichen Bündel von Aussagen konfrontiert: Einmal werden Menschen wie Werkstücke geformt und gestaltet, sie werden als Typen klassifiziert und somit und reduzierend vereindeutigt (statt dass nach widersprüchlichen "typischen" Handlungs- und Denkweisen gesucht würde); auf der anderen Seite ist vom Willen des Menschen, sich selbst zu bestimmen, die Rede; irgendwie dazwischen ist angesiedelt, dass mit dem "Bearbeitet Werden" "Subjektvermögen" aufgebaut werde. Man fühlt sich an König Pygmalion erinnert, der eine Statue aus Stein werkte, der eine gnädige Göttin Leben einhauchte. Doch wo ist diese dea ex machina in der vorgestellten Konzeption? Wie können wir der widersprüchlichen Anordnung, die Formung und Entwicklung umstandslos in eine gleichwertige Reihung bringt, auf den Grund gehen? Indem wir Bernhards Bemerkung, dass, während das "Politische in der Geschichte auf äußere Rahmenbedingungen der Gestaltung menschlicher Lebensbedingungen bezogen" sei, sich "das Pädagogische auf die innerpsychischen Korrelate gesellschaftlicher Reproduktionserfordernisse" beziehe, weiter verfolgen, eine gewisse Parallelität zu Holzkamps zitierter Bestimmung des Verhältnisses von "Marxismus" und "Kritischer Psychologie" im Kopfe bewahrend. Es geht darum, was innerpsychische Korrelate wohl sein sollen.
Erziehung als (Nah-) Kampf gegen die Natur?
Bernhard verhandelt das - wieder im Bezug auf Gramsci - im Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. "Die emanzipatorischen Möglichkeiten der Geschichte können nicht losgelöst vom konkreten Zwang der jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Verhältnisse freigesetzt werden, und Erziehung ist Teil dieses Zwanges". (S. 12 f.) Dazu ist zu fragen: Wieso ist Erziehung nicht (auch bzw. erst spät) Moment der emanzipatorischen Möglichkeiten? Bernhard stellt fest, das Selbstbestimmung nicht "jenseits der geschichtlichen Notwendigkeit zu haben" (S. 13) sei, wechselt dann terminologisch von "Erziehung " zu "Subjektwerdung" und schreibt: "Für die Subjektwerdung gilt diese Verschränkung von Freiheit und Notwendigkeit analog, doch charakterisiert sie hier eine gattungsspezifische, anthropologische Notwendigkeit." (ebd.) Das muss zwar auch für die Vorsätze gelten, es geht aber wohl um etwas Anderes: nämlich wie andere, insbesondere Kinder, Gramscis und Bernhards Einsicht gewinnen. Durch Zwang, der Mittel dafür ist, dass gesellschaftlicher "Konformismus" Erziehungsresultat ist - wobei Konformismus bei Gramsci hier als "Gesellschaftlichkeit" gelesen werden muss.9 Gesellschaftlich muss dem Kind (und vielleicht auch störrischen oder "kindischen" Erwachsenen) durch Zwang aufgeprägt werden: "Im gesellschaftlichen Auftrag bearbeitet Erziehung die menschliche Natur gemäß gesellschaftlichen Anforderungen, ein Umstand, der ihr notwendigerweise den Charakter der Zwangsförmigkeit verleiht. Denn weil gesellschaftliche Erfordernisse und menschliche Natur nicht zusammenstimmen, muss Erziehung im ›Kampf gegen die Natur‹ diese domestizieren und in eine historisch konkrete Form umarbeiten. " Das von Bernhard eingeflochtene Zitat entstammt Gramscis programmatischem Satz: "Eigentlich erzieht jede Generation die neue Generation, das heißt, sie formt diese, und die Erziehung ist ein Kampf gegen die an die elementaren biologischen Funktionen geknüpften Instinkte, eine Kampf gegen die Natur, um diese zu beherrschen und den für seine Zeit ›gegenwärtigen‹ Menschen zu schaffen."10
