Trennung zur Goldenen Hochzeit

US-amerikanischer Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gespalten

Es muss schon Außergewöhnliches passieren, damit Gewerkschaften in den Medien erscheinen. Dies gilt insbesondere für die USA.

Ende Juli aber wurde über die Spaltung des Dachverbandes der US-Gewerkschaften AFL-CIO (1) ausführlich berichtet. Kein Wunder: Fünf Gewerkschaften, darunter mit der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU die größte Einzelgewerkschaft, boykottierten den Kongress des Verbandes, der vom 25.-28. Juli in Chicago stattfand. Einige Gewerkschaften verkündeten während des Kongresses ihren Austritt. (2) Die Kontroverse dreht sich vor allem um die richtige Strategie, den organisatorischen Niedergang der Gewerkschaften in den USA zu stoppen. Waren vor 50 Jahren, als sich AFL und CIO wieder zusammenschlossen, noch rund 35% der Beschäftigten organisiert, sind es heute nur noch rund 12%. Mit Lowell Turner, Politikwissenschaftler an der Cornell University Ithaca/New York, sprach Georg Wissmeier Anfang August in Ithaca.

ak: Wir sind aktuell Zeuge einer großen Spaltung im Dachverband der US-amerikanischen Gewerkschaften, dem AFL-CIO. Was denkst du darüber?

Lowell Turner: Es ist die erste größere Spaltung im Dachverband seit 1930. Damals war das eigentlich eine gute Sache - obwohl auch da fast alle gesagt haben, wie schlimm, die Arbeiterbewegung ist gespalten. Es kann gut sein, dass das heute genauso ist. Es ist so, dass in dieser neuen Gruppe um die SEIU, Unite Here (3) und die Teamsters (4) die starken und wichtigen Gewerkschaften sind. Besonders SEIU und Unite Here sind diejenigen, die mobilisieren, organisieren, neue Ideen haben. Im AFL-CIO sind jetzt nur noch ein paar Gewerkschaften geblieben, wie z.B. die CWA (Communication Workers of America), die gute Arbeit machen. Viele andere Gewerkschaften schlafen. Diese neue Gruppe, als "change-to-win" angetreten, ist die Gruppe mit neuen Ideen und neuen Strategien. Trotzdem wäre es besser gewesen, wenn diese guten Gewerkschaften eine Koalition/Fraktion innerhalb und außerhalb des AFL-CIO gebildet hätten. (5)

ak: Diese Form der Zusammenarbeit gab es ja mit der Initiierung der "change-to-win"-Koalition schon. Hat das nicht gereicht?

Lowell Turner: Die SEIU mit ihrem Vorsitzenden Andrew Stern wollte eben etwas Dramatisches machen. Sie sind der Ansicht, dass die Arbeit des AFL-CIO zu bürokratisch und zu altmodisch ist. Sie wollen eine neue Organisation. Das hat natürlich auch mit Stern selbst zu tun, der gerne im Mittelpunkt steht, aber er hat seine Organisation von diesem Schritt überzeugt. Und die SEIU ist die wichtigste Gewerkschaft in diesem Prozess: Sie ist die größte Gewerkschaft in den USA und hat in den letzten zehn Jahren 700.000 neue Mitglieder gewonnen.

ak: Der Schritt der Abspaltung war wohl vorrangig eine Entscheidung der Spitzenfunktionäre ohne Einbeziehung der Mitgliedschaft?

Lowell Turner: Ja, schon. Aber trotzdem wurde dieser Schritt auch an der Basis diskutiert. Nicht unbedingt unter den Mitgliedern. Das ist ja immer so bei Gewerkschaften. Die meisten Mitglieder sind nicht informiert oder mobilisiert, und das muss auch nicht immer sein. Aber die "locals", die Bezirke sind sich in der Diskussion einig geworden. Aber forciert haben es die Spitzenfunkionäre.

ak: Welche Auswirkungen wird die Spaltung auf lokaler Ebene haben, wo die Einzelgewerkschaften in den lokalen Central Labour Councils zusammen arbeiten?

Lowell Turner: Das wird man sehen: Ich glaube, das ist noch nicht wirklich in trockenen Tüchern. Ich weiß z.B. dass dieses Problem im Vorfeld in Chicago, Seattle, San José, Los Angeles oder Buffalo diskutiert wurde. Und alle waren sich einig, dass sie auf lokaler Ebene weiter zusammen arbeiten werden. Dort, wo es aktive Gewerkschaftsarbeit vor Ort gibt, gibt es auch das Verständnis, dass man zusammengehört. Aber Spaltungsprozesse entwickeln mitunter eine eigene Dynamik ...

ak: Was ist nun das Neue an der Arbeit von "change-to-win"? Du sagst, sie repräsentieren das Neue in der Gewerkschaftsbewegung. SEIU und Unite Here sind in den letzten Jahren neue Wege bei der Organisierung gegangen. Sie haben MigrantInnen organisiert, sie haben verstärkt Frauen organisiert, sie haben im Niedriglohnsektor organisiert usw. Aber was ist mit den anderen, z.B. den Teamstern?

