Der Historiker Joel Beinin über die Rolle der Arbeiterbewegung und die Hintergründe der ägyptischen Unruhen
Joel Beinin ist Professor für Geschichte des Nahen Ostens an der Stanford-Universität. Seine Schwerpunkte sind Arbeiter-, Bauern- und Minderheitenforschung im modernen Nahen Osten sowie der arabisch-israelische Konflikt. Zwischen 2004 und 2009 reiste Beinin mehrfach nach Kairo und lebte dort auch für eine längere Zeit, um u.a. zahlreiche Interviews mit Arbeitern und Arbeiterinnen durchzuführen. Er veröffentlichte 2010 im Auftrag des Solidarity Centers, einer Organisation, die sich weltweit für die Rechte der ArbeiterInnen einsetzt, die Studie »Justice for all. The Struggle for Worker Rights in Egypt«. Das folgende Interview erschien zuerst am 4. Februar auf englisch auf der Homepage der Stanford-Universität. Die deutsche Übertragung erfolgte mit freundlicher Genehmigung Joel Beinins.
Herr Beinin, können Sie beschreiben, wie das Leben für den typischen städtischen Arbeiter in Kairo aussieht?
Zunächst einmal: In Ägypten ist das Wort Arbeiterklasse kein Tabu. Arbeiter werden Arbeiter genannt und nicht Arbeitnehmer oder sonst wie. Arbeiterklasse ist ein Begriff, den jeder versteht. Das durchschnittliche monatliche Grundgehalt für einen Textilarbeiter oder eine Textilarbeiterin beträgt 400 ägyptische Pfund im Monat. Das sind ungefähr 70 US-Dollar. Die ArbeiterInnen erhalten auch Leistungslohn, Boni verschiedener Art etc. Aber wenn man zwei Gehälter einer typischen fünfköpfigen ägyptischen Familie zusammennimmt, so bewegt sich das Einkommen gerade einmal knapp oberhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag und Person. Nach Angaben der Weltbank leben 44% der ägyptischen Bevölkerung unter oder in unmittelbarer Nähe der Armutsgrenze. Die meisten städtischen ArbeiterInnen sind kaum in der Lage, ihre Familien zu ernähren und für die Bildung ihrer Kinder zu sorgen, weil das ägyptische öffentliche Schulsystem einfach nicht funktioniert. Die Menschen sind ständig überschuldet. Die Preise für Nahrungsmittel sind in den letzten fünf Jahren sprunghaft angestiegen, vor allem in den letzten Monaten, sodass die Leute schlicht nicht mehr wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Den politischen Missständen, die in den letzten Wochen auf drastische Art und Weise artikuliert wurden, liegen diese schon seit 20 Jahren währenden wirtschaftlichen Probleme zugrunde.
In Ihrer Studie »The Struggle for Worker Rights in Egypt« verweisen Sie auf 1952 als das Jahr, in dem die »durch und durch autokratische Machtausübung« durch das ägyptische Regime begann. Wie haben sich die Arbeitsbedingungen für den durchschnittlichen ägyptischen Arbeiter seither geändert?
Das Regime von Gamal Abdel Nasser und den Freien Offizieren, das 1952 nach dem Sturz der Monarchie durch einen Militärputsch an die Macht kam, war selbstredend autokratisch. Aber es war ein populistisches autoritäres Regime. Von 1952 bis etwa 1965-66 stieg der Lebensstandard der Arbeiter und Landarbeiter ganz erheblich. Es gab nicht nur eine zwar moderate Landverteilung an Bauern, sondern wichtiger noch die Einführung der Pachtpreisbindung auf ägyptisches Ackerland. Die Löhne in den Städten stiegen, ein bezahlter wöchentlicher Ruhetag und ein Mindestlohn wurden eingeführt. Nasser war deshalb und aufgrund anderer hier nicht näher zu erläuternder Gründe zeit seiner Regentschaft sehr populär. Ausgenommen bei jenen, die er inhaftieren und foltern ließ, in erster Linie die Muslimbrüder und die Kommunisten. Diese Art des Regimes basierte auf autoritärem Populismus und import-substituierender Industrialisierung und war überall in den neuen unabhängigen Staaten Asiens, Afrikas und auch in Lateinamerika verbreitet.
