Kampf um die Linksorientierung des Juso-Verbandes

offener Brief Juso-Linke Rheinland

Juso-Linke Rheinland beendet die Strömungskooperation mit den Juso-Linken im Westlichen Westfalen, in Bremen und Braunschweig

Liebe GenossInnen,

um handlungsfähig zu sein, ist eine politische Strömung auf ein gewisses Maß an Übereinkunft in der weltanschaulichen Orientierung, den der gesellschaftlichen Analyse zugrundeliegenden Theorien sowie der politischen Praxis angewiesen. Notwendig zur Überprüfung dieser Übereinkunft ist zum einen der Ausweis der eigenen Positionen sowie zum anderen deren Vergleich mit den Positionen der anderen Strömungsteile. Exemplarisch seien nachfolgend zunächst einige unserer Positionen ausgewiesen:

A) Positionen der Juso-Linken Rheinland

Einschätzung des Kapitalismus: Wandel und Konstanten

Die kapitalistische Produktionsweise muss als dialektische Einheit von systemeigener Dynamik und Systemkonstanten untersucht werden. Eine Analyse des modernen Kapitalismus hat in der Tat zu berücksichtigen, dass die sektorale Gliederung der Volkswirtschaften, das Verhältnis von Real- zu Finanzkapital, die Strukturen der gesellschaftlichen Wertschöpfung, die Formen der Arbeitsorganisation und die Anforderungsprofile an den gesellschaftlichen Gesamtarbeiter einem Wandel unterliegen, den zu unterschlagen fatal wäre.

Diese Analyse muss allerdings auch berücksichtigen, dass der Grundwiderspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung auch im modernen Kapitalismus nicht überwunden ist. Disproportionen zwischen der Konsum- und Investitionsgüterabteilung, Tendenzen zur Überakkumulation von Kapital sowie Diskrepanzen zwischen Produktion und Realisierung von Mehrwert sind auch heute noch Ursachen für krisenhafte Entwicklungen des kapitalistischen Reproduktionszusammenhangs. Dies hat z.B. zuletzt der Absturz vieler Unternehmen der sog. "New Economy" gezeigt. SozialistInnen haben die Aufgabe, nicht nur auf die Fortschrittsoptionen, sondern eben auch auf diese destruktiven Potentiale des Kapitalismus hinzuweisen.

Der Kapitalismus zeichnet sich nicht nur durch Privilegierung des Kapitals gegenüber der Arbeiterklasse, sondern zugleich auch durch die Dominanz der Kapitallogik über alle Menschen aus. Die Festigkeit dieser Dominanz resultiert auch aus dem Fetischcharakter der Ware, der gesellschaftliche Herrschaftsbeziehungen verschleiert, dem Kapitalismus den Schein ewiger, unbeeinflussbarer Gültigkeit verleiht und gesellschaftliche Potentiale verdeckt. Das objektive Interesse an progressiven gesellschaftlichen Veränderungen ist indes bei der Klasse der lohnabhängig Beschäftigten aufgrund ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln der Gesellschaft als Nichteigentümer am stärksten ausgeprägt. Ein progressive Politik muss daher verstärkt an den Interessen der Klasse der lohnabhängig Beschäftigten ansetzen. Eine klassenorientierte Konzeption muss jedoch aufgrund der verschleierten Verhältnisse sowohl die objektiven Interessen der Menschen in den Blick nehmen und hierüber aufklären als auch zur Entfaltung gesellschaftlichen Veränderungspotentials jene Momente gesellschaftlicher Entwicklung berücksichtigen, die nicht direkt der objektiven Klassenlage entspringen, wie etwa die Vielfalt der Arbeits- und Lebensweise und der soziokulturellen Strukturen.

