Vollbeschäftigung,Solidarität und nachhaltige Entwicklung in Europa

Alte Herausforderungen, neue Chancen für Wirtschaftspolitik

Memorandum europäischer Ökonominnen und Ökonomen

Inhalt

1. Einleitung: Gefährliche finanzielle Unsicherheit, aber bessere Aussichten für eine neue Wirtschaftspolitik

2. Sofortmaßnahmen für mehr Beschäftigung, finanzielle Stabilität und nachhaltiges Wachstum in Europa

    2.1 Europäische Beschäftigungspolitik

    a) Festsetzung eines allgemeinen Beschäftigungsziels

    b) Koordinierung nationaler Politiken zur Steigerung der Beschäftigung

    c) Initiativen auf europäischer Ebene

    2.2 Schutz gegen finanzielle Erschütterungen

    2.3 Der europäische Beitrag zu einer stabilen Weltwirtschaft

3. Eine umfassende Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in Europa - Für eine europäische Sozialverfassung

    3.1 Gesamtwirtschaftliche Neuorientierung: Der Weg zur Vollbeschäftigung

      a) Wirtschaftspolitik: Breitere Ziele und engere Kooperation

      b) Geldpolitik: Einbettung der Europäischen Zentralbank in die Gesamtstrategie

      c) Fiskalpolitik: Erweiterung der Optionen und Ausweitung der Einkommensbasis

    3.2 Eine Sozialverfassung für Europa - Kernstück des neuen Paradigma

    3.3 Für ökologische Nachhaltigkeit: Erhaltung der Grundlagen für die Entwicklung

    3.4 Stärkere Unterstützung für den Erweiterungsprozeß: Eine umfassende Ordnung des Friedens, der Freiheit und des sozialen Fortschritts ist erneut auf der historischen Tagesordnung in Europa

    3.5 Demokratische Beteiligung in Europa - Herausforderungen und Perspektiven

1. Einleitung: Gefährliche finanzielle Unsicherheiten, aber bessere Aussichten eine neue Wirtschaftspolitik

In den letzten zwei Jahren war die wirtschaftliche und soziale Situation in Europa durch zwei sehr unterschiedliche Entwicklungen gekennzeichnet. Beide stellen eine Herausforderung für das vorherrschende Muster neoliberaler Wirtschaftstheorie und -politik dar. Beide bieten auch eine Perspektive für neue Wege zu mehr Beschäftigung und Wohlstand in Europa.

Erstens haben die tiefen Finanzkrisen in Asien und Rußland mit ihren weltweiten Ansteckungseffekten es zunehmend deutlich gemacht, daß die Struktur des globalen Finanzsystems gegenwärtig eine Bedrohung für Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung in den meisten Teilen der Welt darstellt und einer gründlichen Reform bedarf - obwohl es Unternehmen und eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen gibt, die von der gegenwärtigen Situation profitieren. Die europäische Wirtschaft ist bislang weniger betroffen gewesen als die der USA. Aber auch in Europa gefährden der tiefe Fall der Aktienkurse und die Verluste auf den internationalen Kreditmärkten die finanzielle Stabilität und daher auch Wachstum und Beschäftigung - und dies in einer Situation bereits unerträglich hoher Arbeitslosigkeit. Die offensichtliche Brüchigkeit des internationalen Finanzsystems hat sogar konservative Regierungen und internationale Institutionen veranlaßt, nach Reformen zu rufen.

Zweitens hat in den meisten Mitgliedsländern während der letzten Jahre eine bemerkenswerte Veränderung der öffentlichen Diskussion und der politischen Kräfteverhältnisse stattgefunden. Der einförmig neoliberale Geist, das Einheitsdenken, in dessen Rahmen der Vertrag von Maastricht und der Stabilitäts- und Wachstumspakt geschlossen worden waren, ist unter wachsende Kritik gekommen. Beide haben keine soliden theoretischen Begründungen, und ihre Anwendungen rufen die Gefahr einer Deflationsspirale mit ruinösen Folgen für die Gesamtwirtschaft und noch ruinöseren sozialen Konsequenzen hervor. Diese Folgen haben zu Protest, Widerstand und sozialen Bewegungen gegen die neoliberale Politik geführt. Innerhalb weniger Jahre sind die meisten konservativen Regierungen in der EU abgewählt worden, und sozialdemokratische Parteien oder Mitte-Links-Koalitionen haben die Regierung übernommen. Die Niederlage der konservativen Regierung in Deutschland beseitigt ein wesentliches Hindernis für Veränderungen. Die Chancen für neue Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik in Europa sind besser als je zuvor seit den frühen siebziger Jahren.

Allerdings gibt es nach wie vor erhebliche Hindernisse für diesen Erneuerungsprozeß. Zunächst ist da die Erbschaft der letzten 20 Jahre: Diese Jahrzehnte haben die Position des Finanzkapitals gegenüber dem Industriekapital und des Kapitals gegenüber der Arbeit gestärkt und haben das Rechts- und soziale Klima verschlechtert: Sozialabbau und Marginalisierung, Verminderung des Arbeitsschutzes usw. Zweitens haben auch neoliberale Dogmen, wie zum Beispiel das von der Notwendigkeit, die Wirtschaftspolitik den Anforderungen angeblich unbegrenzter Globalisierung unterzuordnen, der Hang zu Privatisierungen als Selbstzweck und die unbeschränkte Marktkonkurrenz, während der letzten beiden Jahrzehnte auch in erheblichem Maß Einzug in sozial-demokratische Konzepte von Wirtschaftspolitik gehalten. Drittens stößt ein radikaler Wechsel der Wirtschaftspolitik auf den machtvollen Widerstand von Seiten derer, die von neoliberaler Politik profitieren. Daher garantieren weder die Finanzkrisen noch die neuen Regierungen gründliche und nachhaltige Veränderungen in der Politik; diese erfordern vielmehr große politische Energie und anhaltende Unterstützung von sozialen Bewegungen.

Andererseits können bestimmte Maßnahmen unmittelbar ergriffen werden. Sie können zu einer erheblichen Verbesserung der Beschäftigungssituation in der EU führen; sie können Europa besser gegenüber Schocks und Erschütterungen von außen schützen; und sie können verhindern, daß das internationale Finanzsystem weitere und tiefere wirtschaftliche und soziale Krisen verursacht.

Wir sind europäische Wirtschaftswissenschaftler, die bestrebt sind, auf der Grundlage von Frieden und Freiheit die Ziele Vollbeschäftigung, die Entwicklung des Sozialstaates zu einer festen und verläßlichen europäischen Verfassung und kooperative und gerechte internationale Wirtschaftsbeziehungen zu verfolgen. Aus dieser Perspektive versuchen wir auf den folgenden Seiten:

1. Vorschläge für Sofortmaßnahmen zu formulieren, die die EU ergreifen kann, um Arbeitslosigkeit und finanzielle Instabilität zu bekämpfen und eine weltweite Deflationsspirale zu verhindern;

2. unser Grundkonzept für eine umfassende und langfristige Neuorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu umreißen, die Vollbeschäftigung, sozialen Zusammenhang, nachhaltige Entwicklung und Gerechtigkeit in Europa erreichen soll.

