Von gleichen Rechten in ungleicher Lage

Das Ende September verkündete Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem Gegenstand eines gemeinsam: So wie beim Kopftuch im Unterricht gilt auch für den Richterspruch, ...

... dass man sich über seine Signalwirkung nicht recht einigen kann. Zur Enttäuschung vieler entscheidet das Urteil bekanntlich nicht über die grundsätzliche Zulässigkeit des Kopftuchs in der Schule, sondern delegiert die Suche nach "einem allen Seiten zumutbaren Kompromiss"1 zurück an die Länder. Ob man das Verhalten der Verfassungshüter als salomonische Zurückhaltung versteht, ob man darin eine sachangemessene Absage an die zunehmende Verrechtlichung genuin politischer Fragen erkennt oder ob man es schlicht "feige" nennt, ist Sache der Interpretation, die nicht nur dem Kopftuch, sondern auch dem Kopftuchurteil erst seine Bedeutung verleiht.
Viele Kommentare haben sich in den vergangenen Wochen um eine solche Interpretation bemüht und bei aller Enttäuschung auch positive Aspekte des Urteils entdecken können. So habe der Richterspruch die Debatte zwar nicht beendet aber ihren Gegenstand neu verortet und ihr Thema präzisiert. In der Tat: Indem das Gericht deutlich gemacht hat, dass die Frage der religiösen Verbindlichkeit des Kopftuchs nicht entscheidend und die seiner symbolischen Bedeutung nicht entscheidbar ist2, hat es den Weg frei gemacht für die Konzentration der öffentlichen Debatte auf eine weitaus grundlegendere Problematik: das Verhältnis von Religion und Staat. Gefordert ist eine "Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule"3 und damit die Klärung des Selbstverständnisses einer Gesellschaft, die sich mit zunehmender religiöser Pluralität grundlegend gewandelt hat. Dass diese Aufgabe nicht per Richterspruch zu erledigen ist, sondern die Beteiligung all derjenigen verlangt, die diese Gesellschaft ausmachen, leuchtet durchaus ein: Über ihr Selbstverständnis muss sich eine Gesellschaft schon selbst verständigen. Dem Ergebnis dieses Verständigungsprozesses sind allerdings verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt, an die das Urteil ausdrücklich erinnert: Wie auch immer der noch zu findende Kompromiss in Sachen Kopftuch ausfallen wird, er muss dem "Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen sowohl in der Begründung als auch in der Praxis"4 entsprechen.
Was dieses Signal bedeuten könnte, haben insbesondere die Vertreter der christlichen Kirchen schnell erkannt und sich in ihren Kommentaren zum Kopftuchurteil denn auch eher zurückgehalten. Tatsächlich scheint nach der höchstrichterlichen Erinnerung an die verfassungsrechtlichen Grenzen der öffentlichen Kompromissbildung ein Kopftuchverbot nur mehr um den Preis einer generellen Verbannung religiöser Symbole aus den staatlichen Schulen durchsetzbar zu sein. Das muss man nicht bedauern. Es spricht sicher einiges dafür, eine strikte Grenze zwischen Religion und Staat zu ziehen und, wie manche meinen, in Zeiten zunehmender religiöser Pluralität noch einiges mehr als sonst. Ein generelles "Schulverbot" für alle religiösen Symbole scheint zudem den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu genügen: Entspräche eine solche strikte Trennung von Religion und Staat nicht am ehesten dem Gleichbehandlungsgebot, eben weil sie die verschiedenen Glaubensbekenntnisse dem gleichen Recht und damit auch denselben Pflichten unterstellte? Die Antwort auf diese oft nur noch in rhetorischer Absicht geäußerte Frage lautet meiner Ansicht nach: "Das ist nicht so. Das sieht nur so aus."5 Wer meint, dem Gleichbehandlungsgebot wäre bereits Genüge getan, wenn man neben dem Kopftuch auch alle anderen Symbole verbietet, erliegt einem Trugschluss bzw. einem Verständnis von Gleichbehandlung, das wenn nicht falsch, so doch zumindest verfehlt ist, weil es sowohl die Zeichen der Zeit als auch den "Geist" des Gleichheitsideals verkennt.
