Was bedeutet "Ökonomisierung der Bildung"? Analyse des Gutachtens der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft "Bildung neu denken

Die seit Ende der 1980er Jahre wieder beschleunigten Internationalisierungs- und Rationalisierungsprozesse haben in Deutschland so viele traditionsreiche Rechtsverhältnisse, Institutionen und ...

...Mentalitäten in Frage gestellt, daß auch radikale Provokationen und Tabu-Brüche oft gar nicht mehr oder nur sehr zeitverzögert wahrgenommen und thematisiert werden. Das gilt auch für den Strukturwandel des Bildungssystems und die ihn begleitenden Diskussionen. In diesem Prozeß ist im Schnittfeld von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ein neuer Typus von Texten populär geworden, der mit der erklärten Absicht veröffentlicht wird, die Wertigkeit alter Begriffe und Strukturen zu verschieben, die Verabschiedung alter Vorstellungen und Strukturen zu rechtfertigen, radikale Veränderungen mental vorzubereiten und neue "Leitbilder" zu propagieren. Ein Musterbeispiel für diese Gruppe von - früher hätte man gesagt, "volkspädagogischen" - Texten ist das Gutachten, das die Basler prognos AG unter der Gesamtredaktion des Präsidenten der Freien Universität Berlin, Dieter Lenzen, für die "Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V." erarbeitet hat, dessen erster Teil Ende 2003 und dessen zweiter Teil Ende 2004 veröffentlicht wurde.1

Es ist bezeichnend für die Kind-zentrierten Mentalitäten in Deutschland und den bildungspolitischen Horizont des Journalismus im Lande, daß in der überregionalen Pressereaktion auf das Gutachten die Forderung, künftig schon Vierjährige einzuschulen, am meisten schockierte und Beachtung fand2, daß aber die generelle Stoßrichtung und die eigentliche Provokation des Gutachtens überhaupt nicht erkannt bzw. thematisiert wurden. Diese Einschätzung soll im folgenden kurz erläutert und im historisch-politischen Zusammenhang interpretiert werden. Dazu erscheint es sinnvoll, das neue Gutachten und seine Empfehlungen nicht isoliert zu betrachten, denn es ist ganz offensichtlich Teil einer langfristig angelegten Argumentationsstrategie. Deshalb wird, wenigstens aspekthaft, auch das Gutachten einbezogen, das die "Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen" unter dem Titel "Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen" 1997 zur Diskussion gestellt hatte.3

Zunächst wird es darum gehen, die bemerkenswertesten Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten der Argumentation in beiden Gutachten aufzuzeigen, um dann auf das Neue an dem Zukunftsprojekt "Bildung neu denken!" einzugehen.

Der "unternehmerische Mensch" als "volkspädagogisches" Leitbild

Die erste und bemerkenswerteste Gemeinsamkeit der beiden Gutachten besteht darin, daß heute bei den politischen und ökonomischen Eliten - in Bayern, aber auch anderswo -, wenn es um "Leitbilder" des Handelns geht, nicht mehr, wie in früheren historischen Phasen selbstverständlich, Experten gefragt werden, von denen erwartet wird, daß sie die Gültigkeit der nationalen bzw. bayerischen und christlichen Traditionen beschwören, sondern Kommissionen, die ihre Empfehlungen aus Zukunftsprognosen ableiten. Dementsprechend ist in beiden Kommissionen, wie es noch vor Jahren undenkbar gewesen wäre, kein Kirchenvertreter, kein Theologe, kein Philosoph, kein Historiker oder Politologe mehr vertreten. Der Zukunftskommission aus den 1990er Jahren gehörten fast nur Führungspersönlichkeiten aus der Privatwirtschaft und Wirtschaftswissenschaftler an. Dies ist bei dem neuen Gutachten, das die Zukunft der Bildung zum Thema hat, etwas anders: Der aktuelle Bildungsbericht ist von einem ausländischem Institut erarbeitet worden und mit dem Namen eines bekannten deutschen Erziehungswissenschaftlers und Universitätspräsidenten verbunden. Die Arbeiten und Aussagen des Berichts sind von 73 namentlich genannten und allgemein anerkannten Experten begleitet worden: Die größte Gruppe, etwa 20, kann man der Privatwirtschaft zurechnen, sieben den Medien, 12 der pädagogischen Praxis, immerhin 14 der akademischen Erziehungswissenschaft, fünf der akademischen Psychologie und vier den akademischen Sozialwissenschaften; hinzu kamen zwei Beamte des bayerischen Kultusministeriums und ein Gewerkschaftsvertreter. Der Text ist also nicht irgendein Text, sondern von den ökonomischen Eliten eines Bundeslandes in Auftrag gegeben und von Persönlichkeiten beraten und verabschiedet worden, die als Fachleute für dieses Gebiet ausgewiesen und in angesehenen Stellungen sind. Es wird vor allem interessant sein, ob und in welchem Maße die Begriffe und Vorgaben der ersten Kommission bei den pädagogischen Experten aus den Hochschulen und der pädagogischen Praxis angekommen sind.

