Marxistische Soziologie: Thomas Neumann gestorben

Zu kreativ für Parteibürokraten

Thomas Neumanns stiller Tod, fast ohne Echo innerhalb der Linken, erinnert an die Vergangenheit eines sozialdemokratischen Bundespräsidenten, aber auch an Schwächen und Versäumnisse der deutschen Linken, insbesondere deren Unvermögen, sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen jenseits alter Parteidoktrinen produktiv auseinanderzusetzen.

Im Suhrkamp-Verlag, dem intellektuell führenden Verlag der westdeutschen Linken, erschienen im Jahr nach der ’68er Revolte "Thesen zur Kritik der Soziologie", die als Sprengsatz im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb wirkten und eine ganze Generation systemkritisch beeinflußte. Zu den Autoren, überwiegend Nachwuchswissenschaftler der Universität Münster, gehörte der 1937 in Weimar geborene Neumann, der damals noch die gerade "neukonstituierte" DKP von links kritisierte. Anfang der 70er trat er ihr bei.

Seine Dissertation ("summa cum laude" bei - für heutige Verhälnisse - "nur" 98 Seiten; das 1968 erschienene Buch war auch eine intellektuelle Reise zwischen Stuttgart und Weimar: "Der Künstler in der bürgerlichen Gesellschaft / Entwurf einer Kunstsoziologie am Beispiel der Künstlerästhetik Friedrich Schillers") erhielt einen Preis der Uni Münster, mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde seine Habilitation gefördert, aber 1973 verwehrte ihm NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau wegen seines DKP-Engagements die vonseiten der Universität einstimmig erfolgte Berufung zum Professor. "Die Partei" fing das Berufsverbotopfer auf: Er wurde Referent für Hochschulpolitik beim Parteivorstand, später stellvertretender Chefredakteur, aber faktisch Chef des Bündnisorgans "Deutsche Volkszeitung" (aus der DVZ ging das heutige Wochenblatt "Freitag" hervor). Aber trotz beruflicher Abhängigkeiten blieb Neumann unkorrumpierbar und ergriff das Wort, als die nach Eurokommunismusdebatte und Biermann-Ausbürgerung nicht enden wollenden innerparteilichen Auseinandersetzungen in der DKP ihren Höhepunkt erreichten: 1984 gründete er u.a. mit dem Dichter Peter Maiwald, ebenfalls DKP-Mitglied, die Zeitschrift "Düsseldorfer Debatte - Zeitschrift für Politik, Kunst, Wissenschaft". Die Zeitschrift eröffnete mit Neumanns Aufsatz "Ein ruhiges Land", in dem er die Bundesrepublik in heute noch lesenswerter Weise skizzierte, der "hielt kein lehrbuch der politischen Ökonomie stand": Von den 13 Millionen integrierten Flüchtlingen über die Zahl der Studenten, die jener der Landwirte überstieg, was "keinen Bauernaufstand, aber eine Studentenrevolte" auslöste, über frühe "Frontaufnahmen" des politischen Establishments, lange vor Belgrad und Kundus ("Geißler mit Machete in Salvador; Todenhöfer auf Kriegspfad in Afghanistan; Strauß im Helikopter über Grenada") bis zur nationale Frage und "linke Leute von rechts" ("Nationalrevolutionäre vom Schlag Henning Eichbergs").

Alle drei "Düsseldorfer Debatte"-Herausgeber bekamen sogleich Parteiausschlussverfahren; Neumann kam einer Parteistrafe durch Austritt zuvor. Den Aderlaß nahm die DKP in Kauf - u.a. verließen daraufhin Schriftsteller wie Gerd Fuchs und Uwe Timm die Partei. Schon 1983 hatte man Franz Sommerfeld, den einstigen DKP-Studentunktionär F. Hutzfeld, als Chefredakteur zur DVZ delegiert, da Neumann auf Irrwege geraten war und die DDR und die DKP kritisierte. Der wendige Sommerfeld, der damals für ideologische Ordnung zu sorgen hatte, ist heutzutage Chef der "Kölner Stadtanzeigers".

Neumann schlug sich nach seinem DKP-Austritt als Publizist durch, veröffentlichte mit seinem Münsteraner Gefährten Professor Hans Jürgen Krysmanski, dem trotz DKP-Verbundenheit die Berufung zum marxistischen Soziologieprofessor geglückt war, im Wendejahr 1989 im Rowohlt-Verlag die Studie "Gruppenbild - Deutsche Eliten im 20. Jahrhundert", 1991 erschien sein Rowohlt-Taschenbuch "Die Maßnahme - Eine Herrschaftsgeschichte der SED". Seit 1992 wirkte Neumann am Hamburger Institut für Sozialforschung, dem durch die Wehrmachtsausstellung bekannt gewordenen "Reemtsma-Institut", als Redakteur der Zeitschrift "Mittelweg 36". Am 13. März 2002 starb der verdrängte und vergessene linke Intellektuelle unerwartet bei einer Operation im 65. Lebensjahr. Auch in seiner Heimatstadt Weimar, in der jahrzehntelang der in DKP-Kreisen so genannte "reale Sozialismus" geherrscht hatte, nahm davon keiner Notiz.