Das Gleichbehandlungsgebot ist bekanntlich nicht als ein Verbot jeglicher Ungleichbehandlung von Personen zu verstehen. Es beinhaltet keineswegs die Forderung, alle Bürger eines Staates seien unter allen Umständen und in jeder Hinsicht gleich zu behandeln, sondern verlangt lediglich, dass "niemand [...] wegen [Hervorhebung d. Verf.] seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden"6darf. Wer aus Gründen der Neutralität das Kopftuch in der Schule verbieten will, darf demnach weder Kruzifix noch Kipa zulassen, da er sich sonst den Vorwurf der Diskriminierung gefallen lassen müsste. Dieser Interpretation zufolge scheint das Gleichbehandlungsgebot als Diskriminierungsverbot die formal gleiche Anwendung von gegenüber den verschiedenen Glaubensbekenntnissen neutralen, für alle jeweils Betroffenen gleichermaßen verbindlichen Regeln zu gebieten.
Dass dieses Verständnis des Gleichheitsgedankens verkürzt ist, weiß man in der Bundesrepublik spätestens seit den Auseinandersetzungen um die Gleichbehandlung der Geschlechter. Schon damals behaupteten manche, dass die Verfassung in Sachen Gleichheit mehr verlangt als bloß die formal gleiche Anwendung neutral formulierter Rechtsregeln. So schien doch mehr als fraglich, ob etwa Vorschriften wie eine auf das Geschlecht nicht achtende für Männer wie Frauen gleichermaßen verbindliche Verfügung, die es Feuerwehrleuten untersagte, zwischen den einzelnen Löscheinsätzen zu stillen, vor dem Gleichheitsgebot Bestand haben könnte. Auch wenn sie alle Beteiligten ohne Rücksicht auf das Geschlecht denselben Pflichten unterstellte, legte sie manchen Lasten auf, die die anderen nicht zu tragen hatten - und die in dieser Weise Belasteten waren in wenig überraschender Weise ausnahmslos weiblichen Geschlechts. Die auf primäre Diskriminierungen verzichtenden Vorschriften hatten also nichtsdestotrotz so genannte sekundäre Diskriminierungen zur Folge, insofern sie in der Praxis zwangsläufig zur Benachteiligung von (manchen) Frauen führten.
Die damalige Gleichstellungsdebatte machte damit auf ein Phänomen aufmerksam, das in der heutigen Auseinandersetzung um ein generelles "Symbolverbot" erneut sichtbar wird und in der Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts ausdrücklich Erwähnung findet. Dort heißt es, dass eine generelle Verbotsregelung "Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit unterschiedlich intensiv [betrifft], je nachdem, ob sie die Befolgung bestimmter Bekleidungssitten als zur Ausübung ihrer Religion gehörig ansehen oder nicht. Dementsprechend hat sie besondere Ausschlusswirkungen für bestimmte Gruppen."7 Die formal-rechtliche Gleichbehandlung von Personen ist daher nicht immer ausreichend, um das verfassungsrechtliche Gebot zu erfüllen, dass "niemandem [...] aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen [darf]"8, und sie ist es insbesondere dann nicht, wenn sich die Betroffenen infolge ihrer Bekenntniszugehörigkeit in regelungsrelevanter Hinsicht unterscheiden.9 In solchen Fällen wirkt sie der Verwirklichung substantieller Chancengleichheit vielmehr entgegen und führt mindestens tendenziell zur Benachteiligung der Angehörigen von Minderheiten, das heißt von Gruppen, die in den entsprechenden Regelungsbereichen - sei dies nun die städtische Feuerwehr oder der staatliche Schuldienst - in der Minderzahl sind und an der Gestaltung der in diesen Bereichen allgemeinverbindlichen Regeln aus unterschiedlichen Gründen nicht beteiligt waren. Die Parallele zwischen den Frauen damals und den kopftuchtragenden Muslima heute ergibt sich denn auch nicht zufällig, sondern verweist auf ein grundsätzliches Problem. Die fehlende Beteiligung der Minderheiten in den entsprechenden Bereichen führt nicht selten zu einer mangelnden Berücksichtigung der minderheitsspezifischen Interessen in den Strukturen des jeweiligen Berufszweiges, was wiederum zur Folge hat, dass deren Interessen mit den allgemeinen Dienstpflichten oft nicht oder nur sehr schwer vereinbar sind. Das Ergebnis sind jene sekundären Diskriminierungen, die als Ausdruck einer strukturellen Benachteiligung zu verstehen sind und der Intention des Gleichbehandlungsgebot zuwiderlaufen. Auch dieses Phänomen ist altbekannt und in Zeiten zunehmender kultureller und religiöser Differenz aktueller denn je. "Das Grundgesetz in die Zeit stellen", heißt darum auch zu bedenken, dass jede Entscheidung über das Verhältnis von Religion und Staat auch das Verhältnis eines Staates zu seinen Minderheiten betrifft.