2. Sofortmaßnahmen für mehr Beschäftigung, finanzielle Stabilität und nachhaltiges Wachstum in Europa

2.1 Europäische Beschäftigungspolitik

Die wichtigste Maßnahme, die die EU ergreifen sollte, um aus der sozialen und wirtschaftlichen Sackgasse herauszukommen, ist eine umfassende Beschäftigungspolitik. Das neue Beschäftigungskapitel im Vertrag von Amsterdam und die im Dezember 1997 verabschiedeten beschäftigungspolitischen Leitlinien für 1998 haben - einigermaßen zaghaft - die Tür für eine solche Politik geöffnet. Eine angemessene und koordinierte Durchführung fehlt jedoch nach wie vor. Zwar bedeutet es einen Schritt nach vorne, daß jedes Mitgliedsland nationale Aktionspläne für Beschäftigung aufzustellen und vorzulegen hat, aber die Inhalte der meisten Aktionspläne bewegen sich im wesentlichen innerhalb der Grenzen angebotsorientierter Arbeitsmarktpolitik und bleiben damit weit hinter den Anforderungen für eine wesentliche und wirksame Beschäftigungspolitik zurück, die unter den gegenwärtigen Umständen auf einer gemeinsamen expansiven gesamtwirtschaftlichen Strategie beruhen muß. Sogar die unzureichenden Zielsetzungen für die Arbeitsmarktpolitik, die der Beschäftigungsgipfel aufgestellt hatte, sind nicht erfüllt worden. Schlimmer noch, der Entwurf für die beschäftigungspolitischen Leitlinien für 1999 hat keine Fortschritte in Richtung auf breitere und verbindlichere gesamtwirtschaftliche Verpflichtungen für die Mitgliedsländer gebracht, sondern ist auf demselben Niveau allgemeiner und unverbindlicher arbeitsmarktpolitischer Absichtserklärungen geblieben.

a) Festsetzung allgemeiner
Beschäftigungsziele

Um diesen Stillstand zu überwinden, sollte der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister (Ecofin) klare quantitative Ziele festsetzen, die zu ihrer Durchführung betriebenen nationalen Politiken beobachten und Ländern mit besonderen Schwierigkeiten helfen. In den letzten Jahren ist es ja eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden, daß Regierungen, die sich auf präzise Ziele festgelegt haben, außerordentliche Anstrengungen unternehmen können und Wege finden, um die Ziele zu erreichen. Wir fordern, daß ähnliche Energie darauf verwendet wird, die präzisen Beschäftigungsziele zu erreichen, statt die öffentliche Neuverschuldung zu vermindern.

Als ein allgemeines Ziel schlagen wir die Verminderung der Arbeitslosigkeit um 50 Prozent in drei Jahren oder - um bessere Möglichkeiten für kurzfristige Überprüfung und Einschätzung zu geben - um 20 Prozent pro Jahr in den nächsten drei Jahren vor (was sich auf eine Gesamtreduktion von 49 Prozent belaufen würde). Dieses Ziel sollte durch ebenfalls quantifizierte Unterziele bezüglich verschiedener Gruppen von Arbeitslosen ergänzt werden, und es sollte mit Vorrang in die Leitlinien für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft integriert werden, die vom Rat jedes Jahr aufgestellt und als Empfehlungen verabschiedet werden sollen (Art. 103 des Vertrags von Maastricht). Ebenso sollten diese Ziele in den beschäftigungspolitischen Richtlinien für 1999 verankert werden, die in diesem Dezember in Wien verabschiedet werden sollen.

Die EU kann unverzüglich zwei Wege gehen, um dieses vorgeschlagene Ziel zu erreichen.

b) Koordinierung nationaler Beschäftigungspolitiken zur Steigerung der Beschäftigung

In erster Linie kommt es darauf an, expansive nationale Beschäftigungspolitiken eng zu koordinieren, wobei diese Politiken auf die konkreten und unterschiedlichen nationalen Prioritäten und Bedürfnisse Rücksicht nehmen müssen. Es gibt zwei Gründe für diese Notwendigkeit:

Erstens: Das Haupthindernis für mehr Wachstum und Beschäftigung ist unzureichende inländische Endnachfrage (das heißt privater und öffentlicher Konsum und autonome Investition), wohingegen Angebotsfaktoren wie Löhne, Steuern und/oder nationale Regulierungen eine untergeordnete Rolle spielen. Politiken mit dem Ziel der Verminderung von Arbeitslosigkeit müssen daher in erster Linie eine Vermehrung der europäischen Inlandsnachfrage herbeiführen. Es muß inländische Nachfrage sein, weil der Versuch, die allgemeine Nachfrage über wachsende Ausfuhrüberschüsse hervorzubringen, zu Handelsdefiziten in anderen Ländern und langfristig zu größeren internationalen Ungleichgewichten führen würde. Die Konzentration auf die Binnennachfrage schafft darüber hinaus bessere Möglichkeiten für einen eigenständigen Entwicklungsweg, der auch die Ausdehnung öffentlicher Dienstleistungen mit einschließt.

Zweitens: Koordinierung auf europäischer Ebene ist wesentlich für jede Strategie der Ankurbelung der Binnennachfrage in Europa. Jedes Mitgliedsland ist eine offene Wirtschaft mit einem hohen Grad von Abhängigkeit von den Exportmärkten (mehrheitlich denen anderer Mitgliedsländer), aber die EU insgesamt ist durch eine sehr viel geringere Abhängigkeit vom Rest der Welt gekennzeichnet. Nationale Alleingänge sind extrem schwierig, weil die Multiplikatorwirkungen einer expansiven Politik zu einem sehr hohen Grad von den internationalen Märkten absorbiert werden und sich im Falle widersprüchlicher Politiken gegenseitig neutralisieren. Im Falle koordinierter expansiver Anstrengungen werden die Verluste jedoch viel geringer und die Multiplikator- und daher die Nachfrage, Produktions- und Beschäftigungseffekte sehr viel höher sein.

Es gibt verschiedene Instrumente nationaler Beschäftigungspolitik, die in einer umfassenden Strategie kombiniert werden sollten:

- Öffentliche Investitionsprogramme in Bereichen besonderer Bedürfnisse, z.B. industrielle Infrastrukturen in weniger entwickelten Gebieten und Ländern, ökologische Sanierung und Umbaumaßnahmen in den großen städtischen Agglomerationsgebieten, Telekommunikation und ökologisch-verträgliche Verkehrsinfrastruktur, erneuerbare Energiesysteme (1 Million-Sonnendächer-Projekt) ebenso wie Investitionen in das Humankapital.