Doch es offenbarten sich Mitte bis Ende der 1960er Jahre einige Probleme. Als Nasser 1970 starb, wurde einigen Leuten klar, dass das Land einen neuen Pfad würde beschreiten müssen. Anwar Sadat, Nassers Nachfolger, kündigte im Jahr 1974 eine neue Wirtschaftspolitik, die so genannte Politik der offenen Tür, an. Dies war der Beginn eines sehr langwierigen Prozesses der Privatisierung der Wirtschaft, des Abbaus staatlicher Ausgaben, der Verringerung sozialer Dienste und des Subventionsabbaus für Grundnahrungsmittel, letzteres war allerdings schon vorher in Angriff genommen worden. Es dauerte indes bis zum Abkommen mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) im Jahr 1991, bis die Wirtschaftspolitik der Offenen Tür auch voll umgesetzt wurde. Dann jedoch sanken die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter sehr schnell.
Im Jahr 1991 unterzeichnete Ägypten eine wirtschaftliche Reformvereinbarung mit der Weltbank und dem IWF über die Privatisierung des öffentlichen Sektors. Wie wirkte sich diese auf die Lage der ägyptischen ArbeiterInnenklasse aus?
Allgemein wurde geschätzt, dass der Personalüberhang in öffentlichen Unternehmen in Ägypten vor allem im Textilbereich - nach dem Nahrungsmittel- der zweitgrößte Industriesektor - ungefähr ein Viertel betrug. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein privater Unternehmer und die Regierung schlägt vor, Ihnen eine Textilfabrik zu verkaufen. Eigentlich brauchen Sie diese 25% zusätzlichen Arbeitskräfte nicht, da sich dadurch nur Ihr Gewinn verringert.
Das Problem war also, wie man diese überflüssigen ArbeitnehmerInnen loswerden konnte. In die Privatisierungsprogramme wurden nämlich Rechtsvorschriften aufgenommen, die einen neuen privaten Unternehmer verpflichteten, keine ArbeiterInnen zu entlassen und dafür Sorge zu tragen, dass das gleiche Niveau an Löhnen und Sozialleistungen gezahlt wird wie vorher. Die Regierung begann, Vorruhestandsregelungen einzuführen. Sie gaben jedem über einer bestimmten Altersgrenze umgerechnet ca. 8.000-9.000 US-Dollar Ruhestandsgeld. In Ägypten ist das ziemlich viel. Man konnte dafür z.B. ein Lebensmittelgeschäft eröffnen oder ein Stück Land erwerben. Es reichte auf jeden Fall zum Überleben.
Auf dieser Grundlage wurden einige Firmen verkauft, aber nicht genug. Dann kam im Juli 2004 eine neue Regierung an die Macht - jene, die gerade entlassen wurde. Und im Gegensatz zu den früheren Regierungen war diese Regierung, die den Spitznamen »Regierung der Geschäftsleute« trug, leidenschaftliche Befürworterin der Privatisierungsprogramme. Sie privatisierte mehr in ihrem ersten Amtsjahr als in den vorangegangenen zehn Jahren. Natürlich traten bei diesem Tempo zahlreiche Probleme auf. So wurden die Vorruhestandsgelder verringert, sodass es logischerweise weniger Menschen annahmen. Fast unmittelbar danach, in der zweiten Hälfte des Jahres 2004, stellt man insofern einen großen Anstieg der Zahl von Streiks, Sit-ins und anderer kollektiver Aktionen von ArbeiterInnen fest.
Ihre Forschungen zeigen, dass die Unruhen bis hin zu Konflikten von Anfang der 1990er Jahre zurückverfolgt werden können. Warum hatten diese vorangegangenen Streiks und Proteste der ägyptischen ArbeiterInnen keine Wirkung?
In den 1980er und 1990er Jahren gab es mehrere Phasen, in denen es eine Welle von Streiks und Protesten gab. Einige von ihnen hatten sehr wohl Auswirkungen. Aber sehr oft hat das Regime die Unruhen gewaltsam niedergeschlagen und die Menschen niedergeschossen. Das hatte zur Folge, dass die Hemmschwelle, sich an solchen Protesten zu beteiligen, sehr groß war. Nach einer Entscheidung des obersten Verfassungsgerichts, wonach die Verfassung das Recht auf Streik tatsächlich garantierte, etablierte sich die Streikkultur zunehmend. Doch die Regierungsexekutive akzeptierte das nicht und fuhr fort, streikende Arbeiter zu unterdrücken.