Die zentrale Botschaft der Kommission aus den 1990er Jahren bestand darin, daß wir uns nicht mehr an den Vorgaben der früher die Strukturen und Mentalitäten prägenden "arbeitnehmerzentrierten Industriegesellschaft" orientieren dürfen, sondern auf die Vorgaben einer "unternehmerischen Wissensgesellschaft" einstellen müssen - so das begriffliche Gegensatzpaar, mit dem die Kommission den geforderten gesellschaftlichen Wandel zuzuspitzen versuchte. Die damals eingeleitete Umdeutung des Begriffs "Unternehmer" ist inzwischen in die politische Alltagssprache eingegangen, wenn auch zum Teil in grotesken Varianten wie etwa der "Ich-AG". Auch in dem neuen Gutachten wird "unternehmerisch" ständig in dieser neuen Bedeutung verwendet: Der Begriff des Unternehmers und insbesondere das Adjektiv "unternehmerisch" meint im Rahmen dieser Argumentationsstrategie nicht mehr den mit Kapital ausgestatteten Besitzer und Leiter eines Unternehmens; dieser Typus ist ja im Wirtschaftsleben immer mehr durch anonyme Unternehmensstrukturen und Manager abgelöst worden. "Unternehmerisch sein" soll heute bedeuten, daß jeder - und gerade auch diejenigen ohne Kapital und ohne Arbeit - nicht mehr auf eine feste langjährige Anstellung, Erwerbstätigkeit und auf kollektive Sicherungssysteme rechnen kann, sondern selbstverantwortlich alle Dimensionen seiner notwendigerweise wechselvollen Biographie organisieren und bewältigen soll. Die pädagogische und institutionelle Ausfüllung dieses neu aufgeladenen Begriffs des unternehmerischen Menschen ist ein zentrales Thema auch des neuen Gutachtens: Die neue Bildungs-Kommission geht von dem "Erfordernis einer fünf- bis zehnmaligen Anpassung an neue berufliche Verhältnisse in einem Lebenslauf" aus (S. 191; vgl. auch S. 142) sowie von einem "erheblichen Qualifikationsbedarf für das tägliche Leben" (S. 264). Sie sieht die Notwendigkeit, alle künftig für ein "zeitliches Biographie-Management" zu qualifizieren (S. 305). Der Begriff "unternehmerisch" erhält damit etwa die Bedeutung und pädagogische Stoßrichtung, welche die Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit dem Adjektiv "industriös" verbanden und das schließlich der "Industriegesellschaft" ihren Namen gab. Die Menschen sollten sich nicht mehr apathisch und demutsvoll in die Strukturen der ständischen Gesellschaft fügen, sondern "industriös" werden, d.h. sich rühren, neue Erkenntnisse und Methoden aufgreifen, mit der Not haushälterisch umgehen. Damals ging es darum, den "Schlendrian" der heruntergekommenen Ständegesellschaft zu überwinden; heute sollen die Menschen aus der "Hängematte" des "überdehnten Sozialstaats" des 20. Jahrhunderts gerissen werden.

Die Zukunftsprognose ist in beiden Gutachten mit einer radikalen Kritik der Gegenwart verbunden, einer Kritik ihrer Strukturen und Mentalitäten, die als überholt, illusionär und unverantwortlich gebrandmarkt werden. Sie wird begleitet von dem Hinweis auf Versäumnisse und das Scheitern aller bisherigen Reformen und ist gleichzeitig verbunden mit einer Androhung existentieller Krisen und Notlagen, wenn nicht neu gedacht und gehandelt wird, wenn sich nicht alle umstellen, wenn nicht alle "umdenken" und zu neuen "unternehmerischen Menschen" werden. Die Aussagen der Gutachten basieren nicht auf neuen Forschungen, sie sind keine distanzierten wissenschaftlichen Analysen und Prognosen, sondern erklärtermaßen eine volkspädagogische Offensive für ein neues Menschenbild. Die Kritik der Gegenwart ist schonungslos und mitleidslos, keine Institution kann so bleiben, wie sie ist, und die Notwendigkeiten der Zukunft werden in apodiktischem Ton bei Androhung schlimmer Strafen vorgetragen. Adressat der Kritik sind wir alle, die wir uns in den Betriebs- und Versorgungsstrukturen der Industriegesellschaft und des Sozialstaats eingerichtet haben. Gebrandmarkt werden immer wieder - im einzelnen nicht genannte! - Interessenverbände und die angeblich alles lähmenden staatlichen Bürokratien. Nach den Versäumnissen und dem Scheitern der Reformen während der zurückliegenden Jahrzehnte haben wir eine "letzte Chance".

Hinter dieser Kritik der Gegenwart und den Strafandrohungen für die Zukunft stehen als Autoritäten nicht mehr - wie früher - Kirche und Staat, sondern die Zwänge des Wirtschaftslebens, die von Führungskräften der Wirtschaftsunternehmen, von Unternehmensberatern und akademischen Expertenstäben als alternativlos und als moralische Anweisungen für unser Denken, Arbeiten, Lernen und Leben vorgetragen werden. Der Historiker muß schon weit in die Geschichte zurückgehen, um kirchliche und staatliche Obrigkeiten oder Bußprediger der Religionsgeschichte oder auch radikale Jakobiner in Revolutionsepochen zu finden, die derart apodiktisch über die Notwendigkeit eines neuen Denkens und eine neue Lebensführung der Menschen gesprochen haben.

Soweit zu den Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten der Gutachten der beiden Zukunftskommissionen. Was ist das Neue an dem neuen Bildungsgutachten, was heißt "Bildung neu denken"?

Die Bildung der Zukunft als "lebenslanger und verdichteter Lernprozeß"

Das erste Gutachten konzentrierte sich auf Vergangenheit und Zukunft des Arbeitsmarkts und der sozialen Sicherungssysteme, behandelte Fragen der Bildung und des Bildungssystems nur in wenigen kurzen und pauschal gehaltenen Passagen, die aber an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Die Zukunft des Arbeitsmarkes und der sozialen Sicherungssysteme sind in allen Passagen auch des aktuellen Textes weiterhin präsent, im Zentrum steht aber jetzt "die Bildung", denn sie wird zur Schicksalsfrage des einzelnen und der Gesellschaft erklärt: "Für jeden einzelnen Menschen ist Bildung die elementare Voraussetzung, sein privates und berufliches Leben meistern zu können. Für die Wirtschaft ist Bildung der wichtigste Rohstoff, der über Erfolg oder Mißerfolg einzelner Unternehmen und der gesamten Volkswirtschaft entscheidet" (Bildung neu denken!, S. 97). Solche Sätze könnten das Mißverständnis nähren, der Gegenstand und das Thema der Pädagogik, nämlich "die Bildung", sei wichtiger als alles andere. Aber schon der Titel des Gutachtens kündigt ja an, daß Bildung nicht mehr mit den traditionellen Bedeutungsgehalten verbunden werden darf, sondern "neu gedacht" werden soll.