Danach muss man dem Zögling Gesellschaftlichkeit von außen aufprägen, weil Kinder geborene Schädlinge sind - eine Auffassung, wonach jede Gesellschaft, auch eine sozialistische, der menschlichen Natur zuwiderläuft 11, und der der von der kulturhistorischen Schule angeregte und in einer Spezifizierung des marxschen logischhistorischen Verfahrens historisch-funktional 12 gewonnene Befund gegenübersteht, dass Menschen von Natur aus nicht un- oder antigesellschaftlich sind 13.Wir haben insofern eine gesellschaftliche Natur, als wir grundsätzlich in der Lage sind, uns zu vergesellschaften, verbunden mit der subjektiven Notwendigkeit, Verfügung über unsere Lebensumstände zu gewinnen, in diesem Sinne handlungsfähig zu werden. "Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d. h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung dieser Einschränkung."14
Dann ist aber die Frage zu stellen, ob nicht eine Erziehung, die genau das fordert, die überflüssige und damit verdächtige Verdoppelung einer subjektiven Notwendigkeit darstellt. Dagegen liegt nun wieder der Einwand nahe, ob hier nicht ein Idealbild gezeichnet wird. Ich leugne natürlich nicht, dass es so genannte "schwierige" und "faule" Kinder gibt, dass neben kleinen Wonneproppen auch große Kotzbrocken existieren, wohl aber, dass sie quasi "von Natur aus" so sind. Es scheint mir theoretisch näher zu liegen und praktisch produktiver zu sein, die Annahme zu vertreten, diesen schwierigen und faulen Kindern sei der Spaß am Lernen ausgetrieben worden, bzw. sie fänden sich in einer Situation des Widerstands - gegebenenfalls gerade durch und gegen die kritisierte Art der Erziehung. Wenn also die Formen, in denen sich die subjektive Notwendigkeit der Vergesellschaftung/ Verfügung realisiert, uns nicht gefallen, müssen wir uns fragen, was sich Kinder gefallen lassen mussten, dass sie sich in ungefälliger Weise vergesellschaften. Die Formen, unter denen Menschen (Kinder, Jugendliche) Verfügung über ihre Lebensumstände zu erreichen versuchen, sind natürlich je nach gesellschaftlicher Lage, Situation und Geschlecht und deren subjektiver Interpretation sehr verschieden.
Das zentrale Problem besteht darin, dass in der menschlichen Existenz als der Realisierung einer widersprüchlichen Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte natürliche und gesellschaftliche Momente immer schon vermischt auftreten - ein Umstand, der Biologisierungen durchaus begünstigt 15 und Debatten hervorruft wie die, ob Auschwitz ein Zivilisationsbruch zugunsten ungehemmter Natur sei (zahllose psychoanalytische Autorinnen und Autoren) oder eher ein Zivilisationseffekt 16. Die Projektion aller möglicher Vorstellung in die "Natur"17 hat so gegensätzliche Konsequenzen wie die Vorstellung, erzieherischer Umgang sei Nahkampf gegen die menschliche Natur, oder die Vorstellung, man müsse Kinder nur wachsen lassen, ihre Natur werde ihnen schon den Weg weisen - eine Vorstellung, mit der sich Bernhard in seinem Aufsatz m. E. zu Recht kritisch auseinander setzt. Nur: beide Vorstellungen basieren auf derselben Gedankenfigur: einer projektiven inhaltlichen Bestimmung der menschlichen Natur, die je nach Inhalt bekämpft oder in Ruhe gelassen werden muss.18
Eine naturwissenschaftliche Bestimmung von Natur hat vor allem die Funktion, derartige Naturalisierungen zurückzuweisen - auch gegen die erziehungsideologische Funktion der Hypostase einer ungesellschaftlichen Natur des Menschen und der damit begründeten ungehemmten Möglichkeit, Zwang zu legitimieren (bzw. zu idealisieren: "eine Art humaner Zwang" - S. 15) und Widerstand dagegen als verschärften Ausdruck eben ungesellschaftlicher Natur zu delegitimieren und zu bekämpfen, womit - zirkulär - Erziehung zur Brechung jenes Widerstands wird, den sie selber mit erzeugt hat.
Die Selbstgewissheit seiner Erziehungskonzeption korrespondiert mit Bernhards deterministisch-milieutheoretischer Interpretation der 6. Feuerbachthese Marxens und seiner Interpretation des Verhältnisses von Determination/Notwendigkeit und Freiheit.
Der erzogene Mensch als Ensemble der Verhältnisse?