- Ausdehnung der öffentlichen Dienstleistungen und Schaffung von Arbeitsplätzen in neuen öffentlich finanzierten Beschäftigungsbereichen, z.B. lokale und Nachbarschafts-Dienstleistungen (Haushaltshilfen, Beratung und Unterstützung für Menschen mit besonderen Schwierigkeiten, Freizeit- und kulturelle Angebote, Umweltschutz im Rahmen der lokalen ,,Agenda 21" usw.). Die EU schätzte in ihrem Weißbuch von 1993, daß in diesen Bereichen ungefähr 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in der Gemeinschaft geschaffen werden können. Natürlich sollten derartige Arbeitsplätze dem Ausbildungsniveau und den Fähigkeiten der Beschäftigten entsprechen, und sie müssen freiwillig und regulär bezahlt sein.

- Zielgenaue und quantifizierte Arbeits- und Beschäftigungsprogramme für besondere Gruppen wie Jugendliche, Ältere oder Langzeitarbeitslose, Behinderte usw.; dieses Programm sollte dem erfolgreichen französischen Programm ,,Arbeit für die Jungen" vergleichbar sein.

- Verschiedene und zielgenaue Formen der Arbeitszeitverkürzung wie z.B. die Verminderung der wöchentlichen, monatlichen und jährlichen Arbeitszeit, sabbaticals und Elternurlaub, reguläre Teilzeitarbeit und Job-Sharing-Programme, eine bessere Trennung von Arbeitszeit und Maschinenlaufzeit in den Fabriken und anderen Unternehmen.

- Besondere Programme zur Verbesserung der Grund- und Berufsausbildung und Weiterbildung, um die Qualität der Arbeitskraft angesichts steigender Geschäftsanforderungen zu verbessern und den Anpassungsbedürfnissen von Langzeitarbeitslosen zu entsprechen.

Die Mitgliedsländer sollten die Möglichkeit haben, die öffentlichen Defizite soweit zu steigern, wie es notwendig ist, um ihre Beschäftigungsziele zu erreichen. Das betrifft nicht nur die Finanzierung antizyklischer Maßnahmen, sondern auch langfristige Investitionen in die Infrastruktur. Die Beschränkungen im Vertrag von Maastricht und im Stabilitäts- und Wachstumspakt, die langfristig abzuschaffen sind, sollten in gegenseitiger Übereinstimmung kurzfristig ausgesetzt werden.

c) Initiativen auf europäischer Ebene

Der zweite Weg einer europäischen Beschäftigungspolitik ist eine Beschäftigungsinitiative auf europäischer Ebene. Eine solche Initiative war von der Kommission in ihrem Weißbuch von 1993 formuliert worden, indem ein Investitionsvolumen von 574 Mill. ECU (für sechs Jahre) für den Aufbau und die Verbesserung transeuropäischer Netze im Bereich der Energieversorgung, der Telekommunikation, des Verkehrs und des Umweltschutzes vorgeschlagen worden war. Die Kommission schlug vor, dieses Programm teilweise - man muß sagen zu einem sehr geringen Teil - aus dem EU-Haushalt und durch europäische Anleihen zu finanzieren, die durch die europäische Investitionsbank aufgelegt werden sollten. Diese letzte Idee greifen wir auf und empfehlen, daß die EIB 50 Mill. ECU auf den Kapitalmärkten aufnehmen und für die Initiierung und Förderung europäischer Investitions- und Beschäftigungsprogramme verwenden sollte, durch die die europäische Infrastruktur in einer ökologisch nachhaltigen Weise verbessert wird. Damit berücksichtigen wir auch die Kritik an dem ökologisch schädlichen Charakter einiger der Vorschläge im Weißbuch.

Der Rückgriff auf die EIB ist solange notwendig, wie der Haushalt der EU bei weitem zu klein ist, um wirksame Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung auf europäischer Ebene zu gestatten. Man sollte auch in Betracht ziehen, ein europäisches Beschäftigungsprogramm teilweise durch die Überschußreserven der nationalen Zentralbanken zu finanzieren, die mit der Entstehung der europäischen Zentralbank freigesetzt werden. Schon vor einer - unvermeidlichen - gründlichen Reform der Finanzstruktur der EU können die verfügbaren Mittel durch die Einführung einer Devisentransaktionssteuer und einer Ökosteuer auf den Energieverbrauch erhöht werden, wie sie schon früher im Ministerrat diskutiert, aber nicht verabschiedet worden sind. Diese beiden Steuern würden die Steuereinnahmen der Mitgliedsländer nicht verringern, und sie würden es ermöglichen, den EU-Haushalt beinahe sofort auf 2 Prozent des EU-BIP zu erhöhen und so einigen finanziellen Spielraum zur Unterstützung der wichtigsten Aufgaben zu schaffen. Sie signalisieren auch die Richtung, in die eine zukünftige umfassende Neuorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik gehen sollte.

Der gegenwärtige Zustand der Geldpolitik in Europa stellt ein besonderes Hindernis für eine schnelle Neuorientierung der Wirtschaftspolitik dar. Der Zustand vollständiger politischer Unabhängigkeit und die Konzeption der Politik der europäischen Zentralbank als ausschließliche Antiinflationspolitik sind dysfunktional für die Förderung von Wachstum und Beschäftigung, und sie widersprechen den Grundprinzipien der Demokratie, die fordern, daß die Menschen die Kontrolle über einen der wichtigsten Bestimmungsgründe ihres Wohlstands haben sollten. Allerdings kann die rigide Politik der Europäischen Zentralbank schon innerhalb des vorherrschenden institutionellen und gesetzlichen Rahmens in Frage gestellt und mehr politische Kooperation gefordert werden. Es gibt Spielraum für eine weniger enge Definition von Inflationszielen. Darüber hinaus erkennt auch der Präsident der Europäischen Zentralbank an, daß es gegenwärtig keine Inflation in der Europäischen Union gibt und daß in absehbarer Zukunft keine Gefahr neuer Inflation besteht. Schließlich sind die offiziellen Inflationsangaben mit aller Wahrscheinlichkeit erhebliche Überschätzungen der echten Inflation, weil die Statistiker Verbesserungen der Produkte nicht ausreichend berücksichtigen. Unter diesen Umständen gilt für die Europäische Zentralbank die Bestimmung: ,,Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft ....." (Art. 105 Abs. 1 S. 2).

