Die Linke muss die Welt auch interpretieren

Zwischenruf zum Demokratischen Sozialismus und

Welche Richtung die SPD einschlagen wird, hängt nicht nur vom machtpolitischen Kräfteverhältnis zwischen den Richtungen und Gruppierungen ab, sondern auch von der Theoriearbeit der Linken.

"140 Jahre nach ihrer Gründung steht die Sozialdemokratie an einem Scheideweg", ob sie ihre soziale Tradition erneuern und bewahren oder aufgeben wird. Das konstatieren zutreffend Reinhold Rünker, Andrea Nahles und Horst Peter in SPW 4/2003. Diese Aussage impliziert, dass auch die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands - und ganz Westeuropas - an einem Scheideweg steht: Wird der deutsche - und der europäische - Sozialstaat erneuert und bewahrt oder durch systemüberwindene Reformen schrittweise durch das neoamerikanische Modell des "Raubtierkapitalismus" (Der SPIEGEL, 8. 7. 02) ersetzt. Und schließlich entscheidet sich dabei auch, ob die SPD langfristig ihre Mehrheits- und gesellschaftspolitische Gestaltungsfähigkeit bewahrt oder verliert.
Welche Richtung die SPD an diesem Scheideweg einschlagen wird, hängt nicht nur vom machtpolitischen Kräfteverhältnis zwischen den personalpoltischen Richtungen und Gruppierungen ab, sondern vor allem von der "Theoriearbeit, die die Linke leisten muss" (Horst Peter, SPW 4/2003, S. 2), aber auch die gesamte SPD. Das erwähnte Standortpapier enthält wichtige Anregungen für eine Schadensbegrenzung und für eine Vermeidung des neoliberalen Weges. Es enthält aber auch einige gravierende Lücken, indem es theoretische Defizite der Linken übersieht, die mit zur aktuellen besorgniserregenden Entwicklung beigetragen haben. Es erwähnt nicht, ob die Richtungsentscheidung am Scheideweg vielleicht mit der jüngst aufgeflammten Kontroverse zu tun hat, ob die SPD in ihrem neuen Grundsatzprogramm den traditionellen Leitbegriff Demokratischer Sozialismus beibehalten oder auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen soll.
Der Verzicht auf den Begriff Demokratischer Sozialismus wäre ein Bruch mit der im "Standortpapier" angemahnten "sozialen und demokratischen Tradition" , eine Kapitulation vor dem neoliberalen "mainstream", dem sich zu widersetzen sowohl die SPW als auch viele Sozialdemokraten fordern, u. a. Wolfgang Thierse (Frankfurter Rundschau, 12. 9. 03).
"Demokratischer Sozialismus" - ein vernachlässigter Begriff
Wenn, wie zu erwarten, zur Beruhigung einiger Gemüter, im neuen Grundsatzprogramm die Wörter demokratischer Sozialismus wieder erwähnt werden, ist das noch keine Garantie dafür, dass die soziale Tradition erneuert und bewahrt wird, und die SPD am Scheideweg die "linke" Richtung einschlägt. Allein die Beibehaltung der vielen vertrauten Wörter bewirkt gar nichts. Harald Schartau ist durchaus zuzustimmen: "Es macht keinen Sinn für die SPD, Begriffe hochzuhalten, die keinen Inhalt mehr besitzen." (F. R. 5. 9. 03) Zugespitzt müßte man sogar sagen: ... einen Begriff hochzuhalten, den die SPD gar nicht mehr "besitzt". Denn, wie Wolfgang Thierse feststellte (FR 19. 8. 03), hat ja die PDS den Begriff "dreist geklaut". Allerdings müßte man den Vorwurf an die PDS etwas präzisieren: Die PDS hat ein unbewohntes, vom Eigentümer SPD ungenutztes und auch nicht beanspruchtes Grundstück mit wertvoller Bausubstanz schlicht "besetzt".