Mehrfach äußert Bernhard in seinem Aufsatz die Auffassung, der Mensch sei das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse (S. 16 f.), obwohl es in der Feuerbachthese, die das begründen soll, heißt: "Â…Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."19 Wie u. a. von Sève 20 herausgearbeitet wurde, ist MarxÂ’ These, dass das Wesen des Menschen das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, gerade nicht eine milieutheoretisch-deterministische Zurückweisung der idealistischen Vorstellung eines im Individuum hockenden Wesens, sondern eine Betonung des Umstandes, dass dieses Wesen gesellschaftlich produziert ist und die einzelnen Menschen sich zu ihm verhalten (können und müssen), also das Verhältnis von objektiver Bestimmung und subjektiver Bestimmtheit erst in seiner Spezifik fassbar wird. Bernhard sagt zwar an anderer Stelle (mit Gramsci), der Mensch solle "›Führer seiner selbst‹ werden und sich nicht den Stempel von äußeren Bedingungen aufdrücken lassen" (S. 16), was sich aber schwer mit dem Menschen als Ensemble von Bedingungen vereinbaren lässt. Bernhards Rettungsversuch: "Der Mensch ist zwar das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, er ist immer gesellschaftlicher Kollektivmensch, doch geht er in dieser Bestimmung nicht auf", weil er gestalten könne, kann nicht klappen. Begriffsakrobatische Luftnummern sind hier auch überflüssig, weil der Mensch eben nicht das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.
Wieder haben wir das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung als Inkompatibilität von Determinismus und subjekthaftem Eingriff vor uns, die Bernhard in Erziehungsfragen zu der Entscheidung zwingt, die Zöglinge dann doch als Objekte von Einwirkungen und Gegenstand von Anpassung zu fassen.
Was bedeutet "Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit"?
Dies zeigt sich, wie angekündigt, auch in seiner Behandlung des Problems von Freiheit und Notwendigkeit. Vor dem Hintergrund der berühmten engelsschen (dezidiert auf Hegel rekurrierenden) Formulierung, Freiheit beruhe auf "Einsicht in die Notwendigkeit"21, ist die in unserem Zusammenhang zentrale Frage die, was genau es heißt, dass - von den Subjekten - "›objektive‹ Notwendigkeiten Â… anerkannt und spezifisch gestaltet werden müssen" (S. 13). Die Argumentation von Engels ist sach-logisch, bezogen auf Naturgesetze und gesellschaftliche Wirkzusammenhänge, die begriffen werden müssen, damit sie - von (assoziierten) Subjekten - genutzt bzw. beeinflusst werden können (wobei zu berücksichtigen ist, dass, was als gesellschaftliche Notwendigkeit gilt, zumindest in concreto höchst umstritten und Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist). Diese Sachlogik hat eine konditionale Gestalt: Wenn ich als Subjekt dies oder jenes erreichen will, dann muss ich bestimmte Zusammenhänge begreifen und berücksichtigen. Wenn ich "Freiheit", verstanden als die historisch mögliche (kollektive) Verfügung über meine gesellschaftlichen Lebensumstände, realisieren will, muss ich die dem entgegen stehenden Herrschaftsstrukturen berücksichtigen. (Eine Nummer kleiner: Wenn ich die Freiheit genießen will, auf den See hinaus zu schwimmen, muss ich schwimmen lernen/können.) Diese sach-logische, konditionale Argumentation ist aber von der psycho-logischen zu unterscheiden, bei der es um die Frage geht, ob ein Subjekt dies oder jenes überhaupt erreichen will, ob es andere Ziele verfolgt, ob es sich bestimmten Anforderungen entziehen will, ob es meint, ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht genügen zu können oder zu wollen. Anders formuliert: Hier geht es um die Frage, wie aus welchen subjektiven Gründen sich die Einzelnen zu (als Anforderungen an sie in Erscheinung tretenden) objektiven bzw. als objektiv definierten Notwendigkeiten verhalten. Diese - von der sach-logischen eben zu unterscheidenden - psycho-logische Fragestellung ist zentrales Implikat einer "subjektwissenschaftlichen Qualifizierung des Verhältnisses objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung menschlicher Lebensgewinnung".22 Die Vernachlässigung dieser subjektwissenschaftlichen Qualifizierung setzt die - von wem auch immer bestimmte oder "allgemein" anerkannte - objektive Notwendigkeit mit deren je subjektiv-phänomenaler Realisierung, mit subjektiver Notwendigkeit, in eins, wo doch das Verhältnis zwischen beiden erst aufzuklären wäre. "Freiheit" ist danach für die Einzelnen eine Möglichkeit, die sie realisieren können, und deren tatsächliche Realisierung sie mit dann "einzusehender" Notwendigkeit konfrontiert, die sie eben - sach-logisch - realisieren müssen, wenn sie die damit gegebenen Verfügungen realisieren wollen oder wollen können.23 Die pädagogisch-praktische Relevanz der Berücksichtigung der spezifischen Differenz zwischen der skizzierten Sach- und Psycho-Logik besteht darin, dass der gegenüber Anderen ausgeübte Zwang zur Erfüllung (von wem auch immer definierter) objektiver Notwendigkeiten nicht einfach als der Anderen Freiheit deklariert werden kann: Die Einsicht in die Alternativlosigkeit zu einem Handeln im Sinne verordneter oder deklarierter Notwendigkeit hat mit Freiheit nichts zu tun - weder pädagogisch noch politisch. In dem Maße, in dem Zwang als Medium individueller Vergesellschaftung gilt, ist die kategoriale Differenz objektiver und subjektiver Notwendigkeit zu vernachlässigen - die Freiheit dann allerdings auch.24 Übrig bleiben Zynismus auf der einen und (hoffentlich) Wut oder (leider) Resignation auf der anderen Seite.