2.2 Schutz gegen finanzielle Erschütterungen

Die Verwundbarkeit des internationalen Finanzsystems hat bislang nur mäßige Wirkungen für die europäische Wirtschaft gehabt, obwohl die Wachstumsprognosen nach unten revidiert werden mußten. Dies kann sich aber ändern, und die Gefahr einer ernsthafteren Ansteckung ist noch nicht vorbei. Unter diesen Umständen kann die Währungsunion ein stabilisierender Faktor sein. Allerdings wird sie dies nicht automatisch werden. Es bedarf der Übereinstimmung und Verabredung einer Koordinierung der Währungs- und Kreditpolitiken zwischen den führenden Staaten, das heißt den USA, der EU und Japan, mit dem Ziel, Beschäftigung und nachhaltiges Wachstum zu fördern.

Wenn die beste Lösung einer globalen Zusammenarbeit in kurzer Frist nicht erreichbar ist, mußt die EU sich gegen die Drohung finanzieller Erschütterung mit schädlichen Folgen für Beschäftigung und Lebensstandard schützen. Zu diesem Zwecke schlagen wir die folgenden Maßnahmen vor, sowohl als Schutzmaßnahmen der EU wie auch zur gleichen Zeit als Schritte in Richtung auf eine engere globale Koordinierung und die Errichtung eines neuen weltweiten Finanzsystems.

- Die Einführung einer Steuer von 1 Prozent auf alle (Kassa- und Termin-) Devisentransaktionen. Eine solche Steuer, die gegenwärtig weltweit als ein Instrument im Kampf gegen finanzielle Instabilität diskutiert wird, kann kurzfristige Kapitalflüsse abschrecken, die auf kleine Änderungen der Wechselkurse innerhalb einer kurzen Zeit setzen (und sie würde der EU erhebliche Einnahmen bringen).

- Gemeinsame europäische und so schnell wie möglich globale Regeln für die Hinterlegung von Sicherheiten bei Währungsderivaten aller Art.

- Fundamentalen Währungsspekulationen kann mit einer notwendigerweise niedrigen Transaktionssteuer nicht angemessen begegnet werden. Das Risiko darf nicht gering geschätzt werden, daß der Übergang zum EURO von einer erheblichen kurzfristigen Wechselkursinstabilität zwischen Dollar und EURO begleitet sein wird, und die EU sollte darauf vorbereitet sein, mit diesen Risiken umzugehen. Wenn spekulative Kapitalflüsse von dritten Ländern oder Kapitalfluß in dritte Länder für das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion gefährlich werden, kann die EU gemäß Artikel 59 alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um der Situation Herr zu werden. Dies schließt auch administrative Beschränkungen für Kapitalimporte oder -exporte ein, wenn auch nur für die begrenzte Zeit von sechs Monaten (die allerdings wiederholt werden kann). Die EU sollte es gegenüber der Finanzwelt unzweifelhaft klar machen, daß sie entschlossen ist, strikte Kapitalverkehrskontrollen zu verhängen, wenn dies notwendig sein sollte.

- Die EU kann und sollte sehr schnell Bestimmungen verabschieden, die die Geschäftstätigkeit von offshore-Zweigstellen oder -Tochtergesellschaften europäischer Finanzinstitutionen voll den Regeln und Bestimmungen ihrer Heimatländer und der EU unterwerfen. Dieses Ziel kann dadurch erreicht werden, daß die Zulassungen für Finanzinstitutionen von einer entsprechenden Verpflichtungen dieser Institutionen abhängig gemacht werden.

- Die Europäische Zentralbank sollte es klar machen, daß sie die Stabilität des europäischen Finanzsystems sichern und entsprechend handeln wird, notfalls auch als ,,lender of last resort". Aber die Europäische Zentralbank sollte gleichzeitig alles tun, um die in diesem Zusammenhang mögliche Vergesellschaftung privater Verluste zu verhindern, und sie sollte eine entschlossene Politik gegen das Fehlverhalten von Banken und anderen Finanzinstitutionen betreiben. In dieser Hinsicht hat die Federal Reserve Bank of New York ein bemerkenswertes Beispiel gegeben, indem sie die Rettungsaktion für den in spekulative Katastrophen geratenen Long Term Capital Management (LTCM) Spekulationsfonds zwar organisierte, aber dafür sorgte, daß die privaten Banken hierfür zahlen mußten.

2.3 Der europäische Beitrag zu einer stabilen Weltwirschaft

Es ist offensichtlich, daß eine wirtschaftliche Region von der Größe und Bedeutung der EU eine besondere Verantwortung für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung wirtschaftlicher und finanzieller Stabilität auf globaler Ebene trägt. Die EU sollte diese Verantwortung akzeptieren und entsprechend handeln. Die Maßnahmen zur Stimulierung von nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung in Europa und zum Schutz des europäischen finanziellen Systems gegen externe Schocks sollten ebenfalls die Notwendigkeit einer ökonomischen Stabilisierung und der Förderung von Entwicklung und Wohlstand in anderen Teilen der Welt berücksichtigen, insbesondere in unterentwickelten Ländern.

Diese Maßnahmen sollten auch durch eine enge Zusammenarbeit und Koordinierung mit den USA und Japan beim Management der internationalen Wechselkurse und des Zahlungssystems ergänzt werden, einschließlich möglicherweise der Einführung von Wechselkurszielzonen mit verbindlichen Zusagen für Marktinterventionen und ggf. entdramatisierten Wechselkursanpassungen.

Hinsichtlich der Beziehungen zu den Ländern der Dritten Welt ist der spezifische und vergleichsweise fortschrittliche Ansatz des ersten und zweiten Lomé-Abkommens während der letzten zehn Jahre schrittweise aufgegeben worden und steht in Gefahr, mit dem nächsten Abkommen, das im Jahre 2000 fällig ist, komplett zu verschwinden. Der ursprüngliche fortschrittliche Ansatz sollte wieder aufgenommen und als Leitlinie für die Förderung der Entwicklung in den AKP-Ländern genutzt werden.