Wie schon einleitend angedeutet, ist der Text "Bildung neu denken!" voller Tabu-Brüche, die durch ein dramatisiertes Szenario gerechtfertigt erscheinen sollen. Weil hier nicht auf alle im Detail eingegangen werden kann , will ich im folgenden nur auf die zentralen Punkte aufmerksam machen:
Der besondere Akzent des Gutachtens "Bildung neu denken!" ergibt sich daraus, daß nicht nur der mit den Stichworten "Globalisierung" und "Rationalisierung" angedeutete internationale Wettbewerbsdruck als Ursache für einen notwendigen Struktur- und Mentalitätswandel beschworen wird, sondern daß insbesondere auch der demographische Wandel in Deutschland mit seinen Folgen für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme der Zukunft nun auch für das Bildungssystem und unser Verständnis von Bildung quasi "durchdekliniert" wird.

Hier können der - in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft lange verdrängte - Strukturzusammenhang und die Problemlage nur in Stichpunkten wiederholt werden: (a) Der sukzessive und sich von Generation zu Generation beschleunigende Rückgang der Geburtenrate während des 20. Jahrhunderts, (b) die gleichzeitige Verdoppelung der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen und (c) die Konstruktion des deutschen Sozialstaats, der die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme für die nicht oder nicht mehr Erwerbstätigen an die Beitragszahlungen der Erwerbstätigen koppelt - das alles ist schon heute aus der früheren historischen Balance geraten und verlangt für die Zukunft zwingend nach neuen Strukturen, die ein ausreichendes Arbeitskräftepotential und eine neue ökonomische Basis der Vorsorgesysteme für den Fall der Krankheit bzw. Arbeitslosigkeit und für das Alter bilden können.4 Zu welchen Visionen und Forderungen in bezug auf das Bildungssystem und unser Verständnis von Bildung kommen vor diesem Hintergrund heute pädagogische Experten im Auftrag der Wirtschaftsverbände?

Die zentrale Botschaft des Gutachtens lautet, daß wegen der internationalen wirtschaftlichen Konkurrenz, der Beschleunigung der technologischen Innovationen und nicht zuletzt wegen des demographischen Wandels eine "Verdichtung" der Bildung stattfinden muß, die verschiedene Facetten hat: Sie soll den ganzen Lebenslauf und seine Gestaltung durchdringen, sie bedeutet Verfrühung, Verkürzung und Verlängerung des "ernsthaften und angestrengten Lernens".

Im einzelnen fordert die Kommission (vgl. S. 15ff.):
- Institutionalisierte Lernprozesse sollen auch in Deutschland künftig früher einsetzen. Deshalb ist die Einführung der Schulpflicht ab dem 4. Lebensjahr vorgesehen. Dieser Aspekt, in der Presse-Reaktion überall fast als einziger wahrgenommen, wird in Deutschland offensichtlich als der schlimmste Tabu-Bruch empfunden!
- Die Pflichtschulzeit soll bis auf das 14. Lebensjahr verkürzt werden. Daran soll sich eine dreijährige Ausbildungspflicht (!) anschließen.
- Schule soll künftig generell als Ganztagsschule stattfinden, grundsätzlich 8-9 Stunden umfassen; die Schultage sollen so lang wie die Arbeitzeit von Auszubildenden sein.
- Die Ferien sollen auf den Umfang eines Normalurlaubs verkürzt und möglichst zum Besuch von summer schools genutzt werden.
- Vorgeschlagen wird die Verkürzung der Berufsschulzeit auf einen Tag pro Woche und die Verkürzung der Dauer des Weges zur Meisterprüfung.
- Das akademische Studium soll überall einphasig verlaufen und mit 21 Jahren abgeschlossen sein. Es soll ein halbjähriges Betriebspraktikum einschließen.
- Es soll der Habitus einer ständigen Umschulungs- und Weiterbildungsbereitschaft entwickelt werden, der auch zu Erwerbsarbeit noch im Alter befähigt.
- Auch das Alter soll als eine Lebensphase verstanden werden, in der gelernt wird oder den nachwachsenden Generationen beim Lernen geholfen werden sollte.

Die Bildung der Zukunft als "verdichteter und lebenslanger Lernprozeß" soll nach den Vorstellungen der Kommission zusätzlich dadurch intensiviert und effektiviert werden,
- daß eine Professionalisierung und akademische Qualifizierung pädagogischer Tätigkeiten auch dort eingeführt wird, wo sie bisher in Deutschland nicht gegeben ist, d.h. insbesondere bei der Vorschulerziehung, der Weiterbildung und der Bildungsberatung; der Professionalisierungsprozeß soll dort ergänzt werden, wo die Ausbildung und Tätigkeit bisher angeblich ineffektiv, beliebig oder einseitig war - nach Auffassung der Kommission zum Beispiel im Bereich der heutigen Lehrerbildung;
- daß auf allen Ebenen eine Modularisierung, Sequenzialisierung und Standardisierung, auch eine nationale oder gar internationale Standardisierung (!) der Inhalte und Lernanforderungen konsequent durchsetzt wird;
- daß vor jeder Bildungsstufe eine fachkundige und professionelle Diagnose und nach jedem Bildungsabschnitt eine ebensolche regelmäßige Evaluierung durchgeführt wird;
- daß eine Objektivierung und Zentralisierung der Prüfungen auf allen Übergangsstellen des Schulsystems und des tertiären Bereichs stattfindet (S. 193).