Wenn also Bernhard meint, "jeder Verzicht auf die Formung des Kindes" liefere dieses "umso mehr der Fremdbestimmung" mit dem Resultat "formlose(r) Individualität" (was immer das sein mag) aus (S. 15), ist zu hinterfragen, inwieweit diese Formung selber Teil einer Fremdbestimmung ist, inwieweit sich das Kind zu diesen Formungsintentionen verhalten kann, wie eigentlich genau zu bestimmen ist, wer ein Kind fremdzubestimmen versucht und wer nicht - und welche Rolle ein nicht als Bearbeitungsobjekt gedachtes Kind dabei selber spielt. Dazu will ich zum Abschluss einige Überlegungen der Kritischen Psychologie beisteuern, die ihren Ausgang von einem empirischen Projekt nehmen, in dem das Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern untersucht wurde.25
Widersprüche emanzipatorischer Erziehung
Zunächst will ich die bislang erörterten Dimensionen von Erziehung folgendermaßen resümieren: 1. Erziehende vertreten gesellschaftliche Anforderungen und Ziele, die die Zöglinge nicht erfüllen (wollen) können. 2. Erziehung besteht aus einschlägigen Maßnahmen. 3. Erziehung bedeutet Machtausübung (auch "Zwang", s. o.), die sich mit Erziehungserfolg reduzieren kann (vgl. bei Bernhard z. B. S. 15). Zu den unter 1. erwähnten Erziehungszielen ist zu sagen: a. Die Erziehenden kennen und wählen sie. b. Sie versuchen sie so zu vermitteln, dass sie den Zöglingen einsichtig werden. c. Soweit die Zöglinge dies bzw. diese Ziele noch nicht einzusehen vermögen, setzen die Erziehenden die Ziele verantwortlich und stellvertretend durch. - Wir treffen hier im Übrigen auf das allgemeinere Problem der Differenz zwischen (selbst-definiertem) Wunsch und (fremd-definiertem) Wohl (oder dem Bedarf und dem Bedürfnis) eines Menschen (ob ein Kind mit Förderbedarf auch ein Bedürfnis nach Förderung hat, darf getrost als offen angesehen werden).
Voraussetzung der so skizzierten Vorstellung ist, dass man den Zöglingen Gesellschaftlichkeit gegen ihre Natur von außen aufprägen muss (s. o.). Aus der oben dargelegten Kritik dieser Vorstellung ergibt sich nun das Problem, dass die - nicht nur den jeweils anderen zu attribuierende - Fremdgesetztheit von Erziehungszielen mit der subjektiven Notwendigkeit der Verfügung des Kindes über das eigene Leben bzw. die eigenen Lebensumstände grundsätzlich unvereinbar ist, da man kaum Selbstbestimmung realisieren kann, wenn man die Ziele anderer verfolgt. Das ist ein Paradoxon - ähnlich wie das kommunikationstheoretische Paradoxon "Sei spontan" und ähnlich der allgegenwärtigen Aufforderung, bitte "unaufgefordert den Ausweis vor(zu)zeigen". Besonders prekär wird die subjektive Situation des Kindes dann, wenn ihm die Erziehungsanforderung einsichtig ist: Dann kann es nämlich schwer entscheiden, ob es in eigenem Interesse oder nur sich fügend und sich unterwerfend handelt.