3. Eine umfassende Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in Europa -
Für eine europäische Sozialverfassung

Wir betrachten die im vorangegangenen Kapitel vorgeschlagenen Maßnahmen als erste Schritte in einem Prozeß vollständiger Veränderung der Wirtschaftspolitik mit Richtung auf einen neuen Typ der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. In ihrer historischen Bedeutung ist diese Veränderung vergleichbar mit der Etablierung der Nachkriegsordnung von Bretton Woods und ihrer allseits akzeptierten wirtschaftspolitischen Priorität für Vollbeschäftigung und Wachstum im Rahmen eines kooperativen internationalen Regelwerkes. In negativer Hinsicht ist die anstehende Veränderung vergleichbar mit der schrittweisen Ersetzung dieser Nachkriegsordnung durch das neoliberale Paradigma unbegrenzter Herrschaft der Märkte und zügelloser internationaler Konkurrenz, die in der Unterordnung aller wirtschaftlichen und sozialen Ansprüche unserer Gesellschaft unter den obersten Imperativ internationaler Wettbewerbsfähigkeit mündete. Die ruinösen Folgen der Herrschaft des Neoliberalismus während der letzten beiden Jahrzehnte haben aber auch das Feld für einen neuen grundlegenden Wechsel und die Entwicklung eines neuen Paradigmas vorbereitet, das ausdrückliche, individuelle und kollektive Wohlfahrtsziele ebenso wie die übergreifenden Werte der Solidarität, der Gerechtigkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit umfaßt. Wenn dies mehr als ein Wechsel in Worten und bei einzelnen Instrumenten sein soll, erfordert das einen vollständigen Umbau der gesamten institutionellen Struktur der EU und Europas, der weit über die Wirtschaft hinaus geht und die weitergehenden Probleme sozialer Emanzipation und Demokratie umfaßt. Auch in der Wirtschaft ist dieser Paradigmenwechsel nicht ohne eine breite und intensive öffentliche Debatte möglich, da der letztendliche Zweck der Wirtschaft, nämlich die Verbesserung des Wohlstands der Menschen, in den Vordergrund bringt und in einer solchen Weise konkretisiert, daß wesentliche Richtungen benannt und Kernentscheidungen in einer demokratischen Weise getroffen werden können, was Information und Kompetenz erfordert. Märkte müssen in den Zusammenhang dieser Entscheidungen eingebunden werden und können dann ein möglicherweise effizientes Instrument zur Erfüllung von Wohlfahrtszielen sein, die Märkte selber nie definieren können. Wenn Märkte nicht zu befriedigenden Ergebnissen führen, müssen andere Formen wirtschaftlicher Tätigkeit und Koordinierung durchgesetzt werden. Es ist offensichtlich, daß Veränderungen in diese Richtung aus zwei Gründen eine intensive öffentliche Debatte erfordern: Erstens kann der Widerstand derer, die von der gegenwärtigen Situation profitieren, nur durch politische und soziale Bewegungen überwunden werden. Zweitens erfordert die Konkretisierung wesentlicher ökonomischer und sozialer Grundentscheidungen die kontinuierliche Beteiligung und Debatte, die die Substanz ökonomischer Demokratie ist.

Im folgenden versuchen wir, wesentliche Elemente eines alternativen Typs der wirtschaftlichen Entwicklung und der Wirtschaftspolitik zu definieren und damit einen Beitrag zu einer solchen demokratischen Debatte zu leisten.

3.1 Gesamtwirtschaftliche
Neuorientierung: Auf dem Weg zur Vollbeschäftigung

Europa muß endlich das enorme Problem der Massenarbeitslosigkeit und der Nichtauslastung der produktiven Möglichkeiten lösen, ein Problem, das nun seit vielen Jahren besteht. Es hat schwerwiegende Nebenwirkungen erzeugt wie Langzeitarbeitslosigkeit, schlechtere Perspektiven für die jüngere Generation, soziale Marginalisierung und große Verschlechterung der Gesundheits- und der sozialen Situation. Wir kritisieren diese Entwicklung in erster Linie aus Gründen der Gerechtigkeit. Millionen von Bürgern konnten keine Arbeit finden und wurden insofern daran gehindert, ihren Lebensstandard und ihre Unabhängigkeit auf ihre eigene Arbeit zu gründen; stattdessen sind sie von den Möglichkeiten und Herausforderungen der persönlichen Entwicklung und Erweiterung ihrer Fähigkeiten abgeschnitten worden.

Während wir zugestehen, daß es externe Faktoren gegeben hat, die zu dem Aufbau der Arbeitslosigkeit geführt haben, bestehen wir nichtsdestoweniger darauf, daß die Hauptverantwortung für das Ausmaß und die Dauer der Massenarbeitslosigkeit in der EU bei einer kontraproduktiven und schädlichen Wirtschaftspolitik liegt, die mehr als eine Generation lang durch Regierungen und Finanzminister betrieben wurde und durch mächtige Interessengruppen und neoliberale politische und wissenschaftliche Berater unterstützt wurde. Das Ergebnis ist das gegenwärtige gesamtwirtschaftliche Regime der EU, das in einer zentralisierten und sehr rigiden Geldpolitik, in engen Beschränkungen für die europäischen und nationalen Fiskalpolitiken und in einer Abwesenheit jeglicher koordinierter Fiskalpolitik oder wirksamer gemeinschaftsweiter Beschäftigungsstrategie besteht. Eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik muß ein besseres Gleichgewicht zwischen diesen drei Handlungsgebieten herstellen und sie mit einem umfassenderen Inhalt füllen, wobei der Akzent auf der Beschäftigung liegen muß. Diese Veränderungen müssen auch in neuen institutionellen Orientierungen zum Ausdruck kommen.

a) Wirtschaftspolitik: Breite Ziele und engere Kooperation

Die Ziele der Wirtschaftspolitik sollten erweitert werden und Vollbeschäftigung, ökologisch verträgliche Entwicklung, eine faire und gerechte Verteilung des Einkommens und des Vermögens, gleichgewichtige internationale Beziehungen und Preisstabilität umfassen (während die soziale Sicherheit und Wohlfahrt Ziele der europäischen Sozialpolitik sein sollten). Es sollte verbindlich werden, daß in kurzer und mittlerer Frist konkrete Zwischenziele hinsichtlich dieser Orientierungen auf nationaler und europäischer Ebene formuliert werden. Solche Zwischenziele können z.B. die Verminderung der Arbeitslosigkeit um 20 Prozent pro Jahr, die jährliche Verminderung regionaler Disparitäten um 10 Prozent und die Absenkung der Treibhausgasemissionen um 15 Prozent bis zum Jahr 2005 sein.

Auf der institutionellen Seite sollte die Verantwortung für makroökonomische Planung und Koordinierung auf der europäischen Ebene in einer wirtschaftspolitischen Institution gebündelt werden, die als Ansprechpartner und Gegenpart zu der zentralisierten Europäischen Zentralbank agieren kann.