Vom Recht auf Bildung zur staatlich kontrollierten Bildungspflicht

In einem Gutachten zur Zukunft der Bildung, in Auftrag gegeben von und verfaßt für einen Interessenverband der Privatwirtschaft, überrascht im politischen Meinungsklima Anfang des 21. Jahrhunderts nicht, daß die Effektivierung des verdichteten und lebenslangen Lernprozesses aller Bürgerinnen und Bürger durch einen weitgehenden Rückzug des Staates aus dem Bildungssystem erwartet und in Aussicht gestellt wird. Der Einfluß des Staates soll ersetzt werden durch die Konkurrenz privater Anbieter im Sekundarbereich, im Hochschulbereich und im Bereich der Fort- und Weiterbildung. Der Staat soll sich in Zukunft als Anbieter und Finanzier nicht nur auf einen Kernbereich im Primarschulwesen und bei der wissenschaftlichen Forschung sowie bei der Bereitstellung von leistungsbezogenen Stipendien für befähigte Bedürftige konzentrieren; er soll auch die Qualitätssicherung, die Zertifizierung und Anerkennung von Bildungsangeboten entweder den Anbietern selbst oder den assessments und ratings privater Agenturen überlassen. Es liegt in dieser Logik, daß sich die Kommission ausdrücklich und programmatisch zu einer "Ökonomisierung der Bildung" bekennt. Sie versteht darunter die Strategie, "das Bildungssystem mit Steuerungsregeln aus dem Unternehmensbereich zu reformieren" (S. 323).

Die meisten dieser Forderungen der Kommission sind nicht neu, sie liegen auf der Linie der Empfehlungen anderer Gutachten und Texte aus den letzten Jahren zu einer Reform unseres Bildungssystems, teilweise wurden und werden sie schon in Deutschland erprobt, eingeführt oder geplant.

In einer Hinsicht aber eröffnet das Gutachten neue Dimensionen der Bildung, einer Ökonomisierung der Bildung, die bisher in keinem Gutachten zur Reform unserer Gesellschaft und schon gar nicht aus den Milieus der ökonomischen und pädagogischen Eliten zu lesen und zu hören waren.

Bisher war von diesen Milieus in Aussicht gestellt worden, ein Abbau der staatlichen Bürokratien, die angeblich alle Potentiale der einzelnen Schulen und Hochschulen zur Reform und Effektivitätssteigerung erstickt hätten, würde eine neue Dynamik entfalten; die neue Konkurrenz zwischen den staatlichen Institutionen und den privaten Bildungsanbietern werde bei allen mehr Effizienz und Exzellenz und bei allen Beteiligten ein neues Denken bewirken; durch ein neues Anbieter-Kunden-Verhältnis würde im Bildungssystem der Zukunft mehr Demokratie realisiert werden als durch die bisherigen Formen der Mitbestimmung, die angeblich nur "Interessengruppen" stabilisiert und Innovationen verhindert hätten. So steht es auch in diesem Gutachten.

Doch das Versprechen und der Optimismus, durch Deregulierung, Privatisierung und Konkurrenz würde auch im Bildungswesen ein selbsttragender Prozeß ausgelöst, der auf die einzelnen Bürger, die neuen Bildungsinstitutionen und die Gesellschaft insgesamt eine positive, vor allem positive erzieherische Wirkung ausüben werde - gerade dieser Optimismus in bezug auf ein neues Reich der Freiheit und Liberalität wird in dem Text nicht durchgehalten. Statt dessen wird den einzelnen Bürgern und ihren Kindern nicht zugetraut, sich richtig zu verhalten, richtige Bildungs- und Berufswege zu wählen, sich wirklich den Habitus des lebenslangen ernsthaften Lerners und Arbeiters anzueignen, mehr Geld als bisher in ihre Bildung zu investieren, die Kinder dazu schon frühzeitig anzuhalten usw.

Damit die Menschen und neuen Institutionen sich künftig so verhalten, wie es die Zukunft des "Wirtschafts- und Lebensstandorts Deutschland" erfordert (und vor allem, damit dies im Sinne der regionalen Wirtschaft geschieht!), empfehlen die Experten eine Fülle von Verpflichtungen und Kontrollen, die - man höre und staune - der Staat gesetzlich vorschreiben soll! In der Einleitung heißt es in Abschnitt 3 (Leitbilder für Leben, Lernen, Arbeiten): "Um diese Werte durchzusetzen, kann man sich nicht auf den guten Willen der Gesellschaftsmitglieder verlassen. Der Staat muss die Strukturen für den Erfolg solcher Leitbilder schaffen", er hat eine "Sorge ... für den Erfolg von Leitbildern" (S. 99).

Zu diesen Strukturen gehören insbesondere die zeitliche Standardisierung und Verdichtung der Bildungsbiographien, deren Einführung im 20. Jahrhundert noch einen Tabu-Bruch in Deutschland darstellte und die zudem in mehrfacher Hinsicht mit der Verfassungslage in Deutschland kollidieren: so der frühe und durch eine bundeseinheitliche (!) Regelung durchzusetzende Zeitpunkt der Einschulung (mit vier Jahren), die Verkürzung der Dauer der Bildungs- (zehn Jahre) und Ausbildungspflicht (drei Jahre), eine bundeseinheitliche (!) Regelung für die Einführung einer neuen Struktur der Sekundarstufe I, die Einführung eines Pflichtjahres für alle (!), die gesetzliche (!) Umstellung des Schulbetriebs auf Ganztagsbetrieb, die Verkürzung der Schulferien, des Weges zur Meisterprüfung, die Einphasigkeit aller akademischen Ausbildungsgänge.