Wir Jusos dürfen nicht unter Ausklammerung der Klassenverhältnisse nur Jugendpolitik betreiben. Unsere Politik muss sich auf alle gesellschaftlich relevanten Felder beziehen. Selbstverständlich ist es wichtig, für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensperspektiven von Jugendlichen zu kämpfen. Wenn wir Jugendliche ansprechen und für unsere Ideen zu gewinnen versuchen, müssen wir jedoch auch herausstellen, dass jung zu sein alleine kein Kriterium für gesellschaftliche Positionierung ist, sondern dass die Kämpfe für Bildung, Ausbildung, Arbeit und Zukunftsfähigkeit vor dem Hintergrund einer Klassengesellschaft stattfinden. Die Entscheidung darüber, wie eine bessere zukünftige Gesellschaft aussehen wird, bestimmt sich zu großem Maße darüber, inwieweit Jugendliche selbst Einsicht in diese gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen und zu TrägerInnen von gesellschaftlicher Veränderung werden.

Staatsverständnis

Es wäre falsch, anzunehmen, dass der Staat von selbst fortschrittliche linke Positionen durchsetzt. Umgekehrt wäre es aber ebenso falsch, wenn die Linke aus dem Einfluss des Kapitals auf den Staat schlussfolgerte, sie selbst hätte auf ihn gar keinen Einfluss. Denn die konkrete Aufgabenzuschreibung der öffentlichen Hand ist immer ein Ergebnis des Klassenkampfes und bietet insofern Gestaltungsmöglichkeiten. Hieraus folgt, dass SozialistInnen um die Richtung und die Aufgaben des Staates kämpfen müssen, ohne jedoch der Illusion zu verfallen, der Staat sei ein gegen Kapitaleinflüsse immuner Raum für linke Wunschkonzerte.

Die dialektische Grundfigur, dass sich die neue Gesellschaft im Schoße der alten entwickelt, legt im Hinblick auf Veränderungen der Wirtschaftsordnung die Anreicherung des marktwirtschaftlichen Systems durch öffentliche Interventionen nahe. Die Frage des Umfanges und der Reichweite öffentlicher Dienstleistungen dreht sich letztlich um den Grundkonflikt zwischen Profit und Gemeinnützigkeit. Bei privaten Dienstleistungen und Unternehmen ist das wichtigste Kriterium jenes der Profitmaximierung. Bei Angeboten der öffentlichen Hand spielen hingegen politische Ziele und Kriterien potentiell eine wesentliche Rolle, wie etwa kostengünstige Nutzungsmöglichkeiten für ärmere Bevölkerungsteile, flächendeckende Erledigung gemeindlicher Aufgaben, bessere Arbeitsbedingungen und höhere tarifliche Entlohnung der Beschäftigten, Steigerung des Beschäftigungsgrades etc.

SozialistInnen müssen um die Richtung staatlicher Politik kämpfen und den Staat demokratisieren. Sie dürfen Aufweichungen öffentlich kontrollierter Bereiche durch Maßnahmen wie z.B. "public private partnership" nicht unterstützen, sondern müssen sich vielmehr für mehr öffentlichen Einfluss in den Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einsetzen. Dies umfasst zwar auch, aber beileibe nicht ausschließlich den zweifelsohne sinnvollen Bereich öffentlich geförderter Maßnahmen. Auch ein kundenfreundlicher öffentlicher Dienst ist von hoher Bedeutung für öffentliche Interventionen. Folglich müssen SozialistInnen den Verheißungen, die als Folge von Privatisierungen sowohl von konservativer wie auch von alternativ-libertärer Seite beschworen werden, konsequent entgegentreten. Denn Privatisierung ist immer auch mit desaströsen Folgen für die BürgerInnen, die Beschäftigten und die politische Handlungsfähigkeit der Kommunen, der Länder und des Bundes verbunden.

Aufgaben linker Wirtschaftspolitik

Wir bestreiten nicht die Notwendigkeit von Innovations-, Struktur- und Qualifikationspolitik. Kern sozialistischer Politik muss es u.E. aber auch in Zukunft sein, die Aneignung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums sowie die Art und Höhe staatlicher Ausgaben in den Blick zu nehmen.

