Gegenwehr, Gegenentwürfe, Gegenmacht

Das Sozialforum in Erfurt.

So langsam kommt Fahrt in die Sache. Die Zahl der angemeldeten Veranstaltungen ist in den letzten Wochen steil nach oben auf etwa 300 angestiegen. Das zeigt das Interesse am Forum, das auf seine Weise etwas Neuartiges ist. Denn es geht nicht nur darum, dass jeder auf einem Markt der Möglichkeiten seinen Ansatz, seine Erfahrungen und Positionen kommuniziert - es geht vor allem um das Miteinander der Diskussion und die Offenheit, daraus gemeinsame Perspektiven zu entwickeln.
Danach gibt es großen Bedarf. Das politische Umfeld, in dem wir uns bewegen, ist außerordentlich widersprüchlich. Neben schweren Niederlagen, wie wir sie mit dem Scheitern der Tarifauseinandersetzung um Arbeitszeitverkürzung der IG Metall in Ostdeutschland und der Durchsetzung der Hartz-Gesetze erlebt haben, treten positive Entwicklungen wie die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden sowie die Möglichkeit für ein politisches Linksbündnis in Deutschland, das die Chance hat, in den Bundestag zu kommen und wenigstens auf dieser Ebene die Ost-West-Spaltung zu überwinden. Neben die Zersplitterung der Bewegung gegen die Agenda 2010 tritt neuer Elan und vor allem die europäische Dimension als neuer Horizont für gesellschaftliches und politisches Handeln.
Zieht die Diskussion um die Bildung einer neuen Linkspartei nicht Kräfte vom Sozialforum ab? Das kann man bisher nicht sagen. Für einen Teil derer, die derzeit aus der Sozialdemokratie der WASG zuströmen, ist das Sozialforum eh eine Welt, die noch entdeckt werden muss. Doch bei vielen aus WASG und PDS ist das Interesse am Sozialforum groß. Sie erwarten sich davon Anregungen auch für den eigenen Prozess, obwohl das Sozialforum über die parteipolitischen Entwicklungen nicht diskutieren wird. Denn so, wie die Entstehung der WASG sich dem Kampf gegen die Agenda 2010 verdankt, so bleibt die Frage, wie es mit dem gesellschaftlichen Widerstand im Land weitergeht, wie die Erosion des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses durch kollektives Handeln aufgehalten werden kann, für die Dynamik einer Neuformierung der Linken bestimmend. Die Parteibildung beantwortet diese Fragen nicht, sie schafft aber einen neuen Akteur.
Das Sozialforum muss helfen, eine längerfristige Strategie des gesellschaftlichen Aktion zu entwickeln. So etwas lässt sich nicht aus dem Hut zaubern. Doch allein die Tatsache, dass bei diesem Forum einmal alle zusammen kommen und die Vernetzung untereinander ein erklärtes Ziel ist, hat jetzt schon viele dazu animiert, Arbeitsgruppen und Seminare zum Thema "Wie weiter?" anzubieten. Freitag und Samstag abend ist zwischen 19.30 Uhr und 21.30 Uhr eine eigene Zeitspanne dafür vorgesehen und ein Versammlungshaus dafür reserviert. Es bietet Räume auch für spontane Zusammenkünfte. Infotafeln und eine AG Vernetzung sorgen für den Kommunikationsfluss. Wie ernst es damit ist, die Gelegenheit des Sozialforums zu nutzen, um neue Handlungsperspektiven zu entwickeln, zeigt die Tatsache, dass schon im Vorfeld zu Erfurt zahlreiche kleinere Treffen in unterschiedlichen Bereichen stattfinden, um Ideen zu sammeln und sich auf das Sozialforum vorzubereiten.
Dieser Diskussionsprozess wird am letzten Tag des Sozialforums in einen langen Vormittag münden, dessen 1.Teil ein Seminar bildet, wo milieuübergreifend eine Strategiedebatte geführt werden soll; dessen 2.Teil die Versammlung sozialer Bewegungen sein wird, wo die praktischen Vorschläge für gemeinsame Aktionen zusammen geführt werden.