Zu diesen neuen Strukturen gehört nach den Vorstellungen der Kommission aber auch ein in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, ja in der europäischen Geschichte bisher unbekanntes Spektrum pädagogischer Pflichtinstrumente - gesetzlich vorgeschriebener Beratung, Diagnose, Lenkung und Kontrolle:
- Generell geht das Gutachten von einer "(Selbst-)Bildungspflicht jedes Gesellschaftsmitglieds" aus (S. 100).
- Es sieht Maßnahmen vor zur Definition und Durchsetzung der "Wahrnehmung von Elternpflichten sowohl gesetzlich als auch im Sinne der Kommunikation einer elterlichen Verantwortungskultur im politischen Raum" (S. 149), u.a. eine staatlich verordnete verbindliche Verpflichtung der Eltern, sich zur Bildungsbiographie ihrer Kinder beraten zu lassen (S. 329). Darüber hinaus wird gefordert: "Für Eltern werden Qualifizierungsmaßnahmen vorgehalten, die es ihnen erlauben, ihren Kindern erziehend, beratend und lehrend zur Seite zu stehen" (S. 119).
- Das Gutachten schlägt die "gesetzliche Einführung einer obligatorischen Anamnese und Diagnostik vor Schuleintritt, am Ende der Grundschulzeit und am Ende der Sekundarstufe I unter Einbeziehung der Pädiatrie im Rahmen der regelmäßigen gesetzlichen Früherkennungsuntersuchungen" vor (S. 150f.).
- Es empfiehlt die "Anlage eines Bildungs-Scheckhefts bei Eintritt in das Schulwesen (primärer Bereich)" (S. 269);
- sowie die Einführung von "Regelungen für die Entscheidungen über die Verläufe von Lernbiographien, d.h. eine Beratung bei Übergängen während der Schul- und Ausbildungszeit im ersten bis dritten Bildungsbereich" (ebd.) und "stärkere Entscheidungsrechte der jeweils aufnehmenden Schulen" (S. 156).

Empfohlen wird darüber hinaus:
- die "Einführung eines Dokumentationssystems für die individuelle Bildungsbiographie der Bürger" (S. 271),
- die "Einrichtung eines obligatorischen (!) Systems der Bildungsbiographieberatung in Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, Arbeitsämtern und Betrieben" (S. 332), "orientiert an regionalen Bedarfslagen" (S. 119); ein "obligatorisches Beratungsgespräch nach einem Jahr Berufstätigkeit: Erstellung eines Kompetenz- und Qualitätsprofils durch Leitfadeninterview mit Analyse der berufliche Ziele, der familialen Rahmenbedingungen, der Motivationslage, der erworbenen Kompetenzen durch unabhängige Berater" (S. 269);
- die "Abstimmung des individuellen Kompetenzprofils mit Arbeitsplatzangebot und -bedarfslage in der Region" (ebd.); sowie
- eine "gesetzliche Regelung einer Mindestqualifikationspflicht für Zuwanderer sowie Langzeitarbeitslose und Lernschwache" (S. 267);
- eine "Mindestqualifizierungspflicht für jeden Bürger unabhängig von seiner Herkunft" (S. 328);
- ein "ziviles Pflichtjahr für alle Frauen und Männer" an der Stelle des heutigen Zivildienstes und Militärdienstes, der durch eine Berufsarmee ersetzt werden soll (S. 198);
- die "Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme einer Weiterbildungspflicht in Arbeitsverträge und arbeitsrechtliche Regelungen" (S. 267);
- die Einführung einer obligatorischen berufsbegleitenden Weiterbildung (S. 198);
- die "Einführung einer Weiterbildungspflicht für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger mit dem Ziel der Wiederherstellung ihrer Erwerbsfähigkeit" (S. 332);
- die "Einrichtung eines Dokumentationssystems für Bildungsbiographien" (S. 332). Genauer heißt es: "... für Individuen sind entweder bei Berufseintritt oder bei der Einführung eines Bildungsgutscheinsystems personenbezogene Datenbanken einzuführen, die in Analogie zur ‚Patientengeschichte‘ eine ‚Weiterbildungsgeschichte‘ speichern. Auf diese Weise entsteht eine durch den Menschen planbare Bildungsbiographie im mittleren Erwachsenenalter" (S. 268).

Ergänzt werden diese Vorschläge durch
- die Forderung nach der "Einführung einer grundsätzlichen Erwerbstätigkeitspflicht für beide Geschlechter - unterbrechbar, aber nicht ersetzbar durch Familientätigkeit zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs" (S. 242);
- die "ersatzlose Abschaffung einer Altersgrenze für Arbeit und Ausbildung" (S. 304);
- und schließlich durch das Postulat: "Der hohe Arbeitskräftebedarf muß in eine (begrenzte) Weiterarbeitsverpflichtung umgesetzt werden" (S. 306).