Im Jahr 1998 unterzeichnete Ägypten die Erklärung über grundlegende Prinzipien und Rechte der Arbeit durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Mit der Unterzeichnung der Vereinbarung sicherten Regierungen der ganzen Welt den ArbeiterInnen das Recht zu, sich zu organisieren, versprachen Nichtdiskriminierung und das Verbot sowohl der Kinderarbeit als auch der Zwangsarbeit. Haben die ägyptischen ArbeiterInnen daraufhin Gewerkschaften gegründet?
Nicht als Folge davon. Es gibt seit 1957 einen ägyptischen Gewerkschaftsbund (Egyptian Trade Union Federation, ETUF). Er war schon immer, unter Nasser, Sadat und unter Mubarak im Wesentlichen ein verlängerter Arm des Regimes. Es ist illegal, eine Gewerkschaft zu bilden, die nicht dem ägyptischen Gewerkschaftsbund angehört. Es gilt der Grundsatz: ein Betrieb, eine Gewerkschaft. So müssen alle TextilarbeiterInnen der Allgemeinen Union der Textilarbeiter angehören, alle Stahlarbeiter der Allgemeinen Union für Eisen und Stahl etc. Diese Gewerkschaften sind Top-Down-Projekte und hierarchisch organisiert. Es gibt Gewerkschaftsausschüsse in Fabriken, die aber sehr wenig Kontrolle über ihr Handeln haben, sowohl im Hinblick auf ihr Budget oder lokale Löhne und Arbeitsbedingungen. Und obwohl Streiken in Ägypten nun legal ist, muss die Zustimmung von zwei Dritteln des Vorstandes des ägyptischen Gewerkschaftsbundes eingeholt werden. Alle 23 Mitglieder stehen der regierenden Nationaldemokratischen Partei nahe, einige sind sogar hohe Funktionäre. In seiner ganzen Geschichte hat der Vorstand ganze zwei Streiks genehmigt.
Und die Internationale Arbeitsorganisation hat nie interveniert?
Die ILO ist seit einigen Jahren sehr besorgt über Ägypten, und in der Tat gab es vor ein paar Jahren eine spezielle Untersuchung über das Land, die ich auch in meinem Buch erwähne. Aber die ILO arbeitet nach einem tripartistischen Prinzip: Regierungen, Unternehmen, Gewerkschaften. So hat sie festgestellt, dass die ägyptischen ArbeiterInnen tatsächlich keine Vereinigungsfreiheit sowie das Recht, frei Gewerkschaften zu gründen, genießen. Überdies, dass es Diskriminierungen am Arbeitsplatz, insbesondere von Frauen, gibt. Und sie sagen, sie hätten entdeckt, dass es vielleicht Probleme geben könnte. Eine sehr vorsichtige Argumentation also!
Online-Medien und der jüngste Aufstand in Tunesien werden häufig als Katalysatoren für die ägyptische Revolution genannt. Würden Sie zustimmen, dass dies die beiden bestimmenden Faktoren sind?
So undifferenziert betrachtet kann die Antwort nur nein lauten. Ich will damit nicht sagen, dass die genannten Faktoren nicht wichtig sind; sie sind es offensichtlich. Aber ich würde den Schwerpunkt auf eine Reihe von sozialen, politischen und wirtschaftlichen Mobilisierungen setzen, die seit zehn Jahren andauern. Da waren die Volkskomitees zur Unterstützung des palästinensischen Aufstands im Jahr 2000, die Volkskomitees gegen die US-Invasion im Irak 2003, die ägyptische Bewegung für Veränderung 2004-06, eine Pro-Demokratie-Bewegung, die forderte, dass Mubarak nicht für eine Wiederwahl im Jahr 2005 antreten dürfe - dies tat er allerdings bekanntermaßen doch. Es gab viel Unterstützung für die Unabhängigkeit der Justiz im Frühjahr 2006. Darüber hinaus - und das ist das wichtigste - gab es mehr als 3.000 Streiks, Sit-ins und Proteste von mehr als zwei Millionen ArbeiterInnen seit 1998. Und das hält an. Jeden Monat bekomme ich eine neue Mitteilung von einer der ägyptischen Nichtregierungsorganisationen, die die Protestaktionen und Streiks Tag für Tag zählen. Es sind immer noch Hunderte pro Jahr. Keiner dieser Faktoren führte allein zu dem, was seit dem 25. Januar passiert ist. Aber zusammen genommen hatten sie einen großen Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen über die Widerstandschancen gegen das Regime.