Die Verfahren der Koordinierung, die zu den allgemeinen Richtlinien führen, sollten intensiviert und verbindlicher für die Mitgliedsländer gemacht werden, was die Verabschiedung wirtschaftspolitischer Richtlinien einschließen kann. Die Koordinierung sollte in einer intensiven Überprüfung und Diskussion der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedsländer im Hinblick auf die gemeinsamen Ziele erfolgen. Wo die Ziele verfehlt werden, sollte der Rat angemessene Hilfsmaßnahmen diskutieren und Empfehlungen in diese Richtung gegenüber den Mitgliedsstaaten aussprechen. Im Falle schwerwiegender und anhaltender Verletzungen der verabredeten Zwischenziele kann der Rat Entscheidungen treffen, die die nationalen Regierungen verpflichten, in einer den gemeinsamen Zielen angemesseneren Weise zu handeln.

b) Geldpolitik: Einbindung der Europäischen Zentralbank in die Gesamtstrategie

Wir schlagen vor, die Ziele der Europäischen Zentralbank so zu erweitern, daß sie die Verantwortung der Geldpolitik für Vollbeschäftigung, die Verminderung von Ungleichheiten und nachhaltiges Wachstum umfassen. Allgemein gesprochen sollte die Zentralbank, ungeachtet der Unabhängigkeit bei der Wahl geldpolitischer Instrumente, in den Prozeß der wirtschaftspolitischen Entscheidungen eingebettet werden und den demokratischen Institutionen rechenschaftspflichtig gemacht werden. Das heißt, Geldpolitik sollte im vorhinein und im nachhinein gründlich zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Zentralbank diskutiert werden. Das strikte Verbot der Notenbankfinanzierung nationaler oder europäischer Verschuldung sollte gelockert werden, und die Rolle des lender of last resort sollte ausdrücklich in den Aufgabenkatalog des europäischen Systems der Zentralbanken aufgenommen werden - allerdings sollte es Einschränkungen geben, die darauf abzielen, verantwortungsloses Verhalten durch Finanzinstitutionen zu verhindern.

c) Fiskalpolitik: Erweiterung der Optionen und eine breitere Einkommensbasis

Erstens sollten die disfunktionalen Beschränkungen für die öffentlichen Defizite der Mitgliedsstaaten aufgegeben werden und sollte den nationalen Regierungen erlaubt sein, die für notwendig gehaltenen Defizite einzugehen, solange sie den gemeinsamen Zielen entsprechen. In diesem Zusammenhang sollten die geplanten und tatsächlich aufgelaufenen Defizite diskutiert und zwischen den Mitgliedsländern innerhalb der europäischen wirtschaftspolitischen Institutionen koordiniert werden.

Zweitens sollte die EU insgesamt die Möglichkeit erhalten, bestimmte zentrale Funktionen der Fiskalpolitik, die nationale Regierungen nicht erfüllen können, zu übernehmen: Sie sollte in der Lage sein, als ein stabilisierender Faktor im Falle asymmetrischer Schocks für einzelne Länder und Regionen tätig zu werden, und sie sollte auch redistributive Funktionen im Hinblick auf anhaltende Einkommens- oder Beschäftigungsunterschiede innerhalb der Union übernehmen. Langfristig ist es daher unvermeidlich, den Haushalt der Gemeinschaft über das 2 Prozent-Niveau hinaus anzuheben, das wir als Sofortmaßnahme vorgeschlagen hatten.

Drittens muß die EU ihre eigene Einkommensgrundlage vergrößern, um die wachsenden Ansprüche eines einheitlichen Europas zu erfüllen und um andauernde Konflikte über die Verteilung von Zahlungen und Empfang von Geld zwischen den Mitgliedsstaaten zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. Zusätzlich zu der kurzfristigen Einführung einer Devisentransaktionssteuer und einer Energieverbrauchs- oder CO2-Emissionssteuer schlagen wir deshalb vor, eine einheitliche Zinseinkommensteuer einzuführen, wie sie von der Kommission beabsichtigt ist, mit dem Unterschied, daß das Aufkommen direkt an die EU gehen sollte, dazu eine europäische Kapitalgewinnsteuer. Ganz langfristig würde es vermutlich vernünftig sein, die Einkommen der EU vollständig auf spezifisch-europäische Steuern zu basieren, was allerdings eine langfristige Umstrukturierung und Harmonisierung nationaler Steuersysteme erfordern würde.

Viertens sollten Maßnahmen gegen Steuerkonkurrenz zwischen verschiedenen Ländern ergriffen werden, weil Steuerkonkurrenz dazu tendiert, die nationale Einkommensbasis auszuhöhlen und die Wirtschaft zu destabilisieren. Erste Vorschläge der EU in dieser Richtung - die einheitliche Besteuerung der Zinseinkommen oder die Übermittlung der diesbezüglichen Informationen an die Steuerbehörden des Heimatlandes ausländischer Unternehmen - sollten aufgegriffen und erweitert werden. Allgemein sollte die Ideologie des Wettbewerbsföderalismus, die während des letzten Jahrzehnts viel Zulauf bei Wissenschaftlern und Politikern gefunden hat, zugunsten ökonomischer Stabilität, sozialen Zusammenhalts und Solidarität als Leitlinie für Finanzpolitik zurückgewiesen werden.

3.2 Eine Sozialverfassung für Europa: Kernstück des neuen Paradigma

Wir betrachten die feste Verpflichtung auf eine soziale Gesellschaft, eine Art sozialer Verfassung, als eins der wesentlichen Ziele der Europäischen Vereinigung. Eine solche Verfassung muß auf Vollbeschäftigung gegründet sein, allerdings weit darüber hinaus gehen und den Gebrauch und die Weiterentwicklung der produktiven Kräfte in unserer Gesellschaft umfassen. Sie muß ein weitreichendes und nichtbürokratisches Sozialsystem ebenso wie eine faire Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen sowie demokratische Strukturen und Beteiligung auf allen Ebenen der Gesellschaft gewährleisten. Während der letzten beiden Jahrzehnte sind wir mit einer erheblichen Schrumpfung des Wohlfahrtsstaates konfrontiert gewesen, sowohl wegen des Drucks der Konkurrenz als auch wegen der Unterordnung großer Teile des traditionellen Wohlfahrtssystems unter die Regeln des privaten Gewinns. Als Folge ist der verbliebene kleinere soziale Sektor zunehmend bürokratisch und autoritär geworden. Dieser Trend muß umgedreht werden.

Wir bestehen darauf, daß es keinen Konflikt zwischen Vollbeschäftigung und sozialer Wohlfahrt in dem Sinne gibt, daß Vollbeschäftigung nur um den Preis eines niedrigeren Niveaus von Einkommen, sozialer Sicherheit, Arbeitsschutz und anderer Teile der Lebensqualität zu haben ist, wie manche Entwicklungen in den USA zu suggerieren scheinen. Die Verbindung ist eher umgekehrt: Der volle Gebrauch der menschlichen Fähigkeiten, Kenntnisse und Kreativität schafft die Wohlstandsbasis, die eine beständige Verbesserung des materiellen Lebensstandards und der immateriellen Lebensqualität für alle erlaubt. Allerdings zeigen die Entwicklungen in den USA, daß mehr Wohlstand und höhere Einkommen keine automatischen Folgen von mehr Beschäftigung sind. Sie erfordern politische Maßnahmen und Steuerung.