Die neue Zeitökonomie der Bildung

Diese Empfehlungen der Kommission zeigen, daß die "neu gedachte" Bildung, d.h. die "ökonomisierte Bildung", mehr bedeutet als die Übernahme von Steuerungsregeln aus dem Unternehmensbereich im Bildungssystem, also den Abbau staatlicher Zuständigkeiten, Verwaltungen und Bildungsinstitutionen und ihre Ersetzung durch private Anbieter und die Dienste von Unternehmensberatungsgesellschaften und Agenturen aller Art. Die Ökonomisierung der Bildung bedeutet vor allem eine historisch neue Dimension des Umgangs mit der Zeit der Menschen, einen Zugriff auf die Tageszeit, die Jahreszeit, die Lebenszeit von der frühen Kindheit bis ins Alter. Die Form der Ökonomisierung der Bildung wird von der Kommission programmatisch vertreten. Die Begriffe Verdichtung, Verfrühung und Verlängerung des Lernens sind Ausdruck dieser Strategie. Dieser Zugriff auf die Zeit der Menschen wird - zunächst - als neue moralische Verpflichtung an die Menschen herangetragen: Lernen ist, so heißt es immer wieder, als "ernsthafte und angestrengte" und "auf Erwerbsarbeit bezogene Tätigkeit" zu begreifen und als Lebensprinzip anzunehmen. Ein solches lebenslanges Lernen und Arbeiten ist als Verpflichtung gegenüber sich selbst und der Gemeinschaft aufzufassen.

Damit beschwört die Kommission ein im 20. Jahrhundert viel diskutiertes normatives Muster: Einen Menschentypus, der sich eine rigide Zeitökonomie als Alltagsethos auferlegt, hatte Max Weber in seiner berühmten Abhandlung "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" Anfang des 20. Jahrhunderts als das Geheimnis und die Basis für die Überlegenheit des okzidentalen Kapitalismus gegenüber den traditionalen und anderen weltweit verbreiteten Formen des Wirtschaftens herausgearbeitet. Max Weber hat diesen Menschentypus den "innerweltlichen Asketen" genannt - als Gegenmodell zu den "außerweltlichen Asketen", etwa den Mönchen des Abendlandes oder Orients, die sich außerhalb des Getriebes der Welt begeben, um in einem Kloster oder in einer Einsiedelei durch bewußt aufgenommene Entbehrungen und die strikte Beachtung bestimmter Regeln der Lebensführung, des Tagesablaufs, des (Kirchen-)Jahres (die berühmten "ordines") die Aussicht auf ein gottgefälliges, "heiligenmäßiges" Leben zu vergrößern oder gar, um sich des Heils bzw. der Erlösung zu versichern. Er meinte bestimmte protestantische "Sekten" identifizieren zu können, die, motiviert durch ihr spezifisches Gottesverständnis, eine methodische Lebensführung, insbesondere einen bewußten und kontrollierten Umgang mit der Zeit und eine entsprechende Arbeits- und Berufsauffassung als Mittel der religiösen Askese kultiviert haben und mit diesem Ethos ungewollt zu einem neuen erfolgreichen Unternehmertypus wurden. Der oft übersehene Clou der Weberschen Argumentation liegt aber darin, daß seine Interpretation der religiösen Wurzeln des Kapitalismus analytisch angelegt ist und nicht einfach normativ gewendet werden kann. Weber betonte, daß bei den protestantischen Sekten nicht etwa Gewinnstreben als Norm verordnet wurde, sondern daß der geschäftliche Erfolg dieser protestantischen Unternehmer das ungewollte Ergebnis rein religiöser Motive war. (Die in ihrem Gottesverständnis angelegte Unsicherheit, ob sie auserwählt oder verdammt seien, konnte psychologisch nur durch eine streng asketische gottgefällige Lebensführung im Berufsalltag ausgehalten werden; ein anderes Leben war überdeutliches Zeichen der Verdammnis.) Das religiös begründete Arbeitsethos und die damit verbundene Zeitökonomie im Alltag begründeten den Geschäftserfolg dieses Menschentypus gegenüber anderen, die mit ihrer Zeit und ihrem Geld nicht rationell umgingen, die nicht - wie die religiösen Asketen - arbeiteten um der Arbeit willen und dafür religiöse Gratifikationen erhielten und deshalb den Gewinn immer re-investierten, sondern die ihre Wirtschaft betrieben, um standesgemäß zu repräsentieren und zu konsumieren und auch gegenüber den Armen großzügig sein zu können. Weber betonte, daß seine These über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus nur die Entstehung des Kapitalismus als erfolgreiche Betriebsform erklären solle, daß die religiösen Grundlagen des Kapitalismus später nicht mehr galten, daß sich die religiösen Motive abschwächten und durch Pädagogik ersetzt werden mußten. Aber ein - wie er sich ausdrückte - "Kapitalismus im Sattel", also ein entfalteter Kapitalismus, habe zur Durchsetzung seiner Prinzipien keine Religion mehr nötig. Er bestrafe den Unternehmer, der sich und seinen Betrieb wie ein protestantischer Asket organisiert, schnell mit dem Untergang.5

Was tragen die historische Analyse und die starke These eines Klassikers der Sozialwissenschaften zum Verständnis der Gutachten und der neu gedachten Bildung bei?

Wenn nicht nur die Kapital besitzenden und einen Betrieb leitenden Unternehmer, sondern alle zu unternehmerischen Menschen, zu erfolgreichen Managern ihrer Biographien (unter den heutigen und zu erwartenden Bedingungen des Kapitalismus) werden sollen, dann stellt sich die Frage, woher die motivationalen Grundlagen für diese Lebensführung kommen sollen. Religiöse Motive sind dies auch bei den wirklichen Unternehmern schon lange nicht mehr, sondern die strukturellen Zwänge, die durch die Marktkonkurrenz ausgeübt werden. Wenn nun auch die große Mehrheit der bisher abhängig Beschäftigten und durch kollektive Umlagesysteme gegen die großen Lebensrisiken abgesicherten Menschen für alle Dimensionen ihrer Biographie individuell sorgen soll, dann wäre es nur konsequent zu sagen, daß auch ihre Motivation, die eigene Biographie entsprechend rational zu managen, sich aus den Markt- und Konkurrenzkonstellationen wie von selbst ergeben werde. Dem scheint aber nicht so zu sein.

Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und die sie beratenden pädagogischen Experten setzen nicht mehr auf die persönlichkeitsbildenden Wirkungen der traditionellen Formen von Religion, und sie scheinen auch nicht darauf zu vertrauen, daß der Markt wie von selbst die "neuen Menschen" und die Verteilung ihrer Ressourcen auf die regionale Wirtschaft erbringen wird, sondern sie setzen auf "Bildung, neu gedacht" - und das heißt: auf eine quasi "totalisierte Pädagogik", für deren Durchsetzung - erstaunlicherweise - der ja sonst "verschlankte" Staat durch Gesetze sorgen soll! Die Pädagogik und ihr Personal sollen sich nicht mehr nur als Anwalt des Kindes oder der Jugend verstehen und auf die Institutionen für diese Lebensphase beschränken. Die totalisierte Pädagogik ist ein System von gesetzlichen Verpflichtungen und professionalisierter Begleitung in einem - nur scheinbar - individualisierten Lebenslauf.

Die neue Pädagogik ist fachlich und professionell qualifizierter als heute, sie ist ergänzt durch Experten für neue Aufgaben und Dienste, sie begleitet und dokumentiert das ganze Leben, sie ist vernetzt mit anderen Diensten und ihren Experten, welche die menschlichen Ressourcen auf dem Stand neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse feststellen, entwickeln, auf die geeigneten Institutionen verteilen und entsprechend dem ökonomischen Bedarf lenken sollen.

Eine neue Bildungspolitik statt der alten Sozialpolitik?

Die knappe Analyse des Gutachtens läßt erkennen, daß die neue Innovationsstrategie für unsere Gesellschaft, die aus Milieus der ökonomischen Eliten und der ihnen zuarbeitenden wissenschaftlichen Experten der Öffentlichkeit angedient wird, voller Ambivalenzen und Widersprüche ist. Dies zeigt sich insbesondere an dem neuen Stellenwert der Bildung und Bildungspolitik.

Auf der einen Seite wird sie als ein - notwendiger, aber positiver - Schritt der Individualisierung beschrieben und gerechtfertigt, als historisch neue Stufe der "Befreiung" der Menschen aus der Bevormundung und den Zwängen kollektiver Systeme, die bisher angeblich durch staatliche Bürokratien und Interessenverbände ausgeübt werden. Der "neue Mensch" soll und will - in der Logik dieser Modernisierungsstrategien - für alle Dimensionen seiner Biographie selbst die Verantwortung übernehmen und aus den allgemein verbindlichen Regelungen der "kollektiven Sicherungssysteme" entlassen werden. Grundlage für die ständige Innovationskraft und Funktionsfähigkeit dieses Modells von Gesellschaft ist ein Menschentypus, der die wohlfahrtsstaatlichen Strukturen, die als Antwort auf die sozialen Verwerfungen der Industriegesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt wurden, nicht mehr braucht, sie nur als unnötigen Zwang versteht und deshalb ablehnt.

Sozialpolitik wird in dieser Perspektive durch Bildungspolitik abgelöst. Aber in dem neuen Bildungsgutachten wird deutlich, daß in diesen Milieus doch die Sorge besteht, die Anreize des Marktes und die Steuerungsinstrumente der Privatwirtschaft würden nicht wie selbstverständlich alle zu entsprechend motivierten und qualifizierten Menschen machen und deren effiziente Verteilung auf die regionale Wirtschaft sicherstellen; sie bedürften vielmehr einer Pädagogik und eines verpflichtenden Staates, die sicherstellen, daß alle Menschen im Sinne des Leitbilds des "unternehmerischen Menschen" lernen und arbeiten. Der Staat soll nicht in das Marktgeschehen eingreifen, sich auch aus traditionellen Feldern der Sozial- und Bildungspolitik zurückziehen, aber er soll das den neuen Strukturen angemessene Verhalten, Lernen und Arbeiten der "neuen Menschen" sicherstellen - und zwar von der frühen Kindheit bis zum Ende des Lebenslaufs.

Die neue Bildungspolitik ist deshalb weniger und zugleich mehr als traditionelle staatliche Bildungspolitik, sie sichert nicht mehr nur ein ausreichendes Angebot (und gegebenenfalls Hilfen) für Prozesse der individuellen Persönlichkeitsentfaltung und des sozialen Zusammenhalts, sie schreibt per Gesetz (!) ein System generell verpflichtender Prozesse der Diagnose, Beratung, Dokumentation und Lenkung der Lern- und Arbeitsprozesse vor. Sie begleitet, berät und verpflichtet nicht nur das lebenslange Lernen, sondern auch das lebenslange Arbeiten und erübrigt deshalb - idealiter - die traditionelle Sozialpolitik. Sozialpolitik als Recht auf basale Versorgungsleistungen wird auf Ausnahmefälle begrenzt; die neue Sozialpolitik ist Bildungspolitik als Hilfestellung und Verpflichtung (!) zu Weiterbildung und Umschulung zwischen verschiedenen Lebensabschnitten der Erwerbstätigkeit oder Selbständigkeit. Die historisch neuen Dimensionen der Individualisierung werden begleitet durch die Einführung historisch neuer Dimensionen der verpflichtenden (!) Beratung, Diagnose, Lenkung und Kontrolle. Das Ergebnis wäre eine professionelle Erfassung der Menschen während ihres gesamten Lebenslaufs, die alles in den Schatten stellt, was in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts als staatliche Planung, Verpflichtung, Kontrolle und Lenkung erprobt wurde - und scheiterte.