Primäreinkommenserhöhungen, staatliche Umverteilung von hohen zu niedrigen Einkommen, Erhöhungen von Sozialleistungen und mehr staatliche Investitionen befürworten wir nicht nur zwecks Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, sondern auch, weil wir wissen, dass die Anhäufung von Reichtum in den Händen weniger, die Konsumschwäche breiter Bevölkerungsschichten sowie die hieraus folgende mangelnde Realinvestitionsbereitschaft des Kapitals Ursachen von Disproportionen zwischen den Abteilungen und Überakkumulation, schließlich von Realisationsproblemen, Produktionseinschränkungen und Arbeitslosigkeit sind.

Wir sind der Meinung, dass eine gleichmäßigere Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung besser durch Stärkung der Gewerkschaften und Maßnahmen staatlicher Umverteilung als durch eine von manchen Jusos geforderte Fondsökonomie erreicht werden kann. Aus beschäftigungspolitischer Sicht bestreiten wir die Behauptung, die Trennung in Nachfrage- und Angebotspolitik sei banal. Vielmehr sind wir der Auffassung, dass nach vielen Jahren der Vernachlässigung der Bedeutung der Endnachfrage dieses Aggregat wieder verstärkt Gegenstand politischer Maßnahmen werden muss, um Beschäftigungszuwachs zu erwirken.

Soziale Sicherungssysteme

Der Sozialstaat muss mit seinen Sozialversicherungssystemen die großen Lebensrisiken absichern. Die sozialen Sicherungssysteme müssen dabei auf einem "neuen Normalarbeitsverhältnis" basieren, das Diskontinuitäten und Flexibilitätsbedarfe der Erwerbsbiografien als Regelfall zu Grunde legt.

Wir sind jedoch der Meinung, dass eine solche sozialstaatliche Aufgabe durch kapitalgedeckte Sicherungssysteme nicht bewerkstelligt werden kann. Vielmehr sprechen wir uns auf Basis umlagefinanzierter Systeme für einen umverteilenden Sozialstaat in öffentlicher Verwaltung aus, der die paritätische Finanzierung der Sozialversicherungssysteme durch Unternehmen und ArbeitnehmerInnen wiederherstellen und seine Finanzierungsbasis durch Ausweitung der Versicherungspflicht auf Selbständige und FreiberuflerInnen, die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe und die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen erweitern muss.

Langfristige Perspektive

Die Fähigkeit, über das Hier und Jetzt hinaus politische Konzepte zu entwerfen, ist eine notwendige Voraussetzung für menschlichen Fortschritt. Demokratie und Sozialstaat entstanden nicht naturwüchsig aus einem absichtslos verlaufenden geschichtlichen Mechanismus, sondern sind Resultat vorausschauenden Denkens und des politischen Kampfes um die Realisierung einer möglichen zukünftigen Gesellschaftsordnung.

Weil wir wissen, dass Reformen für mehr soziale Gerechtigkeit und Umverteilung zwar notwendig, aber für ein wahrhaftig menschenwürdiges Leben nicht ausreichend sind, kämpfen wir weiterhin für eine sozialistische Gesellschaft der Selbstbestimmung in Solidarität, deren Voraussetzung es ist, die freie Entwicklung eines jeden als Bedingung für die freie Entwicklung aller zu begreifen. Wir setzen uns für die Befreiung aller Menschen von Ausbeutung und Unterdrückung, die Durchsetzung von Gleichheit und Freiheit sowie Demokratie in allen Lebensbereichen ein. Vergesellschaftung von Unternehmen, Investitionslenkung, Arbeiterselbstverwaltung sowie Wirtschaftsplanung durch öffentliche Verwaltungsstellen bleiben daher für uns wichtige Aufgaben einer zukünftigen Gesellschaftsordnung.