Was kennzeichnet den 25. Januar 2011, den so genannten Tag des Zorns in Ägypten?
Es gab zwei große Demonstrationen. Der ursprüngliche Tag des Zorns war am 25. und der zweite am 28. Januar. Am 25. waren etwa 10.000 Menschen auf der Straße, was sehr viel war im Vergleich zu dem, was es in den vergangenen Jahren an politischen Demonstrationen gegeben hatte. Die Organisatoren führten daraufhin auch eine Demonstration am Freitag durch, weil freitags das Mittagsgebet stattfindet. Es ist nämlich üblich, dass die Leute im Anschluss an das Gebet auf eine Demonstration gehen, insbesondere wenn der Geistliche dazu auffordert. Nun haben die Menschen keine Angst mehr. Sie sind in den Innenstädten von Kairo, Suez und Alexandria. Ich bin mir nicht sicher, was in anderen Städten geschieht, aber es gibt sicherlich auch Aktionen in den Provinzstädten. Es ist schon viele Jahre her, dass ein großer Teil der ägyptischen Bevölkerung dem Mubarak-Regime die Legitimation abgesprochen hat. Der Grund für die Zurückhaltung war erstens die Angst vor Verhaftungen und Folter, zweitens fragten sich die Leute: »Wenn ich mich exponiere, wird da noch jemand anderes mitmachen?« Sehr wenige Menschen demonstrierten unter diesen Umständen. Aber wenn mehr Leute auf der Straße sind als Sicherheitskräfte, dann ist das etwas ganz anders.
Warum fordern die Ägypter nicht nur Reformen, sondern einen Regimewechsel?
Die ägyptische Bevölkerung, wenngleich auch ca. 40% von ihnen Analphabeten sind, ist sehr leidgeprüft und geduldig. Und ihr eilt der Ruf der politischen Apathie voraus. Aber die Ägypter sind nicht dumm. Sie wissen, dass sich mit dem Abgang von Hosni Mubarak und mit Omar Suleiman, dem ehemaligen Sicherheitschef und dem jetzigen Vizepräsidenten, nichts ändern wird (am 11. Februar trat Omar Suleiman vom Posten des Vizepräsidenten zurück, nach Angaben von Al Jazeerea gehört er dem Hohen Militärrat an; Anm. d. Red.) Wer in Ägypten lebt, versteht, dass das Regime auf einer gewissen Struktur fußt. Und diese besteht nicht allein aus Hosni Mubarak. Es ließen sich noch viele andere Namen nennen. Zum Beispiel der von Habib El Adly, dem ehemaligen Innenminister, der gehasst wird, weil er die Polizei befehligt, die regelmäßig foltert, prügelt und den Zentralen Sicherheitskräften anordnete, am 2. Februar mit Steinen und Knüppeln auf die Demonstranten loszugehen. Die Leute verstehen, dass dies zusammenhängt, vielleicht nicht im Detail, aber sie wissen, dass sie es mit einem institutionalisierten System zu tun haben, dessen sie überdrüssig sind.
Es wird gesagt, zuerst die tunesische Rebellion, jetzt Ägypten. Was kommt als nächstes? Sind wir Zeugen eines Dominoeffektes von mehr Aufständen in anderen Ländern des Nahen Ostens?
Mein Argument ist Folgendes: Zwar gibt es einen gewissen Dominoeffekt durch das, was in Ägypten und Tunesien geschieht. Aber in jedem Land stellt sich die Lage anders da. Zum Beispiel ist die Armee in Tunesien sehr klein und sie erhält nicht Milliarden von US-Dollar für Waffen und Ausbildung von den USA. So war es relativ einfach, die Armee auf die Seite der Bevölkerung zu ziehen. In Ägypten ist die Armee sehr groß. Sie besteht aus 450.000 Menschen. Da ist es schwieriger, an den Strukturen etwas zu ändern. Und in der Tat ist in den letzten Tagen offenkundig geworden, dass sich die Armee zunehmend gegen die Bevölkerung stellt.