Ein erster Schritt - aber wohin?

Der Nahost-Konflikt nach dem Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen

Die Räumung israelischer Siedlungen im Gaza-Streifen verlief relativ reibungslos. Sharon hat sich durchgesetzt, dagegen haben sich die lautstärksten Wortführer und Fürsprecher der Siedler ...

... mit ihrem Verratsgeschrei isoliert. Eine Gesamtlösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist dennoch nicht in Sicht. Vieles spricht dafür, dass auch unter zukünftigen Premierministern eine Art "Sharonismus" ohne Sharon die israelische Politik bestimmen wird. Der Rückzug Israels aus dem Gazastreifen stellt unabhängig von der Frage nach den Motiven dieser Frontbegradigung einen Fortschritt auf dem Weg zur Befreiung der palästinensischen Gebiete von der Last der Besatzung dar. Allerdings nur einen kleinen. Unter PalästinenserInnen gilt dieser unilateral von Israel beschlossene Schritt als ein Teilsieg, der je nach politischer Couleur als Bestätigung ihrer Überzeugung begriffen wird, dass entweder Israel unter Feuer zu Zugeständnissen gezwungen werden müsse oder aber die unter dem neuen Präsidenten Abbas eingeleiteten Reformen der palästinensischen Autonomiebehörde ein diplomatisches Pfand seien, welches Israel politisch in die Defensive dränge.

Sharon gilt jetzt als moderater Staatsmann

In jedem Fall wird die Evakuierung des Gazastreifens als Präzedenzfall für die zukünftige Räumung auch der Westbank angesehen. Die Forderungen nach der Gründung eines palästinensischen Staates auf den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt sowie einer politischen Lösung des Problems der Flüchtlinge von 1948 sind der Minimalkonsens, hinter den kein palästinensischer Politiker in Verhandlungen mit Israel zurückfallen kann. Israelische BefürworterInnen des Rückzugsplans haben immer wieder auf die demographische Entwicklung hingewiesen, die eine palästinensische Bevölkerungsmehrheit im historischen Mandatsgebiet Palästina nur noch zu einer Frage der Zeit macht. Das ambivalente Selbstbild Israels als einer jüdischen Demokratie, die zwischen universalen demokratischen Werten und dem Beharren auf einer institutionell verankerten zionistischen "Leitkultur" changiert, wird unweigerlich zerfallen, sobald das israelische Herrschaftssystem durch die demographische Entwicklung zur Apartheid wird - so der Jerusalemer Soziologe Baruch Kimmerling. Hinzu kommen die immensen Kosten für die Aufrechterhaltung der Besatzung sowie der internationale Druck auf Israel, politische Zugeständnisse an die palästinensische Seite zu machen, nachdem diese in zentralen Fragen - wie der Eindämmung der Intifada und einer Reform der Autonomiebehörde - auf israelische Forderungen eingegangen ist. Vor diesem Hintergrund stellt die von Premier Sharon verfolgte Strategie der physischen Trennung Israels von den palästinensischen Bevölkerungszentren (durch Teilräumung und Mauerbau) sowie die anvisierte Gründung eines palästinensischen Rumpfstaates auf etwa 40% der Westbank und möglichst vollständige Erhaltung der jüdischen Siedlungsblöcke im biblischen "Judea und Samaria" einen Versuch dar, die im historischen Zionismus angelegte Ambivalenz aufrecht zu erhalten. Bereits unter Ehud Barak, der gegenwärtig sein politisches Comeback vorbereitet, wurde eine solche Vorgehensweise diskutiert. Viele Beobachter gehen davon aus, die objektiven politischen Rahmenbedingungen versprächen die Fortsetzung des "Sharonismus" auch unter zukünftigen Premierministern. Gegner dieser Strategie, wie etwa Benjamin Netanjahu, der sich dieser Tage als Kandidat für das Amt des Premiers bei den kommenden Wahlen in Stellung bringt, haben tatsächlich ein Problem: Netanjahus Machtbasis innerhalb des Likud stützt sich auf die national-religiösen Teile der israelischen Bevölkerung, die sich durch ihre teils schrille Opposition gegen den Gaza-Rückzug politisch ins Abseits manövriert haben. Zudem ist der begabte Demagoge durchaus kein ideologisch vernagelter Wirrkopf, sondern ein strategisch denkender Machtpolitiker, der sein ramponiertes Image gerade durch ein von der israelischen Business-Community mit Beifall quittiertes Gastspiel als geschickt und skandalfrei agierender Finanzminister repariert hat. Damit brachte er sich abermals für höhere nationale Weihen in Position. Netanjahu ist ein marktradikaler Globalisierer, der Israel dauerhaft auf der internationalen Bühne etablieren will. Dieser Anspruch verträgt sich kaum mit dem pseudo-messianisch angehauchten Ethno-Nationalismus der SiedlerInnen und ihrer UnterstützerInnen, die Israel zu einer umkämpften Wagenburg in der Region degradieren würden, die einer Demokratie nur noch sehr entfernt ähnelt. Es bleibt daher abzuwarten, wie Netanjahu in Zukunft agieren wird.

Vor einer dritten Intifada?

In jedem Fall stehen die Zeichen für eine politische Lösung des Konfliktes denkbar schlecht: Die israelische öffentliche Meinung ist seit dem Ausbruch der zweiten Intifada dauerhaft nach rechts gerückt. Wer hätte gedacht, dass der Siedlermäzen und Bulldozer Sharon, der nach eigenen Angaben noch immer den Sieg von 1948 vollenden will, eines Tages als moderater Staatsmann angesehen würde? Auch der als "Sperrwall" titulierte Limes gegen die in Israel weitgehend mit Barbaren assoziierten PalästinenserInnen ist derzeit bis weit in die linksliberale Öffentlichkeit hinein konsensfähig. Wenn mit Sharon und Peres die alte Garde der israelischen Gründergeneration endgültig abgetreten sein wird, werden Leute wie Barak und Netanjahu in der ersten Reihe stehen. Beide stehen nicht gerade für Verhandlungsgeschick im Umgang mit den PalästinenserInnen. Kein israelischer Politiker hat bislang die Autorität, in der jüdisch-israelischen Öffentlichkeit Veränderungen in der Größenordnung eines Rückzuges aus der Westbank und eines Abbruchs der Mauer durchzusetzen, ohne das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Gleichzeitig dürften diejenigen palästinensischen Stimmen Recht haben, die genau solch weitgehende israelische Konzessionen für nötig halten, wenn es nicht eine dritte und dann wohl noch deutlich stärker militarisierte Intifada geben soll; deren Auswirkungen auf die gesamte Region wären nicht abzuschätzen. Das historische Argument gibt der palästinensischen Seite Recht: Kein koloniales System hat sich auf Dauer gegen den entschlossenen Widerstand der Kolonisierten halten können. Aber der Preis einer fortdauernden Kriegssituation in den besetzten Gebieten ist hoch. Zu hoch auch für die PalästinenserInnen. Die notwendigen internen Reformen, der Aufbau demokratisch legitimierter und handlungsfähiger Institutionen würden dabei auf der Strecke bleiben. Die Warlordisierung der palästinensischen Gebiete und ihre politische Zersplitterung würden voranschreiten, die wirtschaftliche Verelendung würde zementiert. Ohne eine Internationalisierung des Konfliktes wird sich politisch kaum etwas in der Region zum Besseren wenden. Achim Rohde aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 498/16.9.2005