Ein breites Spektrum
Diejenigen im Vorbereitungskreis, die das Weltsozialforum und das Europäische Sozialforum kennengelernt haben, waren von Anfang an überzeugt, dass es auch in Deutschland ein Erfolg werden würde. Das Veranstaltungsangebot gibt ihnen nun recht, und mit ziemlicher Sicherheit wird ihnen auch die Teilnehmerzahl recht geben. Das Sozialforum ist eine Erfolgsstory - sofern und unter der Bedingung, dass das Bemühen um gemeinsamen Austausch und gemeinsame Praxis sein Motor ist. Es ist deshalb eine Erfolgsstory, weil es mehr ist als nur eine Veranstaltung, es ist ein Konzept für den Aufbau einer starken gesellschaftlichen Bewegung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Krise der beiden Mehrheitsströmungen der Arbeiterbewegung.
Getrost soll man denen entgegen treten, die Erfolg oder Mißerfolg in Erfurt daran messen, wieviele Menschen den Weg dahin gefunden haben. Der Sozialforumsprozess steckt in Deutschland noch im Anfang. Die meisten politisch, gewerkschaftlich oder sozial aktiven Menschen wissen nichts davon - erst die Veranstaltung in Erfurt selbst wird eine größere Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen. Auch steht die politische Kultur der Linken hierzulande Vorstellung von Offenheit, Gleichberechtigung, Einheit und der Herausbildung sozialer Bewegung als eines eigenständigen politischen Akteurs eher fremd gegenüber. Das wird erst aufgebrochen werden, wenn das Sozialforum stattfindet und als Ereignis wirken kann. Das Erfolgskriterium ist, ob wir dem Ziel gemeinsamer Strategieentwicklung ein Stück näher gekommen sind.
Ein gutes Vorzeichen gibt es immerhin: Es sind sehr viele gesellschaftliche Bereiche in Erfurt vertreten, wenngleich in unterschiedlichem Maß: Die Gewerkschaften Ver.di und IG Metall haben mit eigenen Veranstaltungen und der Beteiligung an zentralen Debatten einen Fuß in diesen Prozess gesetzt, aber nur einen Fuß: die gewerkschaftliche Beteiligung steht in keinem Verhältnis zu den Schwierigkeiten, in denen die Gewerkschaften stecken. Deren Debatten finden weitgehend nur in der eigenen Organisation statt. Sehr präsent sind kirchliche Gruppen, Erwerbslosengruppen, Gruppen aus dem Bereich der solidarischen Ökonomie, Attac, Friedensgruppen und selbst Gruppen aus dem Bereich der Flüchtlinge und Migranten.
Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf sozialen Fragen, Fragen nach gesellschaftlichen Alternativen und alternativen Lebensformen. Zahlreiche Veranstaltungen kreisen um die EU - das ist ein Fortschritt. Anderes ist unterbelichtet wie Umwelt, Gesundheit, Bildung, oder es kommt gar nicht vor: die Wohlfahrtsverbände z.B., aber auch die Vielzahl von engagierten Gruppen von Sozialarbeitern, Medizinern, Psychologen, Lehrerinnen und anderen Berufsgruppen, die unter der Knute restriktiver Haushaltspolitik eine inhaltliche Veränderung von Dienstleistungsbereichen erfahren, die erneut Debatten um eine Neukonzeption des Gesundheitswesens, des Bildungswesens u.a. provozieren. Wasser ist ein wichtiges Thema, aber die Privatisierung im Verkehrswesen, die Veränderungen im Bankensystem und ähnliches kommen nicht vor. Dafür suchen viele Kulturschaffende das Sozialforum als Ort, auf den Kahlschlag in diesem Bereich aufmerksam zu machen. Dass es einen Frauen-Raum gibt, ist ein Erfolg, aber der Raum ist noch spärlich gefüllt.
Das Sozialforum in Erfurt wird noch nicht das Spiegelbild der gesellschaftlichen Probleme sein, das die Initiatoren sich wünschen. Das kann es im ersten Anlauf auch nicht. Wichtig ist, dass von ihm das Signal ausgeht: Das ist ein wichtiger Ort für die Organisierung von Gegenwehr, Gegenentwürfen und Gegenmacht. Und dass die Impulse für Vernetzung, Projekte und Aktionen die Zusammenarbeit unter den Linken nachhaltig verbessern. Wenn wir mit neuer Zuversicht und Energie nach Hause gehen, hat sich die Veranstaltung gelohnt.