EuGH hebelt Mitbestimmung aus

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom November 2002 könnte schwerwiegende Auswirkungen auf die deutsche Mitbestimmung im Arbeitsrecht haben. Auf einen Vorlagebeschluss...

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom November 2002 könnte schwerwiegende Auswirkungen auf die deutsche Mitbestimmung im Arbeitsrecht haben. Auf einen Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofes (BGH) hin entschied der EuGH, dass der "Überseering BV" die Rechtsfähigkeit und damit die volle Parteifähigkeit im Zivilprozessrecht zusteht. Es handelte sich um ein in den Niederlanden gegründetes Handelsunternehmen, das nach der Gründung seinen Verwaltungssitz nach Deutschland verlegt hatte, dort aber weiterhin als Gesellschaft in niederländischer Rechtsform bestand. Der EuGH sah in dem Erfordernis einer Neugründung nach deutschem Gesellschaftsrecht die in Artikel 43, 48 EG-Vertrag enthaltene unionsweite Niederlassungsfreiheit für Unternehmen unverhältnismäßig beeinträchtigt.
Die Tatsache, dass das nationale Rechtssystem derart Rücksicht auf multinational agierende Wirtschaftsunternehmen zu nehmen hat, wird aber nicht nur die in der Entscheidung des EuGH genannten prozessualen Folgen nach sich ziehen. Ausländische Unternehmen, die ihren Sitz nach Deutschland verlegen, dürften auch sonst wenig Interesse haben sich nach deutschen Gesellschaftsrecht zu richten. Eher im Gegenteil.
Neben der Tatsache, dass sich zukünftig Gläubiger schwerer tun werden ihre Forderungen gegen europaweit operierende Unternehmen durchzusetzen, besteht insbesondere die Gefahr, dass sich Unternehmen gezielt in einem Staat mit einem Arbeitsrecht gründen, das keine Beteiligung der Werktätigen an der Unternehmensführung vorsieht, um dann ihren Sitz nach Deutschland zu verlegen. Auf diese Weise würde ganz legal die unternehmerische Mitbestimmung ausgehebelt, die in Deutschland europaweit einzigartig geregelt ist: Nach dem Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) wird u.a. die paritätische Besetzung von Aufsichtsräten mit AnteilseignerInnen und ArbeitnehmerInnen vorgeschrieben; abhängig ist die Anwendbarkeit des MitbestG allerdings von der inländischen Rechtsform des Unternehmens. Wenn nun in Deutschland ein Unternehmen nichtdeutscher Rechtsform tätig ist, muss es sich nicht dem MitbestG unterwerfen. Das Gesellschaftsrecht wird so zu einem Produkt, das von Staaten angeboten und von GründerInnen nachgefragt wird. Ein Trost bleibt: Zumindest das Betriebsverfassungsgesetz orientiert sich nicht an der Rechtsform des Unternehmens, sondern an dessen tatsächlicher "Belegenheit", so dass die Gefahr der Abschaffung der betrieblichen Mitbestimmung durch Betriebsräte (vorerst) nicht besteht.

Götz Schulz-Loerbroks, Siegen

Quellen:
EuGH, Neue Juristische Wochenschrift 2002, S. 3614 ff.
BGH, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2000, S. 412 ff.