Es hat beträchtlichen Fortschritt in der EU auf wenigen begrenzten Gebieten der Sozialpolitik gegeben, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit und Arbeitssicherheit. Insgesamt ist der Fortschritt jedoch weit unter den Ansprüchen der Charta der Sozialen Rechte von 1989 und der darauf folgenden europäischen Aktionsprogramme geblieben, und in vielen Ländern hat es regelrechten Rückschritt durch Sozialabbau, Deregulierung von Arbeitsbedingungen, die Kombination von weniger sozialer Sicherheit und mehr Zwang gegeben. Der neoliberale Fundamentalismus hat in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Realität ruinöse Ergebnisse produziert. Ein europäisches Sozialmodell zu etablieren, bedeutet, daß jede Person, die permanent in der EU lebt, das garantierte und bedingungslose Recht auf ein Einkommensniveau, auf ein Maß an sozialer Sicherheit und Wohlfahrt und auf demokratische Beteiligungsmöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben haben soll, die notwendig sind, um ein unabhängiges und würdiges Leben zu führen. Dieses Ziel sollte ein unerschütterlicher und zentraler Eckpunkt einer europäischen Verfassung werden.

Die gegenwärtige Unterschiedlichkeit der Löhne, der Sozialversicherung, der öffentlichen Sozialsysteme sowie der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Mitgliedsländern der EU schafft schwierige Probleme für die Verfolgung dieses Zieles. Dennoch gibt es Handlungsmöglichkeiten auf mindestens fünf verschiedenen Ebenen:

Erstens sollte die EU ein schrittweise steigendes Mindestniveau sozialer und Wohlfahrtsstandards in den meisten Bereichen der sozialen Sicherheit und Wohlfahrt schaffen.

Zweitens sollte die EU sich in großem Umfang in der Förderung und Finanzierung oder Kofinanzierung von Politiken für bestimmte Gruppen mit besonderen Bedürfnissen und Schwierigkeiten engagieren.

Drittens muß die EU erhebliche Einkommensübertragungen zur Minderung von Arbeitslosigkeit und zur Förderung wirtschaftlicher Entwicklung organisieren. Diese Transfers sollten an Menschen mit besonders niedrigem Wohlstandsniveau gehen, um eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage zu bewirken.

Viertens sollten alle Mitgliedsländer, um Sozialdumping und ein konkurrenzbedingtes Absenken bestehender Standards zu vermeiden, mindestens den gegenwärtigen Standard nationaler Regulierungen, die über den EU-Mindeststandards liegen, beibehalten und auf alle Personen, die in dem betreffenden Land leben, anwenden.

Fünftens: Jede Art unfreiwilliger oder Zwangsarbeit muß verboten werden. Regelungen hinsichtlich des Umfangs und der Flexibilität der Arbeitszeit sollten nicht einseitig durch die Arbeitgeber auferlegt werden, sondern auch den Wünschen und Bedürfnissen der Beschäftigten entsprechen.

3.3 Für ökologische Nachhaltigkeit: Erhaltung der Grundlagen für die Entwicklung

Umweltschutz ist ein Muß für das Überleben jeder Gesellschaft. Die Fortsetzung des energie- und abfallintensiven industriellen Musters der kapitalistischen Welt während des letzten Jahrhunderts würde zu einer Umweltkatastrophe führen und ist daher als Entwicklungsstrategie nicht gangbar. Der Gebrauch nicht erneuerbarer fossiler Energie und die Produktion schädlicher Abfälle muß während der nächsten Jahrzehnte drastisch vermindert werden. Selbst die verstärkte Ausbeutung natürlicher Rohstoffquellen in der Dritten Welt und der Müllexport in die Dritte Welt würden den Zusammenbruch des industriellen Entwicklungsmusters nur verschieben, und sie würden auf zunehmenden und sehr gerechtfertigten Widerstand dieser Länder stoßen.

In letzter Instanz erfordert der Wechsel von einem ökologisch zerstörerischen zu einem nachhaltigen Pfad der wirtschaftlichen Entwicklung einen gründlichen Umbau der Produktionsweise und der Verbrauchsmuster in Europa. Die höchste Priorität in einer Strategie für nachhaltige Entwicklung bezieht sich auf die Energie: Produktion und Verbrauch müssen auf niedrige Energieintensität umgestellt werden, die Energieversorgung muß sich von den fossilen und Nuklearenergien hinweg- und zum Gebrauch erneuerbarer und umweltfreundlicher Energiequellen hinbewegen. Dieser Umbau ist ein zeitraubender Prozeß, der nur in Jahrzehnten zu vollenden ist. Es ist jedoch wichtig, daß wesentliche Entscheidungen in diese Richtung schnell getroffen werden und daß der Weg für eine neue Energiepolitik geöffnet wird. Daher schlagen wir vor:

- Eine Ökosteuer auf alle Formen des Energieverbrauchs aus nuklearen und fossilen Quellen einzuführen. Die EU sollte ankündigen, daß der Satz dieser Steuer kontinuierlich um einen festen Prozentsatz in den nächsten Jahren gesteigert wird.

- Die schnelle Vergrößerung der Mittel für die Entwicklung und Anwendung neuer Energiequellen, insbesondere der Sonnenenergie. Es hat schon einige Bewegung in diese Richtung während der letzten Jahre gegeben, aber sie ist zu langsam, unzureichend und ungleich innerhalb der EU verlaufen. Wir stimmen mit dem Weißbuch von 1997 über erneuerbare Energiequellen überein, das fordert, als Zwischenziel den Anteil erneuerbarer Energiequellen von 6 auf 12 Prozent des allgemeinen Bruttoenergieverbrauches bis zum Jahre 2000 zu verdoppeln - was im übrigen auch die Schaffung von 500.000 bis 900.000 Arbeitsplätzen bedeuten würde.

- Das Einfrieren und die Verminderung der europäischen Forschung im Bereich der Nuklearenergie und verbindlich angekündigte und zuverlässige Zwischenziele für das Auslaufen der Atomkraftwerke innerhalb eines Zeitraums, der für verschiedene Länder je nach deren spezifischen Umständen bestimmt werden sollte.

Die EU kann und sollte in viel größerem Maße als in der Vergangenheit umweltfreundliche nationale und regionale Projekte zum Umbau der Verkehrssysteme ermutigen und fördern. Auf europäischer Ebene sollten solche Politiken durch spezielle Steuern für Flugbenzin und Lastkraftwagen ergänzt werden. Nationale und regionale Programme zur Mülleinsparung und zum Recycling können durch europäische Maßnahmen verstärkt werden. Gewöhnlich sind derartige Maßnahmen arbeitsintensiv, daher sollte ein größerer Anteil der insgesamt erheblich gewachsenen Strukturfonds für sie reserviert werden.