Das zwischen Mehrheit und Minderheit bestehende Ungleichheitsverhältnis bezieht sich jedoch nicht nur auf die in mancher Hinsicht ungleiche Interessenlage, sondern betrifft auch und vielleicht vor allem die ungleiche "Machtlage" zwischen den Gruppen, denn die Macht liegt in demokratischen Rechtsstaaten bekanntlich letztlich bei der Mehrheit. Dass die meisten, und möglicherweise auch die meisten Minderheitsangehörigen diesen Umstand begrüßen, hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass alle Alternativen weniger wünschenswert erscheinen und sich zudem die wenigsten mit ihren Anliegen notorisch in der Minderheit befinden. Es liegt zweifellos auch daran, dass jeder Bürger und jede Bürgerin in einem demokratischen Rechtsstaat weiß, dass ihre fundamentalsten Interessen einen von Mehrheitsentscheidungen gänzlich unabhängigen Schutz genießen. Eben darin besteht die wesentliche Funktion der Grundrechte, die der gesellschaftlichen Gesamtnutzenkalkulation Grenzen setzen und dafür sorgen, dass etwa das individuelle Recht auf Religionsfreiheit auch dann garantiert ist, wenn der Einzelne keine Mehrheit findet, die seinen Glauben teilt. Dass eben dies gleichermaßen für das Recht jedes Individuums gilt, nicht gegen seinen Willen den Symbolen eines bestimmten Glaubens ausgesetzt zu werden, macht deutlich, warum am Ende der Debatte um das Verhältnis von Religion und Staat tatsächlich nur ein Kompromiss stehen kann, also "eine Einigung auf der Grundlage gegenseitiger Zugeständnisse."
Bleibt die Frage ob das hier skizzierte substantielle Gleichheitsverständnis angesichts der vielfältigen Differenzen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der unterschiedlichen religiösen und kulturellen Gruppen einer Gesellschaft mehr als eine kritische, an die besondere Situation von Minderheiten mahnende Funktion haben kann. Wird es bei allem Bemühen um Chancengleichheit nicht immer jemanden geben, der durch die geltenden Regeln aufgrund seines Geschlechts, seiner Herkunft, seiner Sprache und Glaubenszugehörigkeit effektiv benachteiligt ist? Ja, ergäbe sich nicht dasselbe Problem, wenn man das Kopftuch in der Schule zuließe und damit in Kauf nähme, dass eine solche Regelung gegebenenfalls höchst unterschiedliche Folgen für die einzelnen Schülerinnen und Schüler hätte? Und ist unter dieser Bedingung ein generelles Religionsverbot in staatlichen Schulen nicht immerhin besser als nichts und in jedem Fall der derzeitigen Praxis vorzuziehen, die eine offensichtliche Bevorzugung christlicher Bekenntnisse bedeutet? Dafür scheint tatsächlich einiges zu sprechen - allerdings nicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das nämlich hat den Weg für ein singuläres Kopftuchverbot durch den mehr als deutlichen Hinweis geöffnet, dass bei der Entscheidungsfindung in den einzelnen Ländern "auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen".10 Es braucht kein sonderlich gutes Gehör, um dieses Signal zu vernehmen, das jedes Bekenntnis zum Gleichbehandlungsgebot übertönt und damit wirkungslos macht. Wer dem Verweis auf Traditionen und die Bevölkerungsstruktur mit Blick auf die Gestaltung des Verhältnisses von Religion und Staat legitimatorische Kraft verleiht, stellt letztlich den Schutz der Grundrechte von Minderheitsangehörigen zur Disposition von Mehrheitsentscheiden. In einer solchen Situation kann die Erinnerung an die ungleiche Lage und die gleichen Rechte von Minderheiten meiner Ansicht nach nicht deutlich genug ausfallen.

1 B. II.4.dd). Der vollständige Text der Urteilsbegründung, dem die Zitate entnommen sind, findet sich
unter www.bverfg.de/entscheidungen/rs20030603_2bvr143602.html.
2 Vgl. B.II.4.a).
3 Leitsatz 2.
4 B.II.3.
5 So die Worte, mit denen der Vorsitzende Verfassungsrichter vor der Urteilsbegründung eilig den Ein
druck korrigierte, Frau Ludin habe "in der Sache obsiegt".
6 Art. 4 Abs. 3 GG.
7 B.II.6.bb).
8 Art. 33 Abs. 3 GG.
9 Vgl. Susanne Boshammer, Gruppen, Rechte, Gerechtigkeit. Die moralische Begründung der Rechte von Minderheiten, Berlin, New York 2003.
10 B.II.4.dd).