Dieses nicht genutzte Eigentum der SPD ist zwar so wertvoll, dass es die UNESCO zum "Welt-Sozialerbe" erklären könnte. Aber in den letzten Jahrzehnten wurde dieser wertvolle "Besitz" völlig vernachlässigt, nicht mehr gehegt, gepflegt oder renoviert, sondern dem schleichenden Verfall überlassen. Und alle Generationen und Zweige der Eigentümer-Großfamilie hat es gleichgültig gelassen, wie das wertvolle Erbe zunehmend verrottete. Weder "Rechte" noch "Linke", "Modernisierer" noch "Traditionalisten" waren bereit oder in der Lage, auch nur eine kleine geistige Anstrengung zu investieren, um ihr Erbe vor Wertminderung und Verfall zu bewahren. Und die PDS hat die leerstehenden Gebäude auch nur "besetzt", keineswegs "instandbesetzt", wie das sonst Hausbesetzer zu tun pflegten.
Wer sich damit begnügt, dass die Wörter demokratischer Sozialismus nicht ausdrücklich aus dem neuen Grundsatzprogramm der SPD verbannt werden, pflegt damit noch keineswegs die Tradition im Sinne von Jean Jaurès: Traditionen pflegen heißt nicht, in kalte Asche zu blasen, sondern eine Flamme am Brennen zu halten. Nur die Wörter demokratischer Sozialismus weiter zu verwenden, würde tatsächlich nur bedeuten, in kalte Asche zu blasen, und würde keinen enttäuschten Anhänger der SPD davon überzeugen, dass es noch Sozialdemokraten gibt, in denen die Flamme des Demokratischen Sozialismus noch brennt.
Diese "Flamme" meint Sigmar Gabriel, wenn er den Begriff "demokratischer Sozialismus" als das "Gefäß" bezeichnet, in dem "die sozialdemokratische Erzählung (als) Erfolgsgeschichte" aufbewahrt wird und durch die sich die SPD von allen anderen Parteien unterscheidet: "Gleichzeitig ist diese Erzählung aber auch eine gewaltige Ressource und Energiequelle für sozialdemokratisches Engagement." (F. R. 23. 8. 2003) Aktualisiert müßte der Satz eher beginnen: "Diese Erzählung WAR und MUSS wieder WERDEN ...".
Auch Michael Müller betont immer wieder, dass die Linke zur Orientierung und Motivierung eine "große Erzählung" brauche. Aber er schätzt das Kräfteverhältnis zwischen konkurrierenden "Großen Erzählungen" falsch ein, wenn er Schröder auffordert, "sich lieber kritisch mit den Restbeständen der neoliberalen Ideologie auseinanderzusetzen". Denn "Restbestände" gibt es leider nicht von der neoliberalen Ideologie, sondern von der einstigen intellektuellen Großmacht Demokratischer Sozialismus. Und diese "Restbestände" der "großen sozialdemokratischen Erzählung" sind nicht konkurrenzfähig mit dem "großmäuligen neoliberalen Geschwätz", das nicht nur die Talk-Shows der jammernden Millionäre, die Feuilletons, die Sozialwissenschaften (soweit sie sich nicht auf Empirie beschränken) dominiert, sondern auch das Alltagsbewußtsein von Menschen deformiert, die nie das Wort Neoliberalismus gehört haben.
Es kommtauch darauf an, die Welt erklären zu können
Eine Ursache dafür, dass die neoliberale Idologie dominant wurde, dass sie "zur materiellen Gewalt wurde, weil sie zwar nicht die Massen, aber die Machteliten ergriff", liegt in folgendem Verhalten der linken Eliten: Nach 1989 hat weder die akademische noch die politische Linke (SPD und Gewerkschaften) der neoliberalen These fundiert widersprochen, die Implosion des "Realsozialismus" habe das Scheitern des "Sozialismus jedweder Art" und den Endsieg des Kapitalismus unwiderruflich bewiesen. An jenen heftigen Debatten über das "Scheitern des Sozialismus jedweder Art" beteiligten sich aus dem ehemals linken Spektrum fast nur jene, die der neoliberalen These zustimmten. Diejenigen, die ihr nicht zustimmten, schwiegen dagegen betreten, waren aber auch nicht interessiert, der neoliberalen Interpretation der welthistorischen Zäsur von 1989 theoretisch und empirisch fundiert entgegenzutreten.