Ein nahe liegender Einwand ist die Frage, was daraus bei offensichtlicher Selbstschädigung des Kindes folge. Ich bestreite natürlich nicht, dass man manchmal eingreifen muss: Die situative Nutzung der lebensrettenden Macht, ein Kind daran hindern zu können, seine Kräfte mit einem 7-Tonner zu messen, hat mit der hier erörterten Erziehungs- und Erziehungsziel-Problematik nichts zu tun: Man würde das wohl auch bei einem schlecht sehenden Erwachsenen machen. Gleichwohl bleibt die Frage, ob Erziehende nicht doch mehr als die Kinder wissen? Die Gegenfrage ist: Ist es nicht gerade die problematisierte Erziehungsform, die uns daran hindert, dass wir unser Wissen, so wir es denn haben, auch nutzbringend anbringen können. (Wahrscheinlich kennt jeder Beispiele aus dem eigenen Erwachsenen-Dasein, in denen ein erziehungsförmig erteilter Rat, vor allem in ironischer Verpackung, es schwer macht, ihn anzunehmen.). Das heißt: Mit der Alternative "Erziehung vom besseren Wissen aus" versus "gar nichts tun" stehen wir vor einer falschen Alternative. Zu fragen ist vielmehr, wie man Kinder unterstützen, sie kritisieren und mit ihnen zusammenleben kann, ohne in die Erziehungsform zu geraten.
Dazu ist es aus kritisch-psychologischer Sicht erforderlich, sich von der Auffassung zu verabschieden, dass die Erziehenden tatsächlich besser wissen, was für die Kinder gut ist (unabhängig davon, welches umfassendere Weltwissen die Erwachsenen sonst haben mögen.) Denn in der Erziehungshaltung, wonach die Erwachsenen besser wissen, was für das Kind gut sei (vgl. die Unterscheidung von Wohl/Wille und Bedarf/Bedürfnis oben), ist die kindliche Subjektivität in ihrer Eigenheit ausgeklammert 26, da Entwicklung die Änderung eines als problematisch empfundenen Zustandes in Richtung auf Verfügungserweiterung ist (weswegen ich oben die umstandslose Reihung von "Formung" und "Entwicklung" problematisierte). Es müsste demgemäß seitens der Erwachsenen, soweit sie mit Problemen von Kindern befasst sind, darum gehen, dazu beizutragen, gegebene Widersprüche zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bei Kindern zu klären, mit dem Ziel, den subjektiv notwendig nächsten Schritt des Kindes herauszuarbeiten.
Diese Argumentation versteht sich allerdings als das Gegenteil einer Normsetzung und will den zentralen psychologischen Umstand berücksichtigen, dass man aus der Außensicht grundsätzlich nicht wissen kann, was der subjektiv notwendige, das heißt auch emotional subjektiv nächste Schritt eines Kindes, allgemeiner eines anderen Menschen, ist. Ebenso zentral ist, dass Kinder (oder eben auch Erwachsene) sich womöglich selber darüber im Unklaren sind bzw. sich erst darüber klar werden müssen. Die Psychologie hat ja recht eigentlich damit zu schaffen, dass in kritischen Situationen Gründe und Konsequenzen unseres Handelns nicht auf der Hand liegen, sondern dass wir sie gegen Vordergründigkeiten, Selbsttäuschungen etc. erst herausarbeiten müssen (weswegen von wem auch immer als objektiv deklarierte Notwendigkeiten nicht einfach subjektiv herunterkonkretisiert werden können). Das ist beileibe kein erziehungs- bzw. kindspezifisches Problem. Die kognitiven und emotionalen Spezifika kindlicher Entwicklung und Probleme können aber erst in diesem kategorialen Rahmen zur Geltung gebracht werden, nicht außerhalb eines subjektwissenschaftlichen Rahmens. Denn wie immer das Ausmaß bestimmt werden kann, in dem Menschen an gesellschaftlichen Veränderungen beteiligt sind: "Die relativierende Rede von Arten und Graden der ›Subjekthaftigkeit, Subjektivität‹ etc. ist also selbst wieder zu relativieren aufgrund der Einsicht, dass die Spezifik des Menschen als ›Subjekt‹ unreduzierbar und uneliminierbar ist."27
Dass man aus der Außensicht nicht weiß, was der subjektiv notwendig nächste Schritt eines Kindes ist, bedeutet demgemäß keineswegs, dass dies überhaupt nicht klärbar ist, sondern nur, dass man sich durch die Erziehungsform die - intersubjektive - Klärbarkeit (und Unterstützungsmöglichkeit) erschwert bis verstellt. Wenn Gründe und Konsequenzen von Handlungen gegen Vordergründigkeiten, Selbsttäuschungen erst herausgearbeitet werden müssen, dann gilt das auch für Kinder. Wer redet mit anderen über Probleme, wenn er Sanktionen, Besserwisserei, Ironie oder "Zwang" erwarten muss? Warum sollten sich Kinder Erwachsene, die so reagieren, zu Gesprächs- und Bündnispartnern machen?
Erziehung und insbesondere Erziehungsziele gehören offenkundig zur Lebensperspektive der Erziehenden. Dahinter stehen letztlich (von diesen vertretene bzw. zu vertretende) Normen, wie ein Kind zu sein habe. Erziehende haben bei ihrer Erziehung selber ein Interesse daran, mit den Normen, die sie vertreten und denen sie in gewisser Weise auch selber unterliegen, nicht in Konflikt zu geraten; sie haben ein eigenes Interesse, mit der "Produktion" oder "Formung" eines aus der Außensicht tadellosen Kindes auch ihre eigene Tadellosigkeit, Bedeutung und Leistung als Erziehende zu beweisen. Dieses Interesse legt die administrative Fiktion der Gradlinigkeit von Entwicklung nahe - die wir aber nach unserer Entwicklungskonzeption nicht allgemein erwarten können. Entwicklungen können durchaus in Form ihres Gegenteils stattfinden. (So kann eine Lernverweigerung in der Schule die subjektive notwendige Realisierungsvoraussetzung von Lernmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Schule sein.)28
Kindern in ihren Lebens-Widersprüchen Unterstützung geben zu können, eigene Erfahrungen für Kinder tatsächlich nutzbar machen zu können, bedeutet, mit ihnen so zusammen zu leben, dass sie einen Rat annehmen können. Was allerdings ist ein Rat? Ein Rat ist wesentlich dadurch definiert, dass man ihn ablehnen kann.
Umgang von Erwachsenen mit Kindern hat also günstigenfalls mit Unterstützung zu tun, nicht mit "Formung". Ein Problem in der bürgerlichen Gesellschaft besteht diesbezüglich aber darin, dass es eine sozusagen reine Unterstützung zur Selbstbestimmung nicht geben kann, weil ein selbstbestimmtes Leben in einer Welt von Zwängen und Fremdbestimmung gar nicht möglich ist. Jede Hilfe bei der Vorbereitung auf eine selbständige (nicht selbstbestimmte) Existenz ist immer auch Vorbereitung auf Verwertbarkeit, auf Anpassung, auf Unterwerfung, die möglicherweise als kindliches Interesse mystifiziert werden. Wer beispielsweise in der Schule gute Noten erhält, erhält sie auch deswegen, weil er oder sie nicht täuscht, indem er oder sie anderen unzulässige Hilfen gibt; in der Schule zurechtzukommen, bedeutet immer auch in Verhältnissen zurechtzukommen, die auch durch Selektion und Konkurrenz bestimmt sind.
In dem Maße, in dem Erziehungsförmigkeit aufzuheben ist in einer humanen intersubjektiven Beziehung, tritt die im Titel erhobene Frage, wer eigentlich Erziehung brauche, zurück. Wenn die Probleme, die in der Erziehung durchschlagen, letztlich gesellschaftliche sind, wären sie Probleme von Erwachsenen und Kindern, die ja, je verschieden, dennoch grundsätzlich in derselben Gesellschaft leben, deren Probleme weder den Kindern noch den Erziehern persönlich in die Schuhe geschoben werden sollten.
Eine Kritische Psychologie will und kann Menschen nicht sagen, wie sie zu leben haben, weil Emanzipation nicht als fremdgesetzte Norm oder Normierung / Formierung gedacht werden kann. Der Standpunkt der Kritik der Kritischen Psychologie - als marxistischer Subjektwissenschaft - sind nicht perfekte Menschen in beliebigen Verhältnissen, sondern Verhältnisse, in denen der Mensch - mit Marx gesprochen - nicht mehr "ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen" ist, Verhältnisse, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". Sofern diese Perspektive - gedanklich oder real - verallgemeinerbar ist, steht sie einer normativen Fassung von Erziehung entgegen. Standpunkt der Kritischen Psychologie ist also Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht eine Norm für die, die darin leben. Darin, so schätze ich, dürften Armin Bernhard und ich uns einig sein - die Differenz besteht darin, wie man Kinder dazu gewinnen kann, diese Perspektive zu teilen.
Wenn die Perspektive der Veränderung die Perspektive der Veränderung der Gesellschaft ist, dann kann Erziehung nur als von ihrer problematischen Form befreites Moment des Zugangs zur - komplizierter (und derzeit auch kälter) werdenden - Welt gedacht werden. Dagegen verschiebt die anfänglich erwähnte neue Erziehungsdebatte auf Erziehung und Erziehende, was eigentlich Problem gesellschaftlicher Widersprüche ist.
Morus Markard - Jg. 1948, Dr. phil. habil, Dipl.-Psych., apl. Professor für Psychologie an der FU Berlin. Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mitglied der Redaktionen des "historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus" und des "Forum Kritische Psychologie". Mitglied im Bundesvorstand des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi). Zuletzt in UTOPIE kreativ: "Elite": Ein anti-egalitaristischer Kampfbegriff, Heft 171 (Januar 2005).
1 Eine Auseinandersetzung mit Armin Bernhard: Antonio Gramscis Verständnis von Bildung und Erziehung, UTOPIE kreativ, Heft 183 (Januar 2006), S. 10-22.
2 Erziehen üben!, in: Die Zeit, Hamburg, 21. 10. 2004.
3 Abenteuer Erziehung, in: Psychologie heute compakt, Nr. 11", Berlin o.J. (2004).
4 Vgl.: Die Wertfrage in der Erziehung, in: Das Argument, Sonderband 58, Hamburg 1981.
5 Klaus Holzkamp: Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben?, in: Karl-Heinz Braun, Holzkamp, Klaus (Hg.): Kritische Psychologie. Bericht über den 1. Internationalen Kongress Kritische Psychologie, Bd. 1, Köln 1977, S. 64.
6 Vgl. Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M. 1983a, S. 350 ff, lexikalisch gefasst bei Morus Markard: Handlungsfähigkeit II., in: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 5, Hamburg 2001, Sp. 1174-1181.
7 Es wird sich im weiteren Verlaufe meiner Argumentation herausstellen, dass meine Kritik nicht daran vorbeigeht, dass der Subjektbegriff in der Tat (auch) die Unterworfenheit des Individuums unter gesellschaftliche Regeln etc. zum Ausdruck bringt.
8 Ohne weitere Kennzeichnung beziehen sich alle Seitenangaben auf den Aufsatz von Armin Bernhard.
9 Der Frage, inwieweit diese terminologische Unschärfe problematische Konsequenzen zeitigt, will ich hier nicht nachgehen. Ebenso wenig der Frage, inwieweit es problematisch ist, in welchem Ausmaß Gramsci begrifflich "Erziehung " zu "sozialem Einfluss" inflationiert und deswegen die Spezifika, die Erziehung gegenüber dem allgemeineren Konzept des sozialen/politischen Einflusses hat, aus dem Auge verliert.
10 Wo Bernhard mit Gramsci eine "Sozialanthropologie des Kindes (spricht), die die Gesellschaftlichkeit und Soziabilität der kindlichen Natur hervorhebt" (S. 14), ist dasselbe gemeint - nur unter dem Aspekt, dass der erzieherische Nahkampf gegen die Natur Erfolg verspricht, das Wilde zähmbar ist.
11 Ute Osterkamp: Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt oder: Sind die Menschen für den Sozialismus nicht geschaffen? In: Forum Kritische Psychologie 31, 1993.
12 Wolfgang Maiers: Funktional-historische Analyse, in: Haug, Wolfgang Fritz (Hg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, Hamburg 1999, Sp. 1134-1140.
13 Zusammengefasst bei Klaus Holzkamp: Grundlegung Â…, S. 178 ff.
14 Ebenda, S. 241.
15 Vgl. Wolfgang Maiers: Der Etikettenschwindel der Evolutionären Psychologie, in: Forum Kritische Psychologie 45, 2001.
16 Zygmund Baumann: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.
17 Es ist dann allerdings kaum zu klären, was denn [nicht] mehr (Ausdruck von) Natur sei - von der "Fremdenangst " bis zur "Weiblichkeit ".
18 Deswegen bleibt, was ich hier nicht im Einzelnen darlegen kann, Bernhards Kritik an "humanistischer" Erziehung unvollständig. Seine von mir kritisierte deterministische Konzeption negiert die humanistische nur abstrakt.
19 Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW 3, S. 6. Zur Interpretationsgeschichte vgl.: Wolfgang Fritz Haug: Feuerbach-Thesen, in: Ders. (Hg.), Historischkritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4, Hamburg 1999, Sp. 410 ff.; dort lässt sich u.a. nachlesen, dass nach H. Fleischer die Lesart, Marx habe das Individuum (und nicht das menschliche Wesen) als Ensemble bezeichnet, "kompletter syntaktischer Unsinn" sei (Sp. 411).
20 Lucien Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt/M. 1972.
21 Friedrich Engels: Anti-Dühring, in: MEW, Bd. 20, S. 106.
22 Morus Markard: Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse III, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 3, Hamburg 1997, Sp. 427.
23 Vgl. auch Klaus Holzkamp: Kritische Psychologie und phänomenologische Psychologie. Der Weg der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft, in: Forum Kritische Psychologie 14, 1984, S. 23 ff.
24 Im Übrigen ist das eine Fragestellung, vor der oben problematisierte Mehrdeutigkeit des "Konformismus "-Konzepts theoretische und praktische Relevanz gewinnt.
25 Diese Überlegungen wurden in gemeinsamen Diskussionen entwickelt und in der angegebenen Literatur dargelegt; ihre Akzentuierung hier verantworte ich natürlich allein. Vgl. Klaus Holzkamp: "We donÂ’t need no education...", in: Forum Kritische Psychologie 11, 1983 b, 113-125; Ders.: Was kann man von Karl Marx über die Erziehung lernen? Oder: Über die Widersprüchlichkeit fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Demokratische Erziehung 1/1983 c, 52-59; Gisela Ulmann: Über den Umgang mit Kindern. Orientierungshilfen für den Erziehungsalltag, Hamburg 2003.
26 Dass Erwachsene - etwa als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter oder Lehrerinnen und Lehrer - in die Situation gebracht sind, für Kinder entscheiden zu müssen, ist eine davon zu trennende und dann erst in ihrer institutionellen Eigenart zu behandelnde Frage.
27 Klaus Holzkamp: Grundlegung Â… a. a.O., S. 338.
28 Eine gewisse Bedenkenlosigkeit, die eigene Perspektive zum Maßstab zu machen, und eine gewisse Rücksichtslosigkeit von Erzieherinnen und Erziehern gegenüber kindlichem Eigen-Sinn, lassen sich leichter vertreten, wenn Kindheit nur als Vorphase des eigentlichen Lebens gilt, so dass eine gewisse Geringschätzung kindlicher Glücks- und Lebensansprüche gegenüber dem späteren Leben legitim erscheint.
in: UTOPIE kreativ, H. 187 (Mai 2006), S. 438-448
aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay JÖRG ROESLER: "DDR" und DBR. Sprachpolitik im Kalten Krieg Zwischen allen Stühlen; UWE SONNENBERG: Lew Kopelew. West-östliche Spiegelungen; RICHARD HEIGL: Wolfgang Abendroths Parteitheorie; Debatte Grundsicherung LUTZ BRANGSCH: Grundsicherung: Ein vergessenes PDS-Konzept; JUDITH DELLHEIM: Zur Debatte um Grundsicherung oder Grundeinkommen; Gesellschaft - Analysen & Alternativen MORUS MARKARD: Wer braucht Erziehung?; TORSTEN FELTES: Nationale Bildungsstandards - ein neoliberales Projekt; HEIKO LANGNER: Kapitalistische Moderne - moderner Kapitalismus? Zur Grundsatzdebatte in der Linkspartei.PDS; Standorte GESINE LÖTZSCH: Aschermittwoch 2006; VADIM BELOCERKOVSKIJ: Die bundesdeutsche Politik und Russland; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Manfred Behrend: Eine Geschichte der PDS. Von der zerbröckelnden Staatspartei zur Linkspartei (WOLFRAM ADOLPHI); Hans-Günter Funke: Reise nach Utopia. Studien zur literarischen Utopie vom XVI. bis zum XVIII. Jahrhundert; Jörn Tietgen: Die Idee des Ewigen Friedens in den politischen Utopien der Neuzeit. Analysen von Schrift und Film; Gruppe Gegenbilder (Hrsg.): Autonomie und Kooperation: Projektwerkstatt Reiskirchen-Saasen (ANDREAS HEYER); Stefan Meining: Kommunistische Judenpolitik. Die DDR, die Juden und Israel. Mit einem Vorwort von Michael Wolffsohn (PETER ULLRICH); Jeffrey Sachs: Das Ende der Armut. Ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt (JÜRGEN MEIER); Summaries