Es ist schon sehr erstaunlich, daß Vorschläge zur Zukunft des deutschen Bildungssystems veröffentlicht werden können, ohne daß die Auftraggeber, ihnen nahestehende Milieus und die breitere Öffentlichkeit realisieren und kontrovers diskutieren, daß diese Vorschläge nur mit radikalen Eingriffen in das bestehende Verfassungssystem, im Grunde nur mit einem radikalen politischen Systemwechsel umgesetzt werden können. Nicht zuletzt deshalb besteht wenig Aussicht, daß der Katalog von weitreichenden Forderungen, den die Kommission aufstellt, demnächst in praktische Bildungspolitik umgesetzt wird. Denn aus der Geschichte der Erziehung und des Bildungssystems wissen wir, daß die Geschichte generell, auch die Bildungsgeschichte, nicht einfach die Umsetzung von normativen Texten darstellt, nicht geradlinig den programmatischen Anweisungen der jeweils tonangebenden sozialen Eliten folgt, sondern immer das ambivalente Ergebnis sehr konfliktreicher Prozesse ist. Auch die Reform moderner Gesellschaften und ihres Bildungssystems folgt nicht dem Handbuch von Unternehmensberatungsgesellschaften, das erleben wir ja heute täglich.

Aber was ist dann der gewollte und ungewollte Stellenwert solcher Gutachten? In diesem Fall bieten sich - neben den "volkspädagogischen" Intentionen der Auftraggeber und der Autoren - zwei Schlüsse an, die als Warnung und Hoffnung in den Kontroversen um die Zukunft des deutschen Bildungssystems aufgefaßt werden können:
Das Gutachten "Bildung neu denken!" ist ein Musterbeispiel dafür, wie leicht die Pädagogik, gerade auch als Wissenschaft, der Versuchung erliegen kann, sich an dominante Trends "anzuhängen", ihre professionellen Dienste anzubieten, sich in ein System der totalen Pädagogik zu steigern und dabei nicht nur die besten Traditionen und Anliegen der Disziplin zu verraten, sondern auch unglaubwürdig zu werden, da der Realitätsbezug verlorengeht.

Andererseits macht das Gutachten, das die pädagogischen und bildungspolitischen Implikationen der heute dominanten liberalen politischen Ökonomie zum Thema hat, unbeabsichtigt deutlich, wo die Schwachstellen und Gefahren dieser Strategie zu sehen sind: Das Modell der flexiblen Ökonomie und des "verschlankten Staates" steht und fällt mit der erfolgreichen Durchsetzung eines neuen Menschentypus - und zwar bei möglichst allen. Die Realisierung dieses Typus des ernsthaften lebenslangen Lerners und Arbeiters ergibt sich möglicherweise nicht selbstverständlich aus den Anreizen und Auslesemechanismen des Marktes, sondern muß - zumindest für einen Teil der Bürgerinnen und Bürger - durch ein System gesetzlicher Verpflichtungen und pädagogischer Kontrollen ergänzt werden, welches im krassen Gegensatz zu den Prinzipien dieses Gesellschaftsmodells steht, das mehr Freiheit verspricht.

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Anmerkungen

1 Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt. Herausgeber: vbw - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V.; Gesamtredaktion: Prof. Dr. Dieter Lenzen, Freie Universität Berlin; Projektleitung: prognos AG, Basel. Opladen: Leske + Budrich 2003. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text. Vgl. auch: Bildung neu denken! Das Finanzkonzept. Herausgeber: vbw - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft; wissenschaftliche Koordination: Prof. Dr. Dieter Lenzen, Freie Universität Berlin; ökonomische Analyse: prognos AG, Basel. Opladen 2004.
2 Vgl. z.B. "Ich-AGchen. Die Leistungsträger von 2020 sollen mit vier in die Schule", FAZ vom 18.11.2003, S. 37; sowie "Fitte Vierjährige in die Schule. Dieter Lenzen, Präsident der Freien Universität Berlin, über die Zukunft unseres Bildungssystems und den Standort Deutschland", STERN Nr. 27/2003, S. 74.
3 Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1997): Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil III. Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage. Bonn. Vgl. dazu Bernd Zymek (1998): "Leitbild ist nicht mehr der erwerbstätige, sondern der tätige Mensch." Ein bildungshistorischer Kommentar zu den Forderungen der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen. In: Zeitschrift für Pädagogik 44, S. 789-803.
4 Als Initialzündung für die neue öffentliche Debatte über den Zusammenhang zwischen der demographischen Entwicklung und der Zukunft der Sozialsysteme wirkte die Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Pflegeversicherung vom 3. April 2001 (1 BvR 1629/94), in der das höchste deutsche Gericht die Daten und Analysen der angehörten Sachverständigen mit dem Satz zusammenfaßte: "Wollte man auch nur die heutige Altersstruktur durch eine Erhöhung der Geburtenrate oder durch Einwanderung stabilisieren, so müßte nach Angaben der Sachverständigen rein rechnerisch entweder die Geburtenraten pro Frau im gebärfähigen Alter von 1,3 umgehend auf 3,8 steigen, oder es müßten 188 Millionen jüngere Personen bis zum Jahr 2050 einwandern."
5 Weber, Max (19787 [1920]): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1. Tübingen: Mohr, S. 17-206. Vgl. dazu als neuere Lesehilfe: Ringer, Fritz (2004): Max Weber. An Intellectual Biography. Chicago & London: The University of Chicago Press, pp. 113-143.

Prof. Dr. Bernd Zymek, Erziehungswissenschaftler, Universität Münster

aus: Berliner Debatte INITIAL 16 (2005) 4, S. 3-13