Auch bei schärfster Kritik an der neoliberalen politischen Praxis haben viele die neoliberale Interpretation der heutigen Welt klammheimlich oder unreflektiert übernommen. Zum stillschweigenden Konsens der Rest-Linken gehört daher das Bekenntnis, das 2001 auch die linken Mitbegründer des "Netzwerks 2010" (Projektgruppe der unter vierzigjährigen SPD-Mandats und Funktionsträger - dass die Zahl 2010 inzwischen auch mit einem anderen Subjekt verbunden ist, war damals nicht beabsichtigt und ist rein zufällig!) unterschrieben haben: "Das 20. Jahrhundert mit seinen allumfassenden Gesellschaftsentwürfen und ganzheitlichen Glaubenssystemen ist Vergangenheit. Die alten, einander ausschließenden Gesamterklärungen überzeugen nicht mehr. " (Zur Kritik dieser Aussage darf der Autor ausnahmsweise sich selbst zitieren, in SPW 120, 4/01, S. 58): "Bei dieser gesellschaftstheoretischen Prämisse, die als objektive Tatsachenaussage formuliert ist, handelt es sich um eine der fatalsten und folgenreichsten Selbsttäuschungen im linken intellektuellen Spektrum: Denn diese Aussage ist zwar einerseits tatsächlich zutreffend, aber nur für 'allumfassende Gesellschaftsentwürfe und ganzheitliche Glaubenssysteme' sowie 'Gesamterklärungen' aus der linken Tradition. Auf der rechten Seite dagegen hat der Neoliberalismus als 'allumfassender Gesellschaftsentwurf und ganzheitliches Glaubenssystem' sowie 'Gesamterklärung' in den intellektuellen Diskursen in Deutschland nicht nur die Hegemonie, sondern die Alleinherrschaftt erobert."
Diese im Weltmaßstab siegreiche neoliberale Ideologie hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Welt interpretiert, sondern auch radikal verändert. Wenn die Restlinke, die diese Veränderungen beklagt, künftig die Welt wieder in ihrem Sinne verändern will, muß sie sie zunächst wieder interpretieren, und zwar verschieden von der neoliberalen Interpretation.
Die Restlinke unterschätzt die praktisch-politischen Wirkungen der intellektuellen Diskurse, in denen Intellektuelle die Welt interpretieren und die Entwicklungsperspektiven der Gesellschaft skizzieren. Dagegen überschätzt sie die "objektiven" Faktoren, wie das Kapital, die Technik, die Globalisierung. Und so unterschätzt sie die Macht der "subjektiven" Faktoren, der Ideen, der Wert- und Zielvorstellungen, der Gesellschaftsbilder und Visionen im Denken und Bewußtsein der Menschen. Sie übersehen, dass die Neoliberalen in den letzten Jahrzehnten die Welt nur deshalb im Sinne ihres "allumfassenden Gesellschaftsentwurfs" so radikal verändern konnten, weil sie die entscheidende Rolle des "subjektiven" Faktors erkannt hatten. Norman Birnbaum erläutert am Beispiel der USA, wie die Zerstörung der sozialen Errungenschaften des New Deal - also die Veränderungen der Basis - durch die Politik Reagans mit einer ideologischen Offensive zielstrebig vorbereitet und erst möglich gemacht wurde: "Zur Entwicklung und Verbreitung neokonservativer Ideen (in Europa neoliberal genannt, H. H.) finanzierten die amerikanische Wirtschaft und Wohlhabende Forschungszentren, Stiftungen, Universitätsinstitute, Zeitschriften und Verlage." (N. Birnbaum, Nach dem Fortschritt - Vorletzte Anmerkungen zum Sozialismus. Stuttgart/München 2003, S. 422 f.) Die Schwäche der Gewerkschaften und der Demokraten hatte "das amerikanische Kapital zu einer intellektuellen Offensive (ermuntert). Die Fähigkeit, das alltägliche Denken zu prägen war langfristig gesehen wesentlich wertvoller, als Staatssekretäre, Kongreßabgeordnete und Gouverneure zu gewinnen. Darin lag kein Widerspruch: Ersteres erleichterte letzteres." (S. 426)
Den Hegemoniekampf annehmen!