3.4 Mehr Unterstützung für den Erweiterungsprozeß: Eine umfassende Ordnung für Frieden, Freiheit und sozialen Fortschritt steht erneut auf der historischen Tagesordnung in Europa

Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die Schaffung einer umfassenden europäischen Ordnung für Frieden, Freiheit und sozialen Fortschritt erneut auf die historische Tagesordnung gesetzt worden. Demgegenüber macht der Beitritt der osteuropäischen Länder zur EU, der offiziell seit Beginn der neunziger Jahre anvisiert wird, nur ungenügende Fortschritte. Dies ist im wesentlichen auf die EU zurückzuführen, die zögert, den Erweiterungsprozeß voranzubringen. Die früheren sozialistischen Länder, die mit der EU assoziiert sind, haben ihre Wirtschaften mit großen wirtschaftlichen und sozialen Kosten angepaßt, während umgekehrt der Erweiterungsprozeß von Seiten der EU verzögert worden ist. Eine Fortsetzung dieser Strategie würde letztlich zu neuen scharfen Spaltungen und Polarisierungen zwischen Ost und West führen und politische Konflikte schaffen, die schwer zu kontrollieren sind. Daher sollte der Erweiterungsprozeß intensiviert werden:

In erster Linie erfordert dies, daß der Zeitplan für den Beitritt der ersten fünf Länder beibehalten und stärker durch vorbereitende Maßnahmen unterstützt werden soll, die auch mehr finanzielle Hilfen in der Form von Subventionen und niedrigverzinsten Krediten umfassen sollen. In diesem Zusammenhang sollte ein neuer Entwicklungsfonds eingerichtet werden, um wirksamer mit den Produktivitäts- und Einkommensunterschieden zwischen EU und den assoziierten Ländern fertig zu werden. Die Anwendung der Maastricht-Kriterien auf die makroökonomischen Größen der osteuropäischen Länder sollte aufgegeben werden. Die neu beitretenden Länder sollten Mitglieder eines neuen europäischen Währungssystems (EWS2) werden, in dem es feste, durch die Europäische Zentralbank gestützte, Wechselkurszonen geben sollte, die allerdings Spielraum für Wechselkursanpassungen im gegenseitigen Einvernehmen lassen.

Auf der Seite der gegenwärtigen EU muß der Prozeß der institutionellen Reformen - in Bezug auf die Größe und Struktur der Kommission, das Gewicht der einzelnen Länder im Entscheidungsprozeß, den Status und die Funktionen des Europäischen Parlaments und andere Fragen - fortgesetzt werden, um einen ordnungsgemäßen Erweiterungsprozeß und die Funktionsfähigkeit einer vergrößerten EU zu gewährleisten. Die Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, die vor ungefähr sechs oder sieben Jahren begann, sollte beschleunigt werden und den bevorstehenden Beitritt von neuen Mitgliedsländern mit großen landwirtschaftlichen Kapazitäten berücksichtigen. Auch sollte die EU in den Beitrittsverhandlungen großzügige und langfristige Übergangsausnahmeregelungen vom Rechtsbestand der Gemeinschaft gewähren. Auf der anderen Seite müssen im Hinblick auf die volle Integration der Arbeitsmärkte Übergangsregelungen ausgehandelt werden, um steigende Arbeitslosigkeit in den gegenwärtigen EU-Mitgliedsländern zu vermeiden.

Die Perspektive der Erweiterung reicht über die erste Runde der fünf Länder hinaus, mit denen gegenwärtig Verhandlungen geführt werden. Daher sollte die EU konkrete Kooperationsabkommen mit den osteuropäischen Ländern unter dem Dach der ständigen europäischen Konferenz anstreben. Schließlich sollte auch ein Verhaltenscodex verabschiedet werden, der die Tätigkeit multinationaler Gesellschaften regelt und die Verletzung sozialer Rechte sanktioniert.

3.5 Demokratische Beteiligung in Europa - Herausforderung und Perspektiven

Die Debatte über Demokratie in Europa und die Notwendigkeit eines demokratischen Umbaus der Europäischen Union ist infolge der sozialen Bewegungen und der politischen Veränderungen in den Mitgliedsländern erneut belebt worden. Als professionelle Ökonominnen und Ökonomen können wir die technischen und institutionellen Details für Vorschläge in diesen Gebieten nicht ausarbeiten. Wir bestehen jedoch darauf, daß demokratischer Umbau für den Erfolg der Europäischen Union wesentlich ist, wenn diese als eine Gemeinschaft von Völkern angesehen werden soll. Er ist auch für einen Erfolg der kurzfristigen und längerfristigen Wirtschaftspolitik erforderlich, die wir in den vorangegangenen Abschnitten vorgeschlagen haben. Denn derartige Vorschläge haben nur dann eine realistische Chance, ein Teil der politischen Programmatik von Regierungen und von der EU zu werden, wenn sie von sozialen Bewegungen aufgegriffen, übernommen und unterstützt werden und wenn diese sozialen Bewegungen Zugang zu Parlamenten und Regierungen erhalten. Die Neuorientierung der Wirtschaftspolitik in dem Sinne, den wir vorgeschlagen haben, ist keine Angelegenheit rein technischer und instrumenteller Verbesserungen, sondern erfordert eine umfassende Neuorientierung in Richtung auf soziale Ziele und Perspektiven, und dieser Neuorientierung wird durch mächtige Interessengruppen Widerstand entgegengesetzt werden, die von der gegenwärtigen Situation und Struktur profitieren. Um diesen Widerstand zu überwinden, ist politische Energie und aktive soziale Bewegung erforderlich. Je mehr Demokratie wir haben, umso besser sind die Aussichten für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik im Interesse der Mehrheit.

Mehr Demokratie in Europa erfordert auch institutionelle Reformen. In den letzten Jahren sind wir Zeugen einer wachsenden Kluft zwischen den europäischen Institutionen wie etwa der Kommission und des Europäischen Parlaments und den Bürgerinnen und Bürgern in den verschiedenen Ländern geworden. Es ist hinzuzufügen, daß diese Kluft die Legitimität nationaler Regierungen nicht vergrößert, sondern tendenziell schwächt, wenn die EU ein Hindernis für wirksame nationale Politik wird. Die Art, mit der die Währungsunion vorbereitet und eingeführt wurde, hat weitreichende Kritik, Skeptizismus und Feindseligkeit gegenüber einer Europäischen Union hervorgerufen, in der Sozialabbau, Deregulierung und andauernde Umverteilung von den Armen zu den Reichen mit dem Hinweis gerechtfertigt wurden, daß sie für die europäische Einheit notwendig seien. Wir stehen nun am Beginn einer Phase, in der der restriktive und schädliche Kurs der Wirtschaftspolitik geändert werden kann zugunsten einer mehr auf Beschäftigung und Wohlfahrt orientierten Linie. Das könnte auch eine solide Grundlage für eine stärker pro-europäische Haltung der Menschen werden. Ein vereinigtes Europa kann eine positive Rolle für die Menschen spielen, nicht als eine militärische und wirtschaftliche Supermacht, sondern als eine demokratische und friedliche Gemeinschaft, in der politische, soziale und Umweltrechte respektiert und verwirklicht werden.