Kampf für eine Linksverschiebung der SPD

Für uns ist klar, dass trotz des momentan desaströsen Erscheinungsbildes der SPD eine soziale, ökologische und demokratische Erneuerung der Gesellschaft ohne die Sozialdemokratie kaum möglich ist. Es gilt daher um die SPD zu kämpfen. Die Aufgabe einer Verbindung von gesellschaftlicher Partizipation, persönlicher Emanzipation und sozialer Sicherheit als Kernpunkte sozialdemokratischer Identität kann jedoch von der SPD nur dann bewältigt werden, wenn die SozialistInnen dabei eine vorwärtstreibende Rolle einnehmen.

SozialistInnen müssen innerhalb der Partei deutlich wahrnehmbar für ihre eigenen Positionen eintreten. Dies ist ein harter Weg, der nicht nur Erfolge, sondern auch viele Niederlagen zutage bringen wird. Versammeln sich SozialistInnen jedoch opportunistisch hinter modernistischen Positionen ohne linke Perspektive, ist der Kampf schon von vornherein verloren. Von der Parteispitze forcierte Projekte wie das Netzwerk 2010, dessen Positionen den unsrigen diametral entgegen stehen, sind daher inhaltlich zu attackieren.

B) Für eine saubere Trennung

Wir stellen fest, dass die oben angeführten Positionen von den Juso-Linken in den Bezirken Westliches Westfalen, Bremen und Braunschweig zu einem Großteil nicht mehr geteilt werden. Die Differenzen zu unseren Positionen sind mal größer, mal kleiner. Mal betreffen sie die grundsätzliche Orientierung, mal Einschätzungen bestimmter Details. Jedenfalls sind wir der Auffassung, dass das Maß an Übereinkunft, welches notwendig ist, um als Strömung handlungsfähig zu sein, zwischen den Juso-Linken im Rheinland einerseits und den Juso-Linken im Westlichen Westfalen, in Bremen und Braunschweig andererseits nicht mehr gegeben ist.

Wir wollen jedoch nicht verhehlen, dass neben inhaltlichen Differenzen auch Probleme im Umgang miteinander die weitere Zusammenarbeit zunehmend erschwert haben. So mussten wir beim letzten Juso-Bundeskongress feststellen, dass Loyalität und Respekt - für Strömungsarbeit unerlässlich - von manchen GenossInnen unserer bisherigen Partnerbezirke nicht immer in ausreichendem Maße beherzigt wurden.

Aus diesen Gründen haben wir uns als Juso-Linke Rheinland dazu entschlossen, die strömungsbezogene Zusammenarbeit mit den Juso-Linken in den Bezirken Westliches Westfalen, Bremen und Braunschweig aufzugeben. Inhaltliche und personalpolitische Loyalität kann folglich in Zukunft nicht mehr vorausgesetzt werden. Wir werden respektvoll miteinander umgehen und uns auf gleicher Augenhöhe für eine Linksorientierung des Verbandes einsetzen, aber eben nicht mehr grundsätzlich im selben Boot sitzend.

C) Kampf um die Linksorientierung des Juso-Verbandes

Wir Juso-Linken Rheinland werden die von uns bereits in der Vergangenheit gesuchte Zusammenarbeit mit uns inhaltlich nahe stehenden sozialistischen Verbandsteilen jenseits der Juso-Linken fortsetzen und intensivieren. Wir versprechen uns hiervon notwendige linke Impulse für den Juso-Verband.

Darüber hinaus gilt: Die Linksorientierung des Juso-Verbandes ist letztlich auf die Anstrengungen aller Verbandsteile angewiesen, die hinter der Linkswende von 1969 stehen. Diese Verbandsteile werden in Zukunft verstärkt kooperieren müssen, um die Jusos inhaltlich und strategisch auf klarem Kurs zu halten. Wir sind zu dieser Kooperation, auch quer zu Bündnissen oder Strömungen, bereit.

Mit sozialistischen Grüßen,

Alexander Recht, Christina Stiegen, Christoph Vietzke für die Juso-Linke Rheinland (frühere Juso-Linke Mittelrhein)