Obwohl Michael Müller (SPW 132, 4/2003, S. 29 ff.) unter Berufung auf Gramsci die Linke ermahnt, "um die kulturelle Hegemonie zu kämpfen" (S. 30), konstantiert er es als "Tatsache, dass es den 'Rheinischen Kapitalismus' ... nicht mehr gibt" und dass sich das "angelsächsische Modell" durchgesetzt habe. Wenn das tatsächlich schon "Tatsache" wäre, dann stünde die SPD nicht mehr am "Scheidewege", denn dann wäre die Systemauseinandersetzung zwischen dem "Rheinischen Kapitalismus" und dem neoamerikanischen "Raubtierkapitalismus" schon unwiderruflich entschieden. "Tatsache" ist dagegen, dass sich das europäische Sozialstaatsmodell gegenüber dem expandierenden neoamerikanischen Modell auf dem Rückzug befindet, aber noch nicht endgültig zerstört ist. Ursache für diesen Rückzug sind nicht nur die "Realfaktoren", die Michael Müller nennt, sondern vor allem die erfolgreiche neoliberale "Bewußtseins-Konterrevolution" und die Kapitulation der Linken in den intellektuellen Diskursen.
Das Zurückweichen des "Rheinischen Kapitalismus" vor dem neoamerikanischen Modell hatte schon 1992 Michel Albert in seinem Buch "Kapitalismus contra Kapitalismus" prognostiziert. Diese Tendenz verwunderte ihn, da ja - wie er empirisch belegte - das "rheinische Modell " dem "neoamerikanischen" nicht nur auf sozialem, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiet deutlich überlegen ist. Die Ursache für die Paradoxie, dass ein sozial und ökonomisch effizienteres System durch ein weniger leistungsfähiges Modell zurückgedrängt wird, sieht er darin, dass "die grundsätzlichen Gedanken und Werte, die ihm (dem rheinischen Modell des Sozialstaats) vorangehen, weitgehend ignoriert oder bestritten werden". Mit anderen Worten, das geistige Fundament des Demokratischen Sozialismus, auf dem der europäische Sozialstaat errichtet wurde und auf dem er erneuert und bewahrt werden könnte, ist morsch geworden und verschwunden.
Natürlich ist es fatal für die Zukunftschancen des Sozialstaates, dass sein geistiges Fundament verschüttet wurde. Aber wirklich bedrohlich ist es, dass auch die Restlinke darin kein Problem sieht und nicht erkennt: Ohne Wiederherstellung dieses Fundaments bestehen keine Chancen, praktisch-politische Forderungen für soziale Gerechtigkeit mehrheitsfähig zu machen und durchzusetzen. Wenn die aktuellen Bemühungen, auch den traditionsreichen Namen zu tilgen, den dieses geistige Fundament einst trug, nicht große intellektuelle Anstrengungen provozieren, den Begriff Demokratischer Sozialismus wieder mit orientierenden und motivierenden Inhalten zu füllen, dann sollten sich alle Sozialdemokraten ehrlicherweise dem Ansinnen des Generalsekretärs beugen. Doch kein theoretisches Positionspapier, keine Göttinger oder Herforder Thesen, sondern nur ein langfristig angelegter Diskussions-, Erkenntnis- und Lernprozeß kann den Demokratischen Sozialismus wieder zu einem intellektuellen und damit auch politischen Machtfaktor gegen die neoliberale Hegemonie machen.

Dr. Horst Heimann, lebt in Dortmund, Mitglied im Vorstand der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e. V.

aus spw 133, Oktober/November 2003