Lowell Turner: Klar, ein Teil dieser Gruppe wie die Teamsters oder die United Food and Commercial Workers (UFCW) sind ziemlich traditionell. Aber sie stehen unter einem starken Einfluss von SEIU und Unite Here. Jimmy Hoffa, der Vorsitzende der Teamsters, repräsentiert den konservativen Teil der Teamster, will aber gleichzeitig Organizing stärker machen. (6) Das ist ein gutes Zeichen. Auch dass die traditionell sehr konservative UFCW mitmacht, sehe ich als positiv an. Sie haben letztes Jahr einen großen Streik gegen Supermärkte in Los Angeles organisiert. Den haben sie zwar verloren, aber es gab eine enorme Beteiligung an der Basis. Viele Latinos und viele Frauen waren beteiligt. Diese Kampfbereitschaft hat einen erheblichen Einfluss auf die Organisation und die Funktionäre gehabt.

ak: Aber was ist nun das Neue an der Arbeit. Dass sie organisieren? Das ist doch eine zentrale Aufgabe von Gewerkschaften.

Lowell Turner: Sicher. Und genau das ist das Problem: Dass die meisten diese zentrale Aufgabe nicht wahrgenommen haben. Das hat mit dem Übergang zu John Sweeny als Vorsitzenden von AFL-CIO in 1995 angefangen. Sweeny stand sowohl für die Hinwendung zu den sozialen Bewegungen als auch für den Übergang von Service-Gewerkschaften hin zu Organizing-Gewerkschaften. Nur umgesetzt hat er es nicht wirklich. Heute sagen alle, dass Organizing notwendig ist, aber nur einige Gewerkschaften machen es. Und Sweeny und der AFL-CIO, die bewegen sich halt, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Die Grundidee von "change-to-win" ist im Prinzip diese Idee aus den 1990er Jahren. SEIU und die anderen sagen, wir machen das jetzt. Beziehungsweise: Wir machen das schon seit einigen Jahren und wir wollen das intensivieren. Ohne Bremser im eigenen Dachverband.

ak: Es wird auch davon gesprochen dass in diesem neuen Konstrukt die Gefahr der Zentralisierung sehr groß ist. Ein SEIU-Local in Los Angeles hat sich deswegen auch von der SEIU abgewandt.

Lowell Turner: Die Zentralisierung ist eine Gefahr und kann zum Problem werden. Aber auf der anderen Seite drängt die Entwicklung zum Handeln. Die im Rahmen der "justice-for-janitors"-Kampagne geführten Kämpfe der Reinigungskräfte, auf die sich alle sehr positiv beziehen, die ist von oben organisiert worden, das wurde auf nationaler Ebene beschlossen. Das kam dann an die Basis und die Leute haben das akzeptiert und haben mobilisiert. Und zwar sehr erfolgreich. Die Idee ist, dass wir stärkere Vorsitzende brauchen, nicht zur Unterdrückung der Basis, sondern damit von dieser Ebene Unterstützung und Anregungen für die Kämpfe an der Basis kommen. Dafür braucht man in bestimmten Zeiten auch Zentralisierung. Wir alten 1968er würden den Begriff des "demokratischen Zentralismus" verwenden, und einige der jetztigen Führungskräfte kommen aus dieser Tradition. Sie wissen, dass man auch Zentralisierung braucht und nicht immer auf die Basis warten kann, um was zu erreichen. Aber das Risiko, dass dann nur noch die Zentrale entscheidet, ist natürlich da.

ak: Gibt es politische Unterschiede zwischen dem neuen Block und dem AFL-CIO?

Lowell Turner: Zunächst mal gibt es Gemeinsamkeiten: Alle, wirklich alle haben gegen Bush mobilisiert und dafür ein halbes Jahr die Organizing-Arbeit mehr oder weniger ruhen lassen. Aber das Verrückte ist, dass z.B. die AFCSME (Gewerkschaft der staatlichen Angestellten) und die SEIU im Vorwahlkampf beide zu den Hauptunterstützern von Howard Dean (linke Alternative zu John Kerry) als demokratischen Präsidentschaftskandidaten zählten. Jetzt sind sie in unterschiedlichen Gewerkschaftsverbänden. Für John Kerry haben dann alle Wahlkampf gemacht. Die politische Frage scheint mir nicht wirklich der Punkt zu sein. Es kann sein, dass die neue Gruppe etwas unabhängiger agiert, das heißt in der Praxis werden sie sich meistens für Kandidaten der Demokraten einsetzen, aber gegebenenfalls eben auch mal für republikanische. Die SEIU hat z.B. im Staat New York den republikanischen Gouverneur Pataki unterstützt und jetzt unterstützen sie in New York City den republikanischen Bürgermeister Bloomberg. Nun wird von der neuen Gruppe gesagt, dass es keine Unterbrechung mehr beim Organizing geben darf und immer organisiert werden muss, auch in Wahlkampfzeiten. Der AFL-CIO hingegen legt seinen Fokus mehr auf die Lobbyarbeit. Das ist wohl der Unterschied.

ak: Es gibt viele Stimmen in den USA, insbesondere in den Gewerkschaften selbst, die den Hauptgrund für die Spaltung nicht in der Frage nach dem Stellenwert von Organizing sehen, sondern das Ganze eher als einen persönlichen Machtkampf zwischen Andrew Stern und John Sweeny verstehen. Eine der maßgeblichen Forderungen der "change-to-win"-Koalition vor dem Kongress in Chicago war "Sweeny muss weg" - und ein Kandidat von uns muss gewählt werden, dann bleiben wir im AFL-CIO. Als klar war, dass man auf dem Kongress keine Mehrheit bekommt hat man den Kongress boykottiert ...

Lowell Turner: Dieser Aspekt spielt sicherlich eine Rolle, aber er ist nicht der zentrale. Der Hauptstreit geht um die Frage von Organizing und Mobilisierung. Aber klar hat das Ganze auch persönliche Aspekte. So hat Sweeny am Anfang gesagt, dass er nur für zwei Perioden kandidiert. Nun ist er ein drittes Mal angetreten und wurde wieder gewählt. Es ist nicht das Problem, dass er alt ist; es ist eher das Problem, dass er kein charismatischer Sprecher ist. Leute wie Stern oder John Wilhelm und Bruce Raynor von Unite Here, die strahlen Dynamik aus, das sind Leute die agitieren können. Viele Leute lieben Sweeny, er ist wie ein lieber Großvater, aber das reicht eben nicht.

ak: Die Gewerkschaften sind mittlerweile auf dem organisatorischen Tiefpunkt angelangt. Nur noch 12% aller Beschäftigten in den USA sind organisiert; im privaten Sektor sind es sogar nur rund 8%. Im Dienstleistungsbereich noch weniger. Kann die Spaltung einen Aufschwung bringen?

Lowell Turner: Das könnte sein. Allerdings hatten wir vor zehn Jahren, als Sweeny als Hoffnungsträger kam, auch schon einen Tiefpunkt. Und seither geht es tiefer und tiefer. 1995 dachte man, dass ein Aufschwung möglich ist. Die Spaltung heute hat viel mit enttäuschten Hoffnungen aus 1995 zu tun. Allerdings muss man sagen, dass 1999 und 2000 zwei gute Jahre für die Gewerkschaften waren. Aber mit dem 11. September 2001 wurde dieser Entwicklung ein jähes Ende gesetzt. In den letzten beiden Jahren gab es wieder erfolgreiche Kämpfe z.B. in Los Angeles, wo die Arbeiterbewegung immer stärker wird. Es ist aber auch deutlich geworden, dass das nicht reicht. Diese Kämpfe sind gut, aber sie reichen nicht. Um einen Aufschwung hinzubekommen müssen die Gewerkschaften innovativer werden und etwas Dramatisches machen. Natürlich stellt sich immer die Frage, ob es möglich ist, aber ich glaube, jetzt ist es wirklich möglich.

Lowell Turner, ist Professor "for International and Comparative Labor" und war als Vertreter der Cornell Universität auf der Konferenz "Neverworkalone" (vgl. ak 495).

Anmerkungen:
1) AFL-CIO: American Federation of Labour and Congress of Industrial Organizations
2) Zur Zeit sind in dem neuen Zusammenschluss die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU (Service Employees International Union), die Teamsters (s.u.), die Handelsgewerkschaft UFCW (United Food and Commercial Workers Union), die Carpenters (Baugewerkschaft), die Agrar- und Industriegewerkschaft. Unite Here, die zwar zur "change-to-win"-Koalition gehören und auch den Kongress boykottierten, sind bisher formal noch nicht dem neuen Verband beigetreten. Die Carpenters gehören schon seit einigen Jahren nicht mehr dem AFL-CIO an. Durch die Spaltung verliert der AFL-CIO, mehr als vier Millionen Mitglieder und mehr als 20 Millionen US-Dollar an jährlichen Beiträgen.
3) Teamsters organisieren vor allem im Transport- und Speditionssektor.
4) Unite Here organisiert hauptsächlich Hotel- und Textilbeschäftigte.
5) Die programmatischen Aussagen der jeweiligen Lager lassen sich auf ihren Homepages nachlesen: www.unitetowin.com und www.aflcio.org .
6) "Organizing" hat in den USA eine besondere Bedeutung: Individuelle Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist unbekannt. Gewerkschaftliche Organisierung heißt dort, Beschäftigte eines Betriebes davon zu überzeugen, dass sie sich im Betrieb von der Gewerkschaft vertreten lassen sollen. Gelingt dies, so ist der Betrieb ein "union shop", d.h. alle Beschäftigten müssen der Gewerkschaft beitreten. Mitgliederwerbung durch ehrenamtliche "Volunteers" und hauptamtliche Organizer ist in den USA somit gleichbedeutend mit Betriebskampf und betrieblicher Organisierung. Immer sind die Anknüpfungspunkte ganz konkrete Konfliktlinien in den Betrieben, in aller Regel Konflikte mit einer hohen moralischen Aufladung.

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 497/19.8.2005