Auf dünnem Eis

Die deutschen Eliten haben jegliche Scham verloren. In den ersten Jahrzehnten nach der Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Pest hatte der Eindruck entstehen können, sie hätten ...

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irgendetwas verstanden. Das war jedoch ein Irrtum, es handelte sich nicht um Lernprozesse, sondern nur um einen zeitweiligen Rückzug.

Denn durch ihre Kollaboration mit dem Nationalsozialismus waren große Teile der deutschen Eliten nach dem Krieg sowohl international als auch national desavouiert. Nicht zuletzt in der westdeutschen Gesellschaft herrschte damals verbreitet ein antikapitalistisches Klima. Selbst die CDU propagierte offiziell Planwirtschaft und Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Und die Westalliierten entmachteten etliche von Hitlers "Wehrwirtschaftsführern". Doch die Rettung kam bald: mit dem Kalten Krieg. Die deutschen Industriepotentiale und damit die deutschen Eliten wurden wieder benötigt.

Allerdings ging es ohne einen "Kulturwandel" nicht ab. Sollte der Kapitalismus innenpolitisch wieder Akzeptanz finden, mußte der von den deutschen Eliten bis 1945 gepflegte Herr-im-Hause-Standpunkt einer bis dahin unbekannten Demut und einer Kultur des Klassenkompromisses weichen. Der Kalte Krieg beförderte diesen Wechsel zusätzlich, denn die Systemkonkurrenz mit dem die soziale Gerechtigkeit herausstellenden Ostblock verlieh dem Wandel im Politikstil - von Konfrontation und Dünkel zu Kooperation und Weltoffenheit - scheinbar Nachhaltigkeit. Die Arbeiterproteste gegen die sozialen Auswirkungen der unternehmerfreundlichen Währungsreform vom Sommer 1948 und ihre Niederschlagung durch die mit Panzern auffahrenden US-Truppen am 12. November 1948 in Stuttgart taten ein übriges. i>Leben und leben lassen wurde zum Grundgefühl einer Epoche, die am 9. November 1989 endete.

Unterdessen praktizieren diese Eliten nicht nur eine systematische Zerstörung der Gesellschaft, sondern lassen ihre Laut-Sprecher sich in Rotzigkeit üben. In seinem Editorial zur jüngsten Nummer der Zeitschrift Capital schreibt der Chefredakteur folgendes:

Seit nunmehr fast zwei Jahren erregt sich die Republik immer wieder aufs Neue über zwei Themen: Was gesteht man denen zu, die vom Kapital leben? Und: Was gönnt man denen, die vom Staat alimentiert werden? Die Heftigkeit dieser Diskussion hat einen wesentlichen Grund: Hartz-IV-Empfänger wie millionenschwere Privatiers, beide kassieren Geld, ohne dafür arbeiten zu müssen. Und das ist für den arbeitsamen Durchschnittsdeutschen schwer erträglich, ja es löst bei vielen Bürgern regelrecht Hassgefühle aus.

Dieses pauschale Verdammen von arbeitslosem Einkommen verstellt freilich die Sicht auf die ökonomischen Realitäten und ist ein gewaltiges Hemmnis für die Sicherung und Steigerung des Wohlstandes. Denn es verhindert zu unterscheiden, dass in einem Fall das Kapital gesellschaftspolitisch vernünftig eingesetzt wird und im anderen Falle - horribile dictu - eben nicht.

Bei Lichte besehen stellen die Hartz-IV-Empfänger die größte Gruppe der Kapitalisten in Deutschland. Das zeigt ein Blick auf eine Familie mit zwei Kindern, die von Arbeitslosengeld II lebt und damit pro Jahr durchschnittlich 21 600 Euro bezieht. Wer dieses Einkommen (vor Steuern) auf dem Finanzmarkt erzielen möchte, braucht mindestens 540 000 Euro Kapital, wenn man eine realistische Rendite von vier Prozent zugrunde legt.

Derzeit gibt es etwa zwei Millionen solcher Bedarfsgemeinschaften, die hochgerechnet zusammen die unvorstellbare Summe von 1 080 Milliarden Euro binden.
Gewiss, der Staat finanziert die Sozialhilfe nicht über den Kapitalmarkt, aber die immerhin rund 48 Steuermilliarden, die er den Bürgern in diesem Jahr dafür entziehen muss, verhindern, dass ein Kapitalstock in dieser Größenordnung gebildet und klug in neue Firmen und neue Arbeitsplätze investiert wird.

Die hässliche ökonomische Wahrheit ist: Jeder Hartz-IV-Empfänger konsumiert das Geld, das eigentlich für den Aufbau neuer Arbeitsplätze notwendig wäre. Wer wirkliches Wachstum und neue Jobs für Deutschland will, muss das Kapital dorthin bringen, wo es arbeitet. Nichts bremst unsere Konjunktur so sehr wie Hartz IV.

Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen.

in: Des Blättchens 9. Jahrgang (IX) Berlin, 27. November 2006, Heft 24

aus dem Inhalt:
Jörn Schütrumpf: Auf dünnem Eis; Christoph Butterwegge: Zerstörungen; Max Hagebök: Angst; Hajo Jasper: Horror vacui; Asiaticus: Hitler in Tokio; Holger Politt, Warschau: Adam Schaff; Wladislaw Hedeler: Hinter Lenins Rücken; Klaus Hammer: Sarmatien; Thomas Hofmann: Selbstverbrennung eines Pfarrers; Arnold Blowatz: Berufsgeschwätztes; Hedi Schulitz: Garcia Lorca; Frank Ufen: Der Irrsinn